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Den Marlene-Dietrich-Platz erleben

Kritik und Konsum

In was für ein räumliches Umfeld begeben sich die Leute, wenn sie den Marlene-Dietrich-Platz erreichen? An der Reaktion vieler Leute, die den Platz als TouristInnen oder FlaneurInnen betreten, lässt sich erkennen, dass es auf Anhieb nicht leicht fällt, hier eine Orientierung zu finden. Im Prinzip ist der Marlene-Dietrich-Platz so angelegt, dass die Menschen beim Betreten in eine Art Sackgasse oder Becken geraten. Alle Wege, bis auf den von der Rückseite kommenden, stoßen auf den Platz und enden dort ohne eine direkte Verlängerung zu haben (siehe auch Karte 1). Dementsprechend ist eine Reaktion sehr häufig zu beobachten: Mit dem Erreichen des Platzes wird der Schritt verlangsamt, und während die umgebende Szenerie erfasst wird, schlendern die Leute weiter auf den eigentlichen Platz, sofern sie beim Überqueren der Straße nicht durch Fahrzeuge aufgehalten werden. Während dieser Handlungen entscheidet sich in der Regel, wie es weitergehen wird. Entweder verharren die BesucherInnen für eine Zeit an dem Punkt, wo sich ihre Fortbewegung so weit verlangsamt hat, dass sie praktisch zum Stehen gekommen sind. Von dort aus wird dann der Ort weiter betrachtet, eventuell auch fotografiert oder gefilmt, und wenn Begleitung dabei ist, beginnt eine Unterhaltung über den Platz, über die weiteren Pläne oder auch über eine andere Beobachtung oder ein nichts mit dem Platz zu tun habendes Thema. Eine andere Möglichkeit ist, dass in der itte des Marlene-Dietrich-Platzes eine Art Kurve oder Parabel beschrieben wird, und der Platz auf einem der anderen Wege langsam wieder verlassen wird. Einige jedoch gehen über den Platz hinweg, überqueren den Wassergraben, der den unmittelbaren Vorplatz von Musical Theater und Casino vom restlichen Marlene-Dietrich-Platz abtrennt, und betreten das ins Adagio und ins Musical Theater führende Foyer. Dort schauen sie sich weiter um, verlassen das Foyer ein bis zwei Minuten später und gehen woanders hin. chließlich gibt es insbesondere bei gutem Wetter noch diejenigen, die sich für mehr als ein oder zwei Minuten auf dem Platz aufhalten, entweder um sich auszuruhen und sich das Geschehen anzuschauen, oder weil sie auf andere warten.

Wie am Ende des vorigen Abschnitts schon angedeutet, ist es für diese Gruppe von BesucherInnen nicht einfach zu entscheiden, wo gewartet werden kann oder wo sie sich ausruhen können. Diese Schwierigkeiten haben mehrere Ursachen.


Foto 13

Weitgehend leerer Platz im Hintergrund, im Vordergrund spiegelnde Wasserfläche

Marlene-Dietrich-Platz von Süden/Musical Theater. Mai 2001.


Die offensichtlichste Ursache ist das Fehlen von Bänken. Weder auf dem Platz selbst noch auf einer der zum Platz führenden Straßen sind Bänke in irgendeiner Form zu finden. Die einzigen regulären Sitzmöglichkeiten gehören zu den vor Ort befindlichen Lokalen, d.h. dem McDonald’s, dem Tony Romas, dem Casino Restaurant oder dem Hyatt Hotel – eine Benutzung dieser Stühle ist jedoch mit dem Konsum der jeweils verkauften Waren verknüpft. Was gibt es sonst noch für Alternativen? Die Pflanzkästen der Bäume sind aus halbierten Rundhölzern konstruiert und die scharfe Kante der Rundhölzer zeigt nach oben, so das selbst Hartgesottene ort nur sehr kurz sitzen bleiben und die meisten gar nicht erst einen Versuch wagen. Auf Foto 13 (dieses Bild ist zur gleichen Zeit aufgenommen wie Foto 11 – im Gegensatz zum dort dargestellten Ufer sitzen hier keine Menschen; dieses Szenario konnte ich häufiger beobachten) lässt sich erkennen, as der Marlene-Dietrich-Platz sich zum Casino und Musical Theater hin stufenweise absenkt. Die Höhe der Stufen beträgt jedoch nur wenige Zentimeter. Sich hier hinzusetzen kommt einem sich einfach auf den Boden setzen schon sehr nahe – dazu ist nicht nur ein lockerer Umgang mir gesellschaftlichen Konventionen nötig, sondern auch wenig schmutzempfindliche Kleidung und ausreichende körperliche Beweglichkeit.


