Text aus:
Herwig Büchele und Lieselotte Wohlgenannt:
Grundeinkommen ohne Arbeit
1985, ISBN 3-203-50898-2
Katholische Sozialakademie Österreich

Inhalt: Grundeinkommen ohne Arbeit

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3.6. Auf dem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft

Soll ein Ausweg aus der negativen Eigengesetzlichkeit der Mittel und dem Beziehungssystem gegnerisch bis feindlich konkurrierender Menschen, Gruppen und Staaten gefunden werden, dann sind die Macht-Konkurrenz-Beziehungen durch ein Gefüge von Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen zu ersetzen. In der Freisetzung von Kommunikation - durch die Überwindung der herrschenden Normenmacht - in der Frage: wie ist vernünftige und allseitige Verständigung möglich? - besteht das Grundproblem der heutigen Gesellschaft.

Nicht ein neues (= anderes) Mischsystem von Markt und Staat (von der Entfremdung des Staates in die Entfremdung des Marktes - die "rechte" Variante; von der Entfremdung des Marktes in die Entfremdung des Staates - die "linke" Variante), sondern nur eine Neuorganisation der Gesellschaft auf der Basis einer kommunikativen Steuerung der sozialen Prozesse ermöglicht einen Einstieg in eine neue Entwicklungslogik unserer Gesellschaft.

Eine solche Neuordnung, die auf der Möglichkeit allseitiger, wenn auch abgestufter Beteiligung an den Normgebungs- und Entscheidungsprozessen aufruht, bedarf

a) des Ausbaus der primären Sozialsysteme (primäre Gruppen, Haushalte, kleine Netze des sozialen Nahbereichs - Netzwerke, Vereine, autonome Selbsthilfeorganisationen, selbstwirtschaftende Einheiten und Kooperativen, überschaubare genossenschaftliche Vereinigungen, Basisgemeinden),

b) des Wandels der sekundären Sozialsysteme (Markt, Großindustrie, Verbände, Staat) von einer durch Mittelsteigerung gekennzeichneten zu einer in Kommunikation gewonnenen Rationalität und

c) einer Verzahnung und Mischung dieser beiden Sozialsysteme von der Art, daß sie sich wechselseitig stärken und nicht schwächen.

Diese neue Grundordnung ist nicht als ein utopisches Gegenmodell zur herrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit konzipiert. Unsere Reaktion ist nicht das Weglaufen in die Utopie -, obwohl "Utopien", die unsere Beweggründe, Träume und Wünsche bildlich zusammenfassen, ein unverzichtbares Element jeder Vergegenwärtigung von Wirklichkeit sind. Es geht uns sehr wohl um einen praktizierbaren Gegenentwurf zum Fatalismus der Welt der negativen Eigengesetzlichkeit der Mittel und des Wettbewerbs um Lebenschancen als Kampf aller gegen alle. Dieser Gegenentwurf ist durchaus im Blick auf Strategien zu lesen; am Nutzen für solche Strategien wird er auch zu messen sein. Weder werden neue Sozialprinzipien oder Steuerungselemente erfunden, noch wird ein Sozialprinzip (Subsidiarität oder Solidarität) oder ein Steuerungselement (Markt, staatliche Planung, Selbstorganisation) verabsolutiert, sondern die Alternative besteht in einem Wandel und einer neuen Kombination altbekannter Sozialprinzipien und Steuerungselemente auf dem Werte-Fundament eines dialogischen und kommunikativen Pluralismus.

Skizzenhaft sollen diese drei Hauptelemente einer neuen sozialen Grundordnung erläutert beziehungsweise verdeutlicht werden.

3.6.1. Der Ausbau der primären Sozialsysteme

In primären Sozialsystemen (Haushalt, Nachbarschaft, kleine soziale Netze) bringen wir die meisten Lebensstunden zu; von ihrem Gedeihen hängt entscheidend die Qualität sowohl des einzelnen Lebens wie der Gesellschaft insgesamt ab. Es wird immer wieder zu wenig bedacht, daß wir zuvor von Pflanzen leben, vom Bestand einer gestalteten und gestaltbaren Umwelt, von der Zuwendung anderer Menschen.

