Liebliche Orte

Die vier Violinkonzerte und die dazu gehörigen vier Sonette aus Vivaldis Zyklus Le quattro stagioni bilden ein kleines Kompendium klimatischer Merkmale, menschlicher Empfindungen, Berufe und Tätigkeiten im Rhythmus der Jahreszeiten. Jede Jahreszeit wird uns mit ihren charakteristischen Eigenheiten vor Ohren geführt. Im Frühlings-Konzert tirilieren die Vögel, Quellen fliessen, Wiesen blühen; in den Tutti-Violinen säuseln Blätter, linde Lüfte und Gräser. Im Sommer-Konzert stöhnen alle unter der Hitze, unter der Fliegen- und Mückenplage, nun singen und tönen Kuckuck, Taube, Distelfink. Im Herbst-Konzert erleben wir das Erntedankfest mit Tanz und Gesang, man trinkt - auch zu viel, und die Jagdsaison beginnt. Und im Winter-Konzert schliesslich gibt es Spaziergänge über das Eis; man geniesst aber auch ein Feuer im Kamin, während es draussen regnet. Der Musik nämlich ist ein besonderes kompositorisches Verfahren möglich. Sie kann nämlich gleichzeitig mehrere wesensverschiedene Vorgänge, Gefühle und Bewegungen darstellen. Was im Sonett nacheinander gesagt wird, erklingt in der Musik gleichzeitig: Während draussen der Regen fällt, verbringt man drinnen am Feuer die Tage ruhig und in Zufriedenheit. Ähnliches geschieht übrigens auch im Frühlings-Konzert: Während der Hirte schläft, bellt zu gleicher Zeit ein Hund, und es rauschen die Blätter und Gräser.

Soweit erscheint uns alles vertraut und normal, und man kann sich ohne weiteres vorstellen, dass die Jahreszeiten, zumindest im Hinblick auf Klima und Wetter, zu Vivaldis Zeiten nicht anders waren als heutzutage. Nur beim Eisspaziergang stutzen wir: Gibt es im südlichen Venedig, wo Vivaldi lebte, im Winter soviel Frost und Eis? Immerhin fror im Winter 1708/09 die Lagune vollständig zu, ein Ereignis, das in der Erinnerung der Venezianer wohl lange haften blieb.

Die Schilderung der Jahreszeiten in den Sonetten enthält aber auch manche andere Dinge, die uns gar nicht so vertraut erscheinen. Im Frühlings-Konzert tanzen Nymphen und Schäfer zu den Klängen des Dudelsackes, und es säuseln Zephiretten; im Sommer-Konzert weht der Zephir, und Boreas beginnt Streit mit seinem Nachbarn - Nymphen aber entstammen der antiken Götterwelt, und Winde tragen doch nur in der antiken Dichtung solch schöne Namen wie Zephir, Zephirette und Boreas. Tatsächlich flossen in das Frühlings-Konzert ebenso wie in das Sommer-Konzert weniger persönliche Erfahrungen des (unbekannten) Sonettendichters oder Vivaldis ein. Vielmehr sind zur dichterischen Kennzeichnung dieser Jahreszeiten alle Elemente zusammengefügt, mit denen die Dichter seit der Antike ideale Landschaften mit ebenso idealen Jahreszeiten schilderten. Die blühende Wiese, der Vogelgesang, das Quellengemurmel, die drückende Hitze, der schlafende Hirte - nichts anderes als jederzeit verfügbare Gemeinplätze (Topoi) führen uns in eine pastorale, von Hirten und Nymphen bevölkerte frühlingshafte oder sommerliche Landschaft - den locus amoenus, den "lieblichen Ort" der europäischen Dichtung und, in übertragenem Sinne, auch der Musik.

Gleichwohl gibt es in Vivaldis Frühlings- und Sommer-Konzert aber ein Ereignis, das traditionellerweise nicht mit diesen beiden Jahreszeiten verknüpft ist. Vivaldi lässt das frühlingshaft beziehungsweise sommerlich ideale Wetter jedesmal von einem Gewitter unterbrechen, mit Hagel, Blitz und Donner, schwarzen Wolken und Sturm. Vivaldi begründete damit eine Tradition der Jahreszeitendarstellungen in der Musik, die bis in das 19. Jahrhundert reichte. Einerseits griff er auf literarische und musikalische Modelle zurück, andererseits erfand er seinerseits ein neues Modell, eben den von einem Gewitter unterbrochenen Frühlings- oder Sommertag. Wir finden diesen Topos etwa in Josef Haydns Oratorium Die Jahreszeiten und in Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 6, der sogenannten Pastoral-Sinfonie.

Auch für den Herbst greifen Sonett und Konzert auf Gemeinplätze der Literatur und der Musik zurück, das Erntedankfest der Bauern mit Tanz, Gesang und Trunkenheit, vor allem aber die herrschaftliche Jagd mit Hörnerschall und flüchtendem Wild. Hingegen ist das Winter-Konzert stärker einer individuellen Gestaltung unterworfen. In dem Sonett wird mit dem räumlichen Kontrast von innen (im Haus) und aussen (in der Kälte) gespielt. Das Zittern und Frieren im Freien bei Schnee und Wind, das Gehen und Ausrutschen auf dem Eis ist nur die eine, die beschwerliche Seite des Winters; die andere ist die gemütliche im warmen Hause am Kaminfeuer. Der Dichter bringt damit eine Erfahrung des modernen Stadtmenschen ein.

S.O.