Foto 14

Westliche Begrenzung des Platzes durch Kanal und Metallgeländer, im Hintergrund einige Senioren

Kanal zwischen Marlene-Dietrich-Platz und Vorplatz von Musical Theater und Casino. Juni 2001.


Dann gibt es noch die beiden auf dem Vorplatz zusammenfließenden Kanäle. Die Ufer dieser Kanäle sind jedoch so gestaltet, dass die obere Kante auf gleicher Höhe mit dem Bodenniveau des Platzes liegt (die Sitzenden befinden sich somit auch hier auf dem Boden) und an den meisten Stellen ist die Höhe von der Wasseroberfläche bis ur Oberkante des Ufersteins so gering, dass Ausgewachsene ihre Beine nicht baumeln lassen könnten, ohne das die Füße das Wasser berühren. Die einzige Möglichkeit bleibt das Geländer vor den Kanälen auf dem Vorplatz.

Auf Foto 14 ist eine kleine Gruppe von Menschen zu sehen, von den sich einer an das Geländer lehnt während sich ein anderer am Geländer abstützt. Hier wird deutlich, was die meisten Menschen tun; sie lehnen sich nur für einen Moment oder ein paar Minuten an dieses Geländer. Um das Geländer zum Sitzen nutzen zu können ist es notwendig, beweglich zu sein bzw. eine gewisse Sportlichkeit an den Tag zu legen, und nach inigen Minuten wird auch der immerhin etwas breitere Steg des Geländers unbequem. So kommt es, dass nur ein Teil der BesucherInnen auf dem Marlene-Dietrich-Platz rasten kann, ohne in einem anliegenden Geschäft bezahlen zu müssen. Diejenigen, die sich tatsächlich hinsetzen, sind fast alle jung. Entweder es sind Jugendliche und Schüler, oder es sind junge Erwachsene, die nicht teuer angezogen sind. Zwei Beispiele können die hier vorhandenen körperlichen und sozialen Schranken illustrieren; Schranken die ein Ausruhen nur bestimmten Gruppen ermöglichen (von Ausnahmefällen wie der beschriebenen älteren Dame abgesehen). So konnte ich an einem der warmen Maitage eine Familie beobachten, bestehend aus einer ungefähr Mitte bis Ende zwanzig jährigen Mutter mit Kinderbuggy, die auf dem Boden vor ihrem Buggy sitzt und mit dem darin sitzenden Baby spielt, und den mutmaßlichen Eltern der Mutter, die daneben stehen, ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern, sich mit der Tochter unterhalten und mit dem Enkelkind pielen. Diese, in meinen Augen recht absurde Situation hat sich über einen Zeitraum von ungefähr zehn Minuten erstreckt, bis die junge Mutter chließlich aufsteht, das Kind im Wagen festmacht und dann mit den Eltern den Platz verlässt. Die Situation erscheint mir deshalb absurd, weil es sowohl für die Großeltern als auch für die Mutter des Kindes keineswegs einfach war, sich zu unterhalten. Die Mutter musste den Kopf in den Nacken legen, um mit den Eltern zu sprechen, und die Eltern mussten immer auf ihre Tochter heruntersehen. Ein anderes Beispiel ist, dass es besondere Aufmerksamkeit hervorgerufen hat, wenn sich ältere Erwachsene auf den Platz setzten. In einem solchen Fall konnte ich beobachten, wie sich eine kleine Gruppe von Jugendlichen anscheinend amüsiert über die beiden Männer in den Vierzigern unterhalten hat, nachdem diese sich etwas umständlich auf eine der niedrigen Treppenstufen des Vorplatzes gesetzt hatten.

