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Den Marlene-Dietrich-Platz erleben

Kameras und Blicke

Nach dieser globaleren Perspektive auf den Potsdamer Platz will ich noch einmal zu den Details der räumlichen Gestaltung des Marlene-Dietrich-Platzes kommen. Damit werde ich dann diesen Teil der Arbeit abschließen und danach versuchen, meine Beobachtungen und die von mir herangezogenen theoretischen Modelle auszuwerten.

Der Marlene-Dietrich-Platz lässt sich in drei Bereiche aufteilen. Den größten Raum nimmt der eigentliche freie Platz ein, dieser freie, zum Casino und Musical Theater hin in flachen Stufen abfallende Platz wird auf der Westseite von den von Norden und Süden kommenden Kanälen eingefasst und auf der Ostseite wird er durch die Straße und die dahinter liegenden Bäume eingegrenzt. Der andere offene Raum ist der unmittelbare Vorplatz von Musical Theater und Casino. Diesen Vorplatz kann man über die schmalen, zwischen Kanälen und Gebäude liegenden Wege, durch den Spalt zwischen Musical Theater und Casino und am einfachsten vom Hauptplatz her über den Kanal erreichen. Der dritte Bereich liegt zwischen der Straße, den jungen Bäumen und den Fenstern von McDonald’s und Tony Romas.

Mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem dritten Bereich möchte ich beginnen. Er nimmt keine besonders große Fläche ein und lässt sich am ehesten als breiterer Gehweg charakterisieren. Auf diesem breiten Streifen finden sich einerseits die Pflanzkästen der Bäume (auf deren Rändern es sich, wie bereits beschrieben, nur äußerst kurz sitzen lässt) und andererseits stehen dort (von Frühling bis Herbst) die Stühle, Tische und Sonnenschirme der beiden genannten Restaurants Tony Romas und McDonald’s. Diese werden von der auf Foto 17 zu sehenden Treppe getrennt, die nach oben zu einem Lichthof führt. Dieser Lichthof hat noch einen zweiten Zugang über eine etwas schmalere Treppe, die von der Alten Potsdamer Straße nach oben führt. Der Lichthof selbst ist leer und direkt von hohen Wänden umgeben, es gibt nur einen weiteren Weg, der von diesem Hof noch weiter nach oben, zu einem begrünten und offeneren Lichthof führt. Diesen Weg können allerdings nur die nutzen, die einen Schlüssel haben, um das trennende Gittertor zu öffnen.


Foto 17

Blick von oben hinunter, enge Treppenschlucht, dahinter der Platz

Vom Ende der Treppe zwischen McDonald’s und Tony Romas auf den Marlene-Dietrich-Platz. Mai 2001.