Die "autonomen" Lebensbereiche, in denen nicht unter fremdem Befehl gegen Lohn gearbeitet wird, sondern in Selbst- und Mitbestimmung, sind bislang stark vernachlässigt worden. Eigenarbeit und Selbstversorgung, gemeinsame Selbsthilfe, begegnungsintensives, solidarisches Handeln, gemeinschaftlich dezentrales Arbeiten läßt sich vor allem in diesem Sektor lernen und einüben.

Fremdarbeit und Fremdversorgung können durch Handwerk, soziale Dienste, kommunikative Eigentätigkeit vielfältigster Art - selbstverwaltete Betriebe, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten - ergänzt und zum Teil abgelöst werden. Kommunikative Entscheidungsprozesse und interpersonale Konfliktlösung können eingeübt werden; die Gewinnung (vielfach: Rückgewinnung) von sozialer und sachlicher Kompetenz ist vor allem in diesem Sektor möglich, weil nicht nur auf institutionelles Lernen gesetzt wird, sondern neue Weisen des alltäglichen Lernens erprobt werden können, selbst dann, wenn dies nur Übergangsphasen des Lernens sind: Lernen, gemeinsam einen Betrieb zu führen, eine Wohngemeinschaft rein zu halten, sich selbst Kleider zu schneidern; restaurierende Fähigkeiten, Reparieren von technischen Dingen, Bildung von kleinen Lerngruppen. Neue Möglichkeit einer Offenheit für Lernen aus Lebenserfahrungen: nicht zuvor lernen, damit ich einen Beruf ausüben kann, sondern lernen durch die erzählte Lebenserfahrung des anderen: Erzählen von Mythen und Märchen; meditatives Lernen; Lernen in der Natur; durch die kommunikative Erfahrung gegenseitiger Hilfeleistung; neue Formen von medizinischem Lernen: Krankenpflege, Behindertenfürsorge. Hauswirtschaft: Zubereitung sinnvoller Nahrung; Lernen im Nahen und Nächsten.

Mut zu einer neuen Schule: in einer solchen Schule könnte auf die gesamtmenschliche Erziehung geachtet werden, die nicht nur Informationen speichern läßt, sondern den ursprünglichen Sinn von Bildung wieder entdeckt: durch wechselseitige Erfahrung von Arbeit und Unterricht; der ganze Mensch muß zur Sprache kommen: emotional und rational. Wichtig ist die ästhetische Komponente, die Schönheit. Ziel: Die Einheit des Geistes (Vernunft), des Guten (Ethik) und des Schönen (Ästhetik).

Am Beispiel des Studiums der Medizin: nötig wäre ein Lernen am Krankenbett mit erfahrenen Ärzten und Schwestern, durch die Geduld der Dienstleistung. Moderne Medizin funktioniert nach dem körperlichen Computersystem, ohne die zeitliche Dimension des Menschen ernst zu nehmen, seine Lebensgeschichte, Geduld, Freiheit, Selbstverantwortung für die Gesundheit usw.

Die Identität des Menschen darf nicht allein durch Erwerbsarbeit beschrieben werden, sondern durch seine Grunderfahrungen im familiären und im Gruppenkontext. Anerkennung, Zuwendung, Zutrauen, Ermutigung, Selbstfindung. Es besteht auch die Chance, daß der Mensch im primären Sektor sich auf ein positives Nichtstun einläßt und daraus in der Erfahrung seines Bejahtseins tiefer sich selbst findet.