Es ist hier wieder entscheidend, sich darüber im Klaren zu sein, dass in diesem Zusammenhang die eigentliche Wirkung der äumlichen Gestaltung dieses Ortes darin liegt, dass sich die meisten Leute gar nicht erst in eine solche ungewöhnliche oder peinliche Situation begeben. Der größte Teil der Leute geht eben einfach weiter, bleibt nur kurz stehen oder nutzt auf Grund der eingeschränkten Aufenthaltsqualitäten dieses Ortes schließlich doch eines der vorhandenen Konsumangebote.

Die Leute reagieren allerdings nicht nur passiv auf die räumlichen Qualitäten des Marlene-Dietrich-Platzes. Es entstehen auch immer wieder Konstellationen, in denen der Ort hinterfragt und gedeutet wird. Mir ist dies insbesondere im Zusammenhang mir den regelmäßig stattfindenden Stadtführungen deutlich geworden.


Foto 15

geschlossen beisammen stehende Gruppe mitten auf dem Platz, dahinter kleinerer LKW

Reisegruppe mit Stadtführer auf dem Marlene-Dietrich-Platz. Juni 2001.


Die Größe der Gruppen [16] bewegt sich vor allem in dem Bereich zwischen fünf und dreißig Personen, die Aufenthaltsdauer in der Regel zwischen zwei und zehn Minuten. Die auf Foto 15 zu sehende Gruppe ist in Bezug auf Größe und Altersstruktur exemplarisch, denn die Teilnehmer der meisten Führungen sind ungefähr vierzig und älter. Wie diese Gruppe begeben sich auch die meisten anderen Gruppen in die Mitte des Marlene-Dietrich-Platzes, dort beginnt der oder die FührerIn dann etwas zu dem Platz zu erzählen. Die Stadtführungen sind zwar vor allem dadurch geprägt, dass die Gruppe zuhört und keine Fragen gestellt werden, ich konnte aber häufig beobachten, dass sich TeilnehmerInnen vor und nach der Führung über den Platz unterhalten und ihn bewertet haben – manchmal reagiert eine Gruppe aber auch direkt auf die Äußerung des Führers: So konnte ich einmal verfolgen, wie auf die Äußerung des Führers, der Marlene-Dietrich-Platz sei, unter anderem durch die Verwendung von errakotta- und Sandsteinfassaden bei den umliegenden Gebäuden, als eine Piazza mit mediterranem Flair angelegt worden, mit spontanem Gelächter und Gewitzel reagiert wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Platz ist jedoch nicht auf die TeilnehmerInnen von Führungen beschränkt. So geht an einem anderen Tag ein älteres Paar an mir vorbei und die Frau sagt, der Potsdamer Platz sei ja gar nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hätte, worauf der Mann mit einem zustimmenden Lachen antwortet.

Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass dieser Raum zum Gegenstand von Diskussionen und Gesprächen wird. Immer wieder konnte ich Leute beobachten, die, auf dem Platz stehend oder langsam gehend, auf verschiedene Dinge weisen und sich über diese unterhalten. Anhand dieser Beobachtungen und anhand von Gesprächen mit Freunden und Bekannten kann ich feststellen, dass der Platz ambivalente Reaktionen hervorruft und somit Anlass für einen Diskurs über Sinn und Unsinn der städtebaulichen Gestaltung an diesem Ort und im Allgemeinen sein kann (wenn der Potsdamer Platz nicht allgemein als kapitalistisches Konsummekka verurteilt wird). Das heißt nicht, dass der Potsdamer Platz oder der Marlene-Dietrich-Platz deswegen gut wäre, weil er umstritten ist, es heißt nur, dass der Platz mit seinen räumlichen, ästhetischen und sozialen Qualitäten auch als problematischer erkannt und behandelt wird.