Wie auf dem Foto zu sehen, ist die Treppe einerseits so gelegen, dass sich von der Treppe aus ein Blick auf den Marlene-Dietrich-Platz ergibt, des weiteren ist die Treppe steil genug, um die Stufen zu geeigneten Sitzplätzen zu machen. So weit ließe sich die Treppe vielleicht als Parallele zum ‚Typus’ der Spanischen Treppe in Rom beschreiben. Diese allerdings ist breit und an den Seiten offen, während die Treppe am Marlene-Dietrich-Platz, wie durch die bei diesem Foto verwandte Perspektive betont wird, schmal und von hohen Wänden eingeschlossen ist. Die Sonne fällt nur in den Monaten Mai bis Juli morgens und abends für jeweils eine Stunde auf die Treppe, das Mikroklima hier ist an heißen Tagen angenehm, sonst kann es schnell kühl werden, zumal es einen Windzug über diese Treppe gibt. Ein weiterer Unterschied liegt in der Sichtverbindung zwischen Treppe und davor liegendem Platz. Durch die Bäume und dadurch, dass der Straßenabschnitt vor McDonald’s und Tony Romas als Haltestelle für Reise- und Stadtführungsbusse dient, wird die Sicht vom Platz auf die Treppe und umgekehrt versperrt. Auf dem Foto ist einer der verhältnismäßig niedrigen Oldtimerbusse der BVG zu sehen, häufig stehen dort aber auch große Reisebusse mit reflektierenden Scheiben, so dass der Blick auf den Platz verstellt ist. Aus diesen Gründen wird die Treppe und der Platz unmittelbar davor zu einem isolierten Raum, der kaum direkten Bezug zum Marlene-Dietrich-Platz hat. Diesem geschlossenen Charakter und der Lage direkt neben dem McDonald’s ist es zu verdanken, dass dieser Ort vor allem von einer bestimmten Gruppe genutzt wird, über die ich mich zu Anfang meiner Beobachtungen geirrt habe. Dort konnte ich, nachmittags[28] und bei trockener und nicht allzu kalter Witterung, häufig SchülerInnen sehen, die vor der Treppe gestanden oder auf der Treppe gesessen, sich unterhalten und Fast Food vom McDonald’s gegessen haben. Anfangs dachte ich, es handele sich um Schüler, die im Rahmen einer Klassenfahrt in Berlin sind und sich dort ein bisschen die Zeit vertreiben. Erst nachdem ich mich öfter in der Nähe und schließlich auch auf der Treppe selbst aufgehalten habe, konnte ich an der Aussprache und an den Gesprächsinhalten merken, dass es sich vor allem um Jugendliche aus Berlin handelt. Bei den folgenden Beobachtungen konnte ich dann auch feststellen, dass es sich hier um einen regelmäßigen Treffpunkt handelt und die meisten der Jugendlichen dort sich zu kennen scheinen, alleine oder in kleinen Gruppen kommen und gehen, sich dort verabreden und herumhängen.

Was ist dies für eine Konstellation, in welchem Zusammenhang stehen die Gestaltung dieses Raums, die hier vorhandenen Geschäfte und die Nutzung dieses Orts? Für die Jugendlichen ergeben in dieser Konstellation einige Vorteile. So finden sie hier einen verhältnismäßig kleinen und für sie überschaubaren Raum, den sie leicht besetzen und für sich nutzen können – einer der Gründe, warum ich erst nach einiger Zeit herausgefunden habe, dass die Jugendlichen aus Berlin kommen, ist, dass die Treppe von den Jugendlichen besetzt war und ich in diesem Raum deplatziert gewesen wäre, dort nicht hingepasst hätte. Sie können sich diesen Ort also in gewisser Weise aneignen. Es gibt hier einen McDonald’s, eine Filiale einer Kette, die sich als Teil einer Jugendkultur platziert hat. An dieser Kultur beteiligen sich die Jugendlichen und sie (re)produzieren sie mit ihrer Anwesenheit. Es ist ein Ort des Konsums und der damit verbundenen Gratifikationen. Diese Beziehung zwischen McDonald’s und Jugendlichen legitimiert ihren Aufenthalt hier, sie sind typische Kunden für einen McDonald’s, sie gehören gewissermaßen ins Bild. Allerdings gehören sie nicht nur ins Bild, sie sind auch zahlende Kunden.

Noch sind allerdings nicht alle Komponenten, die die hier zu findende räumliche Konstellation herstellen, berücksichtigt – dieser Ort ist zwar relativ geschlossen und nur eingeschränkt aus der Umgebung einzusehen, er wird aber trotzdem überwacht. Wenn ich auf der Treppe sitze und den Kopf in den Nacken lege, um zwischen den Wänden nach oben zu blicken, sehe ich nicht nur Terrakotta Fassaden und einen Streifen Himmel, sondern auch noch zwei weiter oben befestigte, keinesfalls versteckte Videokameras. Auf dem Lichthof stehend kann ich auch noch eine weitere Videokamera sehen Diese drei Kameras zusammen erfassen alle Treppen zum Hof und diesen selbst ohne einen toten Winkel. An dieser Stelle wird Michel Foucaults Analyse des von Bentham entworfen Panopticons relevant

Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen. [… Jeder] wird gesehen, ohne selber zu sehen; er ist Objekt einer Information nicht Subjekt in einer Kommunikation. […]
Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen; der architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann., welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen. […]
Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so dass man auf Gewaltmittel verzichten kann, um den Verurteilten zum guten Verhalten, den Wahnsinnigen zur Ruhe, den Arbeiter zur Arbeit, den Schüler zum Eifer und den Kranken zur Befolgung der Anordnungen zu zwingen.[29]

Im von Bentham entworfenen Panopticon können die Gefängniswärter die Insassen sehen, ohne dabei gesehen zu werden, so dass die Beobachteten nie wissen, ob sie beobachtet werden oder nicht. Der hier untersuchte Raum ist offen, aber sobald Menschen ihn betreten und sich in ihm aufhalten geraten sie unter den Blick der Kameras. Die Kameras sind nicht versteckt; sie werden als Überwachungsapparate sichtbar, aber sie erlauben nicht den Blick auf die Überwachenden – so wird eine Konstellation der Ungleichheit zwischen Beobachteten und Beobachtenden gebildet. In der Reaktion auf diese hierarchisierende Beobachtung lassen sich mehrere Ebenen ausmachen. Einerseits wird eine räumliche Konstellation produziert, in der die Objekte der Beobachtung die Möglichkeit der Überwachung in ihr Handeln einbeziehen: Sie verhalten sich so, wie es die Kontrollinstitution suggeriert und versuchen es zu vermeiden, dass die verborgene, visuelle Kontrolle zu einer sichtbaren, physisch Anwesenden wird. Um dies erfolgreich zu tun, müssen sie sich die Maxime der Kontrollinstitution zur eigenen machen und in ihr eigenes Handeln einbetten.[30] Andererseits können die Beobachteten auch versuchen, sich und ihr Handeln zu maskieren. Das heißt, sie können in eingeschränktem Rahmen so handeln, dass sie den Eindruck der Konformität wahren, gleichzeitig aber die Kontrolle unterlaufen und den Ort nutzen, um eine andere nicht im Sinne der Überwachenden liegende Tätigkeit auszuführen.

Ich kann nicht sagen, in wie weit die Jugendlichen ihr Herumlungern auf der Treppe als Unterlaufen der Kontrolle im Quartier DaimlerChrysler interpretieren, in wie weit sie den von ihnen besetzten Raum als für sich befreiten Raum ansehen und in wie weit sie sich ihres Status als Überwachte bewusst sind und aktiv mit diesem Status umgehen – wahrscheinlich tun sie dies nur in begrenztem Maße. Für mich ist es an dieser Stelle bloß entscheidend zu sehen, dass sie diesen Raum besetzen und dass sie ihn auch für andere Dinge nutzen, als nur um Geld für Burger, Pommes und Softdrinks auszugeben – diese soziale und räumliche Konstellation ist keine der totalen Kontrolle; soziale, ökonomische und über den Raum und die Sichtbarkeit gebietende Macht ist in diese Konstellation eingelassen. Sie strukturiert diese Konstellation in Auseinandersetzung mit anderen Einflüssen auf und Interessen an diesem Raum.