Daß es hierbei um keine außergewöhnlichen Vorgänge geht, sondern um Lebens- und Beziehungsformen, die vielen Menschen zugänglich wären, soll ein bewußt schlichtes Beispiel einer positiven Vernetzung vielfacher kleiner sozia1er Dienste zeigen - gleichzeitig ein Beispiel einer positiven Ziel-Mittel-Beziehung:

Eine Stadtfamilie hat im Herbst auf ihrem kleinen Landsitz einen Überschuß an Obst; drei Nachbarn haben keine Obstbäume; ein Nachbar leiht seine Leiter für die ganze Erntezeit; seine Frau ist Schneiderin, für die Äpfel, die sie bekommt, näht sie gewisse Sachen umsonst für die Stadtfamilie. Ein zweiter Nachbar verfügt über einen großen Obstkeller, aber über kein Obst; er hortet Obst in seinem Keller für die Stadtfamilie; er schneidet im Winter die Apfelbäume, dies hätte der Stadtfamilie Tausende von Schillingen gekostet; zudem macht er dies gerne, da er im Winter keine Arbeit hat. Ein dritter Nachbar pflückt Äpfel für die Stadtfamilie, bekommt dafür einen Teil für sich. Er führt sie mit dem Lastwagen zur Obstverwaltung, zur Herstellung von Süßmost. Ein anderer Nachbar pflegt für die Äpfel das Grab filz die Stadtfamilie. Noch ein anderer transportiert die Abfälle kostenlos ab; für ihn hat dies den Vorteil, daß er Heizmaterial hat für die Familie, für die Stadtfamilie hat es den Vorteil, die Abfälle nicht eigens abtransportieren zu müssen. Dies hätte sonst nur gegen Bezahlung, mit Benzinverbrauch und unter Belastung der Mülldeponie geschehen können.

Solche Gegenseitigkeit im unmittelbaren Tausch ist sicher nur in begrenztem Umfang möglich und wird in den meisten Bereichen unserer von Arbeitsteilung bestimmten Welt nicht realisierbar sein; auf die Schatten über dieser Idylle wird noch einzugehen sein. Dennoch werden daran die Vorteile, ja der eigentliche lebensnotwendige Beitrag des autonomen Kleingruppenlebens sichtbar.

In all diesen Beziehungen ist kein Geld im Spiel; nicht nur kommunikative Präsenz, sondern auch unmittelbare Naturerfahrung ist gegeben: ein neues Verhältnis des Menschen zur Natur durch Zurücktreten beziehungsweise Ausfallen des Zwischenreiches "Geld". Leute kommen in den Garten, betrachten die Äpfel, wählen aus, überlegen sich die Speicherung und Verwertung, Sinnhaftigkeit der manuellen Arbeit; das Obst ist nicht gespritzt; eine neue Sinnlichkeit entsteht: ein leibhaftigeres Verhältnis zur Natur. Gefragt sind nicht mehr die sogenannten "sauberen", schönen Äpfel, in Plastikfolien abgepackt, sondern "schön" wird nun vielmehr von Qualitäten wie: natürlich, gut, gesund, zuträglich her verstanden.

Die Arbeitsbedingungen - das Pflücken von Äpfeln - ist durch Kommunikation - Gespräch - gekennzeichnet; keine bloße Arbeitsleistung, frohe Gestimmtheit und gewisse Aufhebung entfremdeter Arbeit; neues Einander-sich-kennenlernen; Austausch von Erfahrungen, kleine gegenseitige Hilfeleistungen während der Arbeit; Austausch von Rezepten zur Verwertung von Äpfeln.

Die Familie, der das Grundstück gehört, ist selten im Dorf. Die Nachbarn haben ein sehr freundliches Verhältnis zu den Leuten. Taucht jemand in Abwesenheit der Familie auf, der nicht sogleich als zur Familie gehörend betrachtet wird, sehen die Nachbarn nach. Gegenseitige Hilfeleistung im Hinblick auf Sicherheit, und zwar nicht nur im Blick auf Sicherung von Sachen, sondern aus persönlicher Beziehung: Unterschied zwischen gesetzlicher und kommunikativ motivierter Sicherheit.

Dieses eben beschriebene kleine soziale Netz "arbeitet" mit sparsamsten Mitteln. Ohne daß Geld eine Rolle spielt, hilft man sich gegenseitig mit Dienstleistungen und Gütern so, daß kommunikative Beziehungen wachsen, jeder materiell und menschlich "reicher" wird. Weder wird einseitig die Beziehung im Feld des Mittelaustausches oder ausschließlich in mitmenschlicher Unmittelbarkeit gefördert: beide Bereiche sind integriert, soziale Gerechtigkeit wird in kleinsten Bereichen konkret gelebt.

