Brief aus Washington


Blick auf das Capitol mit dem House of Representatives im Vordergrund


Mittwoch, 5. April 1995, ca. 21 Uhr 20 - gegen störendes Gemurmel der republikanischen Fraktion hebt mein derzeitiger Chef, David E. Bonior, Abgeordneter aus Michigan und rangzweiter Demokrat, seine Stimme.

Die Kulisse: das Repräsentantenhaus des amerikanischen Kongresses. Trotz der späten Stunde ist die Besucherempore recht gut gefüllt - die Lücken in den Reihen der Abgeordneten sind größer.

Nach den straffen Regeln des Repräsentantenhauses hat Bonior nur wenige Minuten Zeit für seinen rhetorischen Angriff auf das anliegende Steuersenkungsgesetz, den letzten Programmpunkt des republikanischen "Contract with America".

Obwohl ich als Praktikant keinen Zugang zum Flur des Sitzungssaales habe und daher die Reden und Abstimmungen und meine hin und her eilenden Kollegen von der Empore aus verfolgen muß, hat sich an diesem Abend die Fahrt mit der Mini-U-Bahn vom Rayburn- Bürogebäude zum Repräsentantenhaus gelohnt. Ich sehe nicht nur Boniors kämpferische Rede, sondern auch die Fraktionsvorsitzenden von Mehrheit und Opposition, Dick Armey und Richard Gephardt, und natürlich den erzkonservativen Vordenker des "Contract", New t Gingrich, Sprecher des Repräsentantenhauses und damit formal drittmächtigster Mann in der politischen Struktur der USA (ein beängstigender Gedanke für viele).


Von Thomas Greven, Washington, D.C.

Bonior verzichtet diesmal darauf, den republikanischen "Contract" als "Contract on America" zu bezeichnen, also als einen Vertrag der Republikaner, der das amerikanische Volk zum Gegenstand hat und nicht zum Vertragspartner. Dennoch spiegelt sich in Bo niors Rede die derzeitige Spaltung Amerikas. Er entlarvt das Steuersenkungsgesetz und insgesamt den "Contract" als Geschenke an die Wohlhabenden und Privilegierten. Und er fragt seine Kollegen in kaum verhüllter Anlehnung an ein altes Gewerkschaftslied: " Whose side are you on?" Auf wessen Seite steht Ihr? Interessant ist, daß er damit nicht so sehr sein Eintreten für die Benachteiligten und Schwachen demonstrieren will als vielmehr seine Solidarität mit der amerikanischen Mittelklasse.

Boniors Rede nützt nichts: erwartungsgemäß wird der Gesetzentwurf verabschiedet und so haben die Republikaner im Repräsentantenhaus ihren "Contract" sogar vor Ablauf der angesetzten 100 Tage durchsetzen können. Jetzt sind Senat und Präsident an der Rei he. Die Abgeordneten fahren in die wohlverdienten Osterferien bzw. in ihre Wahlkreise und ihre Mitarbeiter können sich für ein, zwei Wochen von 10-14 Stunden-Tagen erholen. Wie? ... Richtig gelesen: Wer nach acht Stunden nach Hause gehen will, sollte kein Praktikum im Kongreß anstreben, oder sich jedenfalls nicht viel davon versprechen. Der öffentlichen Meinung über faule und überbezahlte Regierungsangestellte zum Trotz wird auf "Capitol Hill" hart und lange gearbeitet. Und man bekommt im Herzen der ameri kanischen Politik am meisten mit, wenn man da mithält.

Mein Praktikum begann nicht in Washington, D.C., aber dennoch im Herzen amerikanischer Politik, jedenfalls, wenn man sich der Meinung des früheren Sprechers des Repräsentantenhauses, Thomas "Tip" O'Neill, anschließt, der meinte: "All politics is local" , Politik spielt sich immer zu Hause, d.h. im Wahlkreis, ab. David Boniors Wahlkreis im Bundesstaat Michigan grenzt an die Autostadt Detroit und ist in seiner südlichen Hälfte, Macomb County, dementsprechend industriell geprägt. Meinungsforscher jeglicher politischer Provenienz haben Macomb seit einiger Zeit zu ihrem bevorzugten Studienobjekt erkoren, da sie glauben, daß sich hier die Stimmungen des "suburban America" am besten einfangen lassen.

Stanley Greenberg, Clintons wie auch Boniors "Pollster", glaubt hier den Schlüssel für den Rechtsruck der Mittelklasse gefunden zu haben und auch den für ein demokratisches Comeback. Seit den 70er Jahren wählt Macomb bei Präsidentschafts- und Gouverneu rswahlen ziemlich konstant konservativ; Clinton erhielt hier nur 38 Prozent der Stimmen. Den im amerikanischen Sinne liberalen, d.h. links-progressiven, Bonior aber schicken Macombs Bewohner seit 1976 regelmäßig in die Hauptstadt. Das soll 1996 anders wer den: die Republikanische Partei hat sich der gezielten Abwahl des rangzweiten Demokraten im Repräsentantenhaus verschrieben; schon jetzt heißt es, Bonior sei "dead meat", ein toter Mann, was seine Wiederwahl 1996 angeht.