Visuelle Überwachung wird in dem Raum zwischen McDonald’s, Tony Romas und der am Marlene-Dietrich-Platz vorbeiführenden Straße durch die Installation von Videokameras hergestellt. Die beiden anderen Teile des Marlene-Dietrich-Platzes werden anscheinend nicht von Kameras überwacht, jedenfalls konnte ich keine erkennen. Ich habe dem verhältnismäßig kleinen Raum um die Treppe herum viel Aufmerksamkeit gewidmet und ausführlich die dort stattfindende visuelle Kontrolle beschrieben; wenn allerdings der größte Teil des Marlene-Dietrich-Platzes nicht durch Kameras überwacht wird, wie relevant ist dann dieses Problem der Überwachung überhaupt für den Platz im Gesamten? Entscheidend für die Antwort auf diese Frage ist die räumliche Gestaltung dieses Ortes. Der eben beschriebene Raum ist relativ geschlossen, die Bäume, die hohe Treppe und die Busse versperren einen Teil der Sicht. Der Hauptplatz und der Vorplatz von Musical Theater und Casino hingegen sind völlig offen gestaltet. Hier verstellt nichts die Sicht und der gesamte Platz liegt vor den Betrachtenden. Vom Debis Gebäude im Süden, vom Casino und Musical Theater, vom Hyatt Hotel und aus den höheren Etagen der im Osten liegenden Gebäude lässt sich der Platz überblicken.


Foto 18

offene Perspektive auf Platz und Muscial Theater, im Vordergrund ein älteres Paar

Hyatt auf Marlene-Dietrich-Platz. Mai 2001.



Foto 19

offene Perspektive auf Platz, MacDonald's und IMAX Eingang

Eingang Musical Theater/Adagio auf Marlene-Dietrich-Platz. Juni 2001.


Foto 18 und 19 [31] (siehe auch Foto 13 für die Perspektive von Norden) verdeutlichen dies. Diese Aufnahmen habe ich wieder mit einer niedrigen Brennweite aufgenommen, um einen möglichst großen Blickwinkel auf den Platz zu gestatten. Ich habe sie an verschiedenen Tagen gemacht, allerdings sind sie alle (auch Foto 13) bei angenehmem Wetter belichtet worden – dementsprechend sind einige Leute zu erkennen, die sich auf den flachen Treppen niedergelassen haben. Auf den Bildern sind diese Menschen recht klein, beim Aufenthalt auf dem Platz ist es allerdings unproblematisch, zumindest grob zu erkennen, was für Leute sich auf dem Platz aufhalten und über ihn bewegen und was diese Leute ungefähr tun. Durch die deutliche Akustik an diesem Ort tragen Geräusche recht gut und erhobene Stimmen sind zu hören, sofern sie von keinem anderen Ereignis übertönt werden (wie z.B. bei Vorführungen oder lauten Motorgeräuschen vorbeifahrender Busse). Es ist also möglich, von verschiedensten Positionen aus den gesamten Platz im Auge zu behalten, zu beobachten was für Leute dort anwesend sind und was diese Leute machen.

Diese Offenheit des Raums sorgt dafür, dass etwaige räumliche Barrieren, die vor den Blicken anderer schützen könnten, nicht vorhanden sind. Der Marlene-Dietrich-Platz wird so zu einem transparenten Raum und damit auch transparent für Kontrolle – sei es, dass die Kontrolle durch andere Besucher dieses Raums stattfindet, d.h. als die beschriebene Kontrolle durch Normalisierung, sei es als verinnerlichte Kontrolle im Foucaultschen Sinn. Das panoptische Modell der permanenten weil nicht überprüfbaren Überwachung lässt sich nicht nur in geschlossenen Institutionen wie dem Gefängnis, der Klinik oder der Schule anwenden; das panoptische Modell verlängert sich auch in den restlichen Lebensalltag hinein. Vor der Überwachung ist nur einigermaßen sicher, wer sich entweder in einem privaten oder in einem anderen, nicht für die Augen des ‚Big Brother’ direkt einsehbaren Raum aufhält, sich in einer Nische verbirgt. Solche Nischen und solche verborgenen Räume gibt es am Marlene-Dietrich-Platz nicht. Dementsprechend wird abweichendes Verhalten an diesem Ort sichtbar; wenn ich gegen die Ordnung dieses Raums verstoße, ist mir klar, dass dieser Verstoß, dieser Grenzübertritt von anderen wahrgenommen wird und entsprechend sanktioniert werden kann. Es gibt hier keinen Winkel, in den sich eine Obdachlose zurückziehen könnte. Wer auf dem Marlene-Dietrich-Platz agiert, agiert vor den Augen anderer.

