Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland

Aufbau-Ost und der doppelte Fluch der heidnischen Göttin Europa


In den neuen Bundesländer hat man gute Gründe, euroskeptisch zu sein. Anders als die Euroenthusiasten glauben, besteht hier ein echter Konflikt zwischen den Zielen einer raschen Rekonstruktion der ostdeutschen Wirtschaft und dem gegenwärtigen Kurs der europäischen Integration.

Für jede DM, die private und öffentliche Investitionen förderte, wurden rund 2 DM weiterer Transferleistungen erbracht, um den Konsum in den neuen Ländern zu stützen. Dadurch gelang es, die Abwanderungswelle der ostdeutschen Bevölkerung zu stoppen.


1996: Fahrzeugendmontage der Produktion von Fahrzeugen Metro Guangzhou und VT611

Doch die Heilung der von der Spaltung Deutschlands verursachten Wunden erfordert letztlich eine vollständige Neuausstattung der ostdeutschen Arbeitsplätze mit modernen Produktionsanlagen. Dieser Prozeß ist von einem Abschluß weit entfernt, doch deuten bereits alarmierende Anzeichen darauf hin, daß der Aufbau in den neuen Bundesländern ernsthaft gefährdet sein könnte. Im Verlauf der letzten 18 Monate wurden wir Zeugen eines beispiellosen Einbruchs des Wirtschaftswachstums in den neuen Bundesländern, das öausgehend vom höchsten Niveau in Europa ö am Anfang dieses Jahres rückläufig wurde. Für junge Beschäftigungssuchende in den neuen Bundesländern ist die Arbeitslosenquote erstmalig seit der Depression nach dem Mauerfall im Steigen begriffen.

Noch hält der lebenswichtige Zustrom von Investitionen an und zwar auf einem Niveau pro Kopf der Bevölkerung, das bedeutend höher ist als in Westdeutschland. Doch niemand kann garantieren, daß das gegenwärtig hohe Niveau beibehalten werden kann, wenn die massiven Infrastrukturinvestitionen für Transportwesen, Kommunikation und kommunale Versorgung gegen Ende unseres Jahrhunderts mehr oder weniger abgeschlossen sein werden. Die Investitionstätigkeit in den neuen Bundesländern ist nämlich zwei spezifisch "europäischen Bedrohungen" ausgesetzt: der wirtschaftlichen Stagnation, die als Folge der forcierten Verwirklichung der europäischen Währungsunion bis zum Jahre 1999 eingetreten ist, sowie dem Versuch der Europäischen Kommission, den Sonderstatus abzubauen, der den neuen Bundesländern nach ¤92, Artikel 2(c) des Maastrichter Vertrag gewährt wurde.

Um den Mitgliedschaftskriterien für die europäische Währungsunion nachzukommen, haben sich die Regierungen in ganz Europa zu einem wahren Rausch von Ausgabenkürzungen verleiten lassen. Der kumulative Effekt dieser gleichzeitigen Einschränkungen der Staatsausgaben in vielen europäischen Ländern war eine hartnäckig sich haltende zehnprozentige Arbeitslosenquote in der EU. Die Aussichten für die europäische Konjunktur bleiben auch in Zukunft nur bescheiden, wenn nicht düster.

Solange es daher bedeutende Überkapazitäten in den westlichen Bundesländern gibt und das Streben nach den Maastrichter fiskalischen Konvergenzkriterhen "von Erfolg gekrönt ist", unterliegt der Aufbau-Ost dem ernstzunehmenden Risiko eines Zusammenbruchs der Investitionstätigkeit. Mit diesem Zusammenbruch würden auch die Hoffungen auf ein schon bald sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland begraben.

Dieses Risiko wird noch durch eine weitere Unsicherheit verstärkt, welche von der wachsenden Skepsis der Europäischen Kommission herrührt, die Anspruchsberechtigung für Zuschüsse an ostdeutsche Unternehmen anzuerkennen. Die im Juni von der Kommission verweigerte Subvention, die das Land Sachsen dem Volkswagenwerk für zwei seiner Betriebe gewähren wollte, deutet darauf hin. Obwohl die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über diesen Fall noch aussteht, bedeutete sie eine Abkühlung des Investitionsklimas in den neuen Bundesländern. Sollte sich das Gericht für die von der Europäischen Kommission bevorzugte enge Auslegung des Sonderstatus' für die neuen Bundesländer entscheiden, dann könnte das Investitionsklima unter den Gefrierpunkt sinken.

Fazit: Es steht außer Frage, daß sowohl der Aufbau-Ost als auch die europäische Integration langfristig erstrebenswerte Ziele sind. Trotzdem erscheint es höchst befremdlich, wenn Deutschland den Aufbau-Ost in Gefahr bringt, nur weil die Umstellung auf den Euro während der politischen Lebenszeit dieses Bundeskanzlers erfolgen soll.

Zumindest für eine weitere Generation wird das "Zusammenwachsen, was zusammengehört" ganz entscheidend davon abhängen, in welchem Ausmaß Investitionen in die neuen Bundesländer fließen. Die Stagnation der Nachfrage, die aus der übertriebenen Eile zur Währungsunion resultiert, sowie die anmaßende Haltung der Brüsseler nouveau bureaucratie, die immer weniger gewillt ist, eine Sonderrolle der neuen Bundesländer zu tolerieren ö beide müssen als das erkannt werden, was sie sind: ein doppelter Fluch der heidnischen Göttin Europa.

Irwin L. Collier


Irwin L. Collier ist Professor am Institut für Öffentliche Finanzen und Sozialpolitik des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft.


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