Diese Entschlossenheit und die unzähligen kritischen und vielfach haßerfüllten Briefe und Anrufe, die vor allem nach Boniors Fernsehauftritten und Reden in seinen Büros eingehen (und deren geduldige Beantwortung zu meinen Praktikumsaufgaben gehörte), s ind leicht zu erklären. Seit die Republikaner im November 1994 zum ersten Mal seit 40 Jahren Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses gewannen, stehen die Demokraten unter Schock - und Bonior ist einer von wenigen, die sofort den politischen Kampf gege n die "konservative Revolution" aufgenommen haben. Als "Whip" ist Bonior darum bemüht, die ewig uneinigen demokratischen Abgeordneten auf Parteikurs zu bringen, ohne allerdings über die Sanktionsgewalt seiner Kollegen im britischen Unterhaus zu verfügen.

Seinen größten Auftritt als Whip hatte Bonior während der NAFTA-Debatte, als er die Demokraten paradoxerweise gegen Präsident Clinton sammelte. Die Whip-Arbeit ist in der Oppositionsrolle weniger entscheidend, so daß Bonior mehr Zeit und Anlaß hat, agg ressiver Wadenbeißer seiner Partei zu sein. Er ist nicht bereit, den Wohlfahrtsstaat brutal zu beschneiden und Deregulierungen im Umweltbereich und der Arbeitswelt einfach hinzunehmen. Rush Limbaugh, populärster der konservativen Radio-Polit-Päpste, ist e iner von vielen, die Bonior deswegen vorwerfen, Klassenkampf zu führen. Limbaugh macht sich interessanterweise aber ebenso über Boniors mangelnde persönliche Aggressivität lustig. Feinde macht Bonior sich vor allem durch ständige Angriffe auf Newt Gingric h, wobei er sich des Ethikausschusses des Kongresses bedient, eine Taktik, die der umstrittene, aber von vielen beinahe vergötterte Gingrich früher selbst verwendet hat.

Ach ja, mein Praktikum. Kaum in Michigan angekommen ging es auch schon auf "kleine" Fahrt. Ein langes Wochenende verbrachte ich mit Wahlkreismitarbeitern, Freiwilligen und über 100 Schülern in einem Camp am Huron-See, um Politik zu spielen. Wir simulie rten den Weg eines Gesetzentwurfs im Kongreß, und ich konnte wieder einmal feststellen, wie unbefangen Amerikaner mit Publikum, Gefolgschaft und "leadership", also Führung, umgehen. Abends wurde in Gruppen gefeiert und dank mitgebrachter Gitarre konnte ic h dazu einen kleinen Beitrag leisten.

Im Wahlkreisbüro habe ich dann vor allem beobachtet: die Bearbeitung der vielen Probleme, die Bürger mit Bundesbehörden haben, erforderte eine längere Einarbeitung. Auch im Washingtoner Büro kümmert man sich selbstverständlich um die Belange der Wahlkr eisbewohner, aber hier nimmt die nationale Politik einen größeren Stellenwert ein.

Ich arbeitete vorrangig für den mit Außenpolitik und Handel beschäftigten "Legislative Aide" Boniors, mit dem ich u.a. das Für und Wider des Waffenembargos für Bosnien erörterte, welches Bonior einseitig von den USA aufgehoben sehen will. Bonior hat se inen Posten im wichtigen Rules-Ausschuß zugunsten eines anderen Abgeordneten der an Führungspositionen z.Zt. armen Demokraten aufgegeben, so daß ich die Arbeit im Gesetzgebungsprozeß nur am Rande miterlebt habe. Ich half Boniors Mitarbeiter für Umweltfrag en dabei, die demokratischen Abgeordneten eines Ausschusses dazu zu bringen, den Vorschlag eines Republikaners aus Michigan zum Schutz der Wasserqualität der Großen Seen zu unterstützen. Dieser kleine Ausflug in die Welt der Ausschüsse hat mir aber genug Appetit gemacht, so daß ich mich, ein Fellowship für kommenden Herbst bereits in der Tasche, um eine Stelle in einem der außenpolitischen Ausschüsse bemühen werde.

Bleibt zu erwähnen, daß "D.C." eine tolle, wenn auch teure Stadt ist, die ich jedem für einen Besuch außerhalb der Sommermonate empfehlen kann.

Thomas Greven

Thomas Greven, Jahrgang 1966, studiert Politikwissenschaft und Nordamerikastudien an der FU und ist studentische Hilfskraft am John-F.-Kennedy-Institut. Von Februar bis Mai hat er ein Praktikum beim amerikanischen Kongreß absolviert. Schon im Novem ber wird er wieder auf dem "Hill" arbeiten, als Congressional Fellow der American Political Science Association.


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