Auf dem größten Teil des Marlene-Dietrich-Platzes wird also Kontrolle nicht durch den Einsatz von Videokameras erreicht, sie wird vielmehr durch seine Gestaltung als offener Raum ohne Hindernisse für die Sicht hergestellt. Sowohl an der Treppe als auch auf dem Platz wird also durch visuelle Überwachung und durch die Integration dieser Überwachung, die Integration des fremden Blicks ins eigene Verhalten und Denken durchgehende Kontrollierbarkeit und Sicherheit gewährleistet.

Diese Kontrolle durch Sichtbarkeit wird jedoch noch ergänzt durch eine Kontrolle durch Barrieren, nur sind diese so geschickt angelegt, dass sie die Sicht nicht einschränken: Die Wasserflächen und Kanäle gewährleisten diesen physischen Teil der Kontrolle. Wer von Norden auf den Marlene-Dietrich-Platz geht, kann nicht einfach schnurstracks in die Mitte des Platzes gelangen, hierzu muss erst die bei Jeff Koons’ Skulptur liegende Wasserfläche umgangen werden. Wer ins Musical Theater oder ins Casino will, muss den Kanal zwischen den Geländern überbrücken (siehe Foto 19, das linke Geländer liegt hinter dem Wagen) und auch wer von Südwesten her kommt muss einen Kanal auf einer Brücke überqueren. Der Zugang zum Quartier DaimlerChrysler und zum Marlene-Dietrich-Platz ist also reguliert und diese Regulierung lässt sich ohne großen Aufwand noch verfeinern. Denn die Kanäle und Brücken sind zwar schon im Regelfall Hindernisse, die die Schritte der Besucher umlenken, sie lassen sich aber durch das Errichten zusätzlicher Sperren und mobiler Zäune leicht ergänzen und führen so zu einer noch effektiveren Kontrolle über den Zugang zu diesem Raum. So konnte ich bei einer Gelegenheit dem Sicherheitspersonal von Adagio und Musical Theater zuhören, als die Ankunft eines ‚Stars’ besprochen wurde. Von den Sicherheitskräften wurde der den Zugang regulierende Charakter der Wasserflächen als Erleichterung in der Planung der kommenden Situation denn auch explizit hervorgehoben.


An einem herausragendes Ereignis wie der Berlinale möchte ich einige der besprochenen Aspekte noch einmal kurz zusammenfassend demonstrieren. Das in diesem Zusammenhang auffälligste Merkmal der Berlinale ist wahrscheinlich ihr spektakelhafter Charakter, der sie direkt in das sonstige Arrangement und Geschehen am Marlene-Dietrich-Platz einfügt. Vor Ort äußert sich dies in einer Vielzahl von Erscheinungen: Auf dem gesamten Areal von Sony Center und Quartier DaimlerChrysler sind während der Berlinale Stelltafeln mit Filmplakaten und Werbung aufgestellt, an den Gebäuden und in den Potsdamer Platz Arkaden finden sich rote Berlinale Banner, in den Arkaden warten lange Schlangen vor den Kartenvorverkaufsstellen, der ganze Ort ist betriebsamer als sonst und das Stella Musical Theater ist zum ‚Berlinale Palast’ umfunktioniert worden. Der nun vor dem Berlinale Palast liegende Marlene-Dietrich-Platz wird mit einem gewissen Hollywood Flair ausgestattet; livriertes Personal hütet die eingezäunten, über den Marlene-Dietrich-Platz führenden Zugänge in den Berlinale Palast und eine je nach anstehendem Auftritt unterschiedlich große Menge von Schaulustigen tummelt sich auf dem Platz. Im linken Hintergrund von Foto 20 (das leider zu dunkel geraten ist) ist eine helle Fläche zu erkennen, diese Fläche ist eine Projektionsfläche, auf der permanent Berichte über die Berlinale und Interviews mit Schauspielern und Regisseuren ausgestrahlt werden. Wenn keine Livesendung ausgestrahlt wird, gibt es eine Endloswiederholung, in der über die Berlinale und den Potsdamer Platz berichtet wird. In dieser meistens zu sehenden Sendung wird vom Potsdamer Platz als dem Herzen Berlins gesprochen, der Bericht wird mit Zeitrafferaufnahmen ergänzt, die den Potsdamer Platz im Bau zeigen – erst ein tiefes in die Erde graben und danach ein rasantes Wachstum in die Höhe; in Interviews preisen Prominente diesen Ort an, hier sei es so interessant und aufregend wie in keiner anderen Stadt, und alle scheinen glücklich, dass die Berlinale nun in der ‚wirklichen’ Mitte der Stadt stattfindet.