Die Gestaltung des Marlene-Dietrich-Platzes als Ort, der einen längeren Aufenthalt, ein Verweilen im Raum erschwert und der statt dessen seine BesucherInnen auf die am Platz gelegenen Restaurants und Unterhaltungsgeschäfte verweist, deutet noch auf eine andere Problematik hin. Diese Problematik lässt sich am besten verstehen, wenn man sie im historischen Zusammenhang sieht: Richard Sennett kombiniert in seinem Buch Flesh and Stone die Interpretation von so unterschiedlichen Quellen wie griechischer Mythologie, antiker Ikonographie und statistischem Material über Migration im heutigen New York, um daraus ein master image des Körpers zu kondensieren.[17] Dieses master image oder Leitbild steht paradigmatisch für die Bedeutung des Körpers in bestimmten historischen Perioden. In seiner Analyse wird dem menschlichen Körper im Zusammenspiel mit der jeweiligen Architektur der Stadt und im Zusammenspiel mit der Funktion von Gebäuden und öffentlichen Plätzen eine bestimmte Rolle zugeordnet. So ist die Polis im antiken Athen so angelegt, das der (männliche) Körper sich dort ausdrücken soll, er soll in den Theatern und auf den Plätzen sprechen und sich in den Gymnasien und in Arenen präsentieren und mit anderen messen – das entsprechende Leitbild der Antike ist der sprechende Körper. Nach seinem Modell ist der passive Körper das master image des Körpers in unserer Zeit. Der urbane Raum ist so gestaltet, dass die Körper in ihren eigenen Sphären und von der Umgebung abgeschlossen sind, sei dies während der Bewegung durch die Stadt im Auto oder in den von der Außenwelt abgeschlossen Gebäuden. Die Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts wehrt die Einflüsse des Wetters, die Berührung und den Geruch anderer ab und hüllt die Körper in Komfort. Die Beziehung des passiven Körpers zu seiner Umwelt wird so zu einer visuellen. Hier lässt sich die Parallele zum Marlene-Dietrich-Platz ziehen. Der Marlene-Dietrich-Platz bietet wenig Möglichkeiten, ihn als öffentlichen Ort zu nutzen, sich dort aufzuhalten, aktiv zu bewegen und auszuruhen und in Kontakt mit anderen zu treten; statt dessen verweist er die Menschen an diesem Ort auf die angelagerten Einrichtungen – dort können sie etwas erleben. Dass die konsumierbaren Erlebnisse an diesem Ort wiederum visuelle sind, dass das Spektakel in den Kinos und im mit Lightshow und Special Effects ausgestatteten Musical Theater vor allem über den Blick erlebt wird, erscheint aus dieser Perspektive um so logischer. Dass diesem visuellen Erleben eine gewisse Ambivalenz und Armut innewohnt ist allerdings erleb- und nachvollziehbar; es hat seine marktförmigen Konsequenzen im Einzug von aufwendiger Soundtechnologie in die Kinos einerseits und in der Beschwörung von Sinnlichkeit andererseits. So lockt das Adagio mit Liebe, Lust und Leidenschaft und in einer Broschüre heißt es weiter:

ADAGIO – ein Traum wird wahr. ADAGIO – das bedeutet Nightlife pur in einem prächtigen, alle Sinne ansprechenden Raum, einem Universum der Blüten und Früchte, der Farben und Düfte, durchflutet von warmem Kerzenlicht.

Dass die Kerzen elektrische Repliken von Wachskerzen sind, wird nach der Lektüre dieser Broschüre nicht erwartet. Auch die Terrakotta- und Sandsteinfassaden der Gebäude im Quartier DaimlerChrysler sollen schließlich mediterranes Flair entstehen lassen, stehen aber im Widerspruch zur sonstigen räumlichen Gestaltung und zur Anlage dieses Ortes als Unterhaltungs-, Geschäfts- und Marketingzentrum, welches weniger zum Aufenthalt als zum Eintreten und Verschwinden in einer der anliegenden Einrichtungen einlädt. Der Widerspruch bleibt vor Ort erfahrbar – einerseits prägt er die gemischten Erfahrungen des Gefallens und Missfallens an diesem Ort (es ist ja gar nicht so schlimm wie ich dachte) andererseits wirkt er in der Art, dass dieser Raum in begrenzter Hinsicht ein offener bleibt und es ein Schwanken gibt zwischen räumlichen Konstellationen, die die kapitalistische Aneignung dieses Raumes widerspiegeln und Konstellationen, in denen Widerstände und Gegentendenzen zu dieser Aneignung Ausdruck finden. Die folgenden Abschnitte sollen weiter darstellen und analysieren, wie dieses Schwanken am Marlene-Dietrich-Platz eingefasst wird und wo die Grenzen des Widerstands gegen eine derart verräumlichte Kultur der Passivität und des Konsums liegen.

Fußnoten

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