M i t . T ö n e n . m a l e n

Der Grund für die Beliebtheit von Vivaldis Violinkonzerten Le Quattro Stagioni (Die Vier Jahreszeiten) liegt wohl auch darin, dass die Musik so verständlich erscheint: Der Hörer versteht (oder meint er zu verstehen?), was die Musik sagen will. Um diese Deutlichkeit zu erzielen, wählte Vivaldi ein bewährtes kompositorisches Verfahren: Er "malt mit Tönen".

In seinen Jahreszeiten-Konzerten malt er zum Beispiel zwei Gewitter, mit Hagel und Sturm, schwarzen Wolken, Donner und Blitz, eines im Frühlings-Konzert und eines im Sommer-Konzert. Denn im Zusammenhang mit Musik werden die Begriffe T o n m a l e r e i oder m a l e n . m i t . T ö n e n in einem übertragenen Sinne verwendet. Wenn Vivaldi "mit Tönen malt", ahmt er einen Gegenstand oder ein Ereignis aus der Natur oder aus dem menschlichen Leben mit den besonderen Mitteln der Musik nach. Diese Nachahmung ist ein komplizierter handwerklicher und künstlerischer Prozess. Die Musik kann mit ihren Mitteln nur solch einen ausserhalb der Musik liegenden Gegenstand malen, der hörbar ist und der deshalb mit akustischen, also musikalischen Mitteln, wiedergegeben werden kann. Die Musik kann zum Beispiel im Frühlings-Konzert das Bellen eines Hundes darstellen. Aber sie kann mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht klarmachen, ob es sich bei dem Hund um einen Pekinesen oder um einen Schäferhund handelt, ob der Hund braun oder schwarz und wer sein Besitzer ist. Dazu bedarf es eines anderen Mediums, entweder einer Abbildung oder des gesprochenen oder geschriebenen Wortes. Ein erläuterndes, präzisierendes Hilfsmittel ist ohnehin notwendig, wenn der Zuhörer die vom Komponisten in der Musik nachgeahmten Gegenstände erkennen können soll. Denn das Bellen eines wirklichen Hundes hört sich einfach anders an, als das musikalische Bellen von Vivaldis Hund. Ohne Vivaldis verbalen Hinweis in der Partitur des Konzertes, "Il cane che grida" ("Der bellende Hund"), und zwar über der Bratschenstimme, würde wohl niemand sofort auf die Idee kommen, dass die Bratsche das Bellen eines Hundes nachahmt. Aber wenn man die Worte und auch das dazugehörige Sonett gelesen hat, dann ist das Hundegebell gar nicht so schlecht getroffen.

Und wie geht nun diese musikalische Malerei vonstatten? Man spricht zumeist von der "Stilisierung", ein in diesem Zusammenhang etwas unscharfer Begriff, der dem komplizierten Transformationsprozess nur annähernd gerecht wird. Die oft unbestimmten Tonhöhen, die differenzierten und ungleichen Rhythmen eines Naturvorganges müssen in bestimmte Tonhöhen und präzisere Rhythmen verwandelt werden, wie sie der auf herkömmliche Art komponierten Musik zur Verfügung stehen. Die festen Tonhöhen, die völlig regelmässigen Rhythmen, in denen Vivaldis Blätter und Gräser im Frühlings-Konzert rauschen, würde die Natur wohl nicht hervorbringen, aber der Eindruck des musikalischen Säuselns ist im Ganzen genommen einem natürlichen Säuseln doch ähnlich. Und auch der typische Klang, die "Klangfarbe" (noch eine Anlehnung an die Malerei!) eines Naturgeräusches muss in der Musik so getroffen werden, dass der Zuhörer zwischen den musikalischen Tönen und den Naturgeräuschen eine Ähnlichkeit entdecken kann. Im Winter-Konzert gibt Vivaldi dem Regen deshalb die Klangfarbe einer bestimmten Spieltechnik, das Pizzikato (die Töne werden auf den Saiten nicht durch Streichen mit dem Bogen, sondern durch Zupfen mit dem Finger hervorgebracht), und damit ahmt er die fallenden Regentropfen nach.

Die Musik kann allerdings mehr als akustisch wahrnehmbare Gegenstände malen: Sie kann auch Bewegungen malen oder menschliche Verhaltensweisen und Gefühle nachahmen. Leicht umsetzbar ist die Raumvorstellung hoch/tief, weil auch die Musik hoch und tief kennt, nämlich hohe und tiefe Töne. Unproblematisch sind auch Geschwindigkeiten; über langsame und schnelle Bewegungen verfügt die Musik ebenfalls. Vivaldi charakterisiert im Winter-Konzert aber auch verschiedene Arten, auf dem Eis zu gehen. Oder ist es vielleicht das Torkeln des Betrunkenen im Herbst-Konzert? Gäbe es nicht genaue Angaben in der Partitur, könnten wir die beiden "Gangarten" wohl leicht verwechseln! Vivaldi komponiert im Frühlings-Konzert einen schlafenden Hirten und stellt im Winter-Konzert die Zufriedenheit dar. Und auch Schlaf und Zufriedenheit können wir nur deshalb unterscheiden, weil der Komponist es über die Noten geschrieben hat: Die Zufriedenheit im Winter-Konzert könnte man ohne weiteres auch für den schlafenden Hirten im Frühlings-Konzert halten. Die musikalische Darstellung von Gefühlen oder Verhaltensweisen ist komplizierter in ihrer Entstehung und ästhetischen Erklärung als die Malerei von akustischen oder optischen Eindrücken. Und hierfür ist der Zuhörer zum Verständnis auf Hilfestellung durch Wort oder Bild angewiesen.

Die ästhetische Richtschnur hatte zu Vivaldis Zeit noch gelautet, dass die Musik wie die anderen Künste die Natur "nachahmen" solle. Zunehmend aber missfiel diese Imitation äusserer Erscheinungen eben als zu vordergründig, dem Wesen der Musik nicht gemäss. Ludwig van Beethoven liess deshalb unter dem Titel seiner Sinfonie Nr. 6, die sogenannte Pastorale in Klammern vermerken: "mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey". Damit brachte er einen allgemeinen Anschauungswandel zum Ausdruck. Anstelle der Nachahmung von Regen, Blitz und Donner, von Vogelgesang und Quellenmurmeln trat nun der "Ausdruck der (menschlichen) Empfindung". Ein halbes Jahrhundert nach Vivaldis Jahreszeiten- Konzerten entdeckte man das geheimnisvolle Zauberreich einer Musik ohne Worte, die nun nicht mehr länger etwas ausser ihr selbst Liegendes malte oder nachahmte.

Zu Vivaldis Zeiten aber schien es gerade reizvoll, die Ähnlichkeit zwischen dem nicht-musikalischen Objekt und seiner musikalischen Nachahmung möglichst weit zu treiben, ohne den künstlerischen Anspruch aufzugeben. Der künstlerische Anspruch wurde im Falle von Vivaldis Konzerten Le quattro stagioni nicht zuletzt dadurch eingelöst, dass Vivaldi die einzelnen Tonmalereien und Nachahmungen integrierte in ein Sinngefüge, das mit spezifisch musikalischen Mitteln erstellt wird und der erklärenden Worte, anders als die Tonmalereien, zum Verständnis nicht bedarf. Die Ton- und Taktarten gehören ebenso zu diesen musikalischen Mitteln wie die von Vivaldi selbst entwickelte Form des Solokonzertes, die er hier in den Jahreszeiten-Konzerten souverän und spielerisch variiert und darin auf die durch die Tonmalerei und Nachahmung gegebenen Gegenstände reagiert.

S.O.