Foto 20

dunkles Bild, im Vordergrund Reporter und ein livrierter Portiert, im Hintergrund umzäunter Zugang zum Berlinale Palast

Über den Marlene-Dietrich-Platz zum Berlinale Palast (dem Musical Theater). Februar 2001.


Zu dieser Zeit, in der der Marketingaspekt dieses Ortes sehr deutlich zu Tage tritt, macht sich die räumliche Konzeption dieses Ortes wieder bezahlt. Der Marlene-Dietrich-Platz ermöglicht es durch die Ergänzung der Wasserflächen und Kanäle mit Gattern die Konstellation eines geordneten, in kleine Segmente zerteilten Raums zu schaffen, der trotzdem freien Blick lässt – für die Schaulustigen auf die Stars und für die Sicherheitskräfte auf die Schaulustigen. Durch die Aufteilung des Marlene-Dietrich-Platzes in Segmente und durch die am Platz vorbeiführende Straße wird es verhindert, dass sich große, geschlossene Menschansammlungen bilden können, die schwer kontrollierbar sind und die durch ihre Masse zu einer Gefährdung werden und die geordnete Konstellation durcheinander bringen könnten. Die so entstehenden kleinen Segmente bleiben eher flexibel und zwischen den Filmen oder während des Wartens auf die Stars und Sternchen können die Leute, ohne sich durch einen großen Mob drängeln zu müssen, in eines der Restaurants gehen und sich gemäß ihren Ansprüchen und ihrer Geldbörse mit Getränken, Snacks oder hochwertigeren Speisen versorgen, sie können sich auch in den Arkaden aufwärmen und dort ein bisschen Bummeln gehen. Dieser Ort ist wiederum in der Lage, all diese verschiedenen Tätigkeiten zu absorbieren und in den vorhandenen Geschäften kann eine Vielzahl von Waren und Dienstleistungen zum Konsum angeboten und verkauft werden.

Die Berlinale ist ein Ausnahmeereignis, doch auch in einer Ausnahmesituation wie dieser trägt die räumliche und konsumbezogene Gestaltung des Marlene-Dietrich-Platzes und des Potsdamer Platzes dazu bei, kontrollierte und verwertbare Konstellationen zu schaffen. In diesen Konstellationen gibt es wiederum Kontingenzen, einen gewissen Spielraum, in dem die Menschen an den Grenzen der Konstellation agieren und in nicht vorgesehener Weise handeln, nicht einfach konsumieren, sondern aktiv handeln; vielleicht sogar Kontrolle unterwandern oder diese auszuhebeln – doch wie weit kann eine solche Opposition gehen, wie viel, welchen Raum kann sie besetzen, wie lange kann sie sich halten? Diese Grenzen will ich nun auf Grundlage der in der Beschreibung und Analyse herausgearbeiteten Konstellationen ausloten und so einen Versuch wagen, ein Urteil über den Marlene-Dietrich-Platz und das dort verortete, komplexe Geschehen zu fällen.

Fußnoten

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