Es gilt, eine Vielfalt von mehr oder weniger begegnungsintensiven sozialen Netzen, Lebensgemeinschaften und Lebensstilen zu entwickeln, die überschaubar und begrenzt, das heißt von den beteiligten Menschen gemeinsam gestaltbar und kontrollierbar sind und zwischen denen die Menschen auch wechseln können. "Es gibt Ein-Person-Haushalte, feste Familien und losere Wohngemeinschaften; es gibt Jugend- und Altengemeinschaften und gemischte Gemeinschaften; es gibt Vollzeit- und Teilzeit-Tätigkeiten; es gibt Lebensgemeinschaften, in denen die einen eine Zeitlang ausschließlich außer Haus arbeiten und die anderen zu Hause, und es gibt andere, in denen alle zugleich erwerbstätig sind und Hausarbeit und sonstige Eigenarbeit leisten. Erst eine solche Formenvielfalt ermöglicht, daß Öffentliches und Privates, Geschäft und Gemeinschaft, Arbeitswelt und Lebenswelt gleichermaßen zu ihrem Recht kommen25."

 

3.6.2. Wandel der sekundären Sozialsysteme

Die sekundären Sozialsysteme (Markt, Großindustrie, Verbände, Staat) werden häufig auch als "formeller" Sektor bezeichnet, weil in ihm die Beziehungen zwischen den Menschen vor allem in formalisierter, indirekter Weise ablaufen, Rollen und Funktionen werden rechenhaft, das heißt an den Vorgängen wird nur das wahrgenommen, was in Leistung, letzten Endes in monetären Größen, vergleichbar ist: dieser Bankdirektor ist fast ebensoviel wert wie jener Star, also x Schilling, dieser Facharbeiter nur y Schilling und jene Frau mit Kindern und geringer Berufsausbildung fast gar nichts. Deshalb muß sich die Gesellschaft aus einem schlechten Gewissen einreden, die Tätigkeiten dieser Frauen seien ein immaterieller Wert höherer Ordnung - Klischees der angeblich hochgeschätzten Frau und Mutter, Tröstungen, die eine solche Frau selber nur zu leicht verinnerlicht.

Der formelle Sektor ist nicht allein als der Bereich weitgespannter Arbeitsteilung zu verstehen, entscheidend ist, daß in ihm das Kosten-Nutzen-Kalkül herrscht.

Wir bedürfen des formellen Sektors; trotz des Ausbaus der Selbstversorgung sind wir nach wie vor angewiesen auf einen Sozialstaat mit seiner Fremdversorgung (freilich wäre ein "umgebauter" Sozialstaat denkbar und anzustreben); wir sind angewiesen auf jene durch Fremdarbeit hergestellten Produkte der Massenproduktion, ohne die die Stillung der Lebensbedürfnisse nicht mehr vorstellbar ist; wir sind abhängig von speziellen Werkzeugen, deren Herstellung in Eigenarbeit einen unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordern würde. Mikrochips, aber auch schon einfache Schrauben sind sinnvoll nur vom formellen Sektor zu erstellen.

"Ein so alltägliches Gerät wie beispielsweise eine Waschmaschine enthält eine Fülle von Kenntnissen, die die Fähigkeiten mehrerer Zehntausende von Personen bei weitem übersteigt. Für die verschiedenen Elemente dieser Maschine - rostfreie Trommel, gußeisernes Gestell, emaillierte Blechteile, Elektromotor und Schaltkreise, Regler, Treibriemen und Schläuche aus Gummi usw. - sind ganz verschiedene Technologien und Industrien zuständig26."

Dieser zunehmend computer- und elektronisch gesteuerte Sektor bedarf der Hierarchisierung und Disziplinierung; dieser Sektor kann nicht in ein solidarisch-autonomes Handeln übergeführt werden; demokratisch-kommunikative Prozesse sind in ihm notwendig begrenzt.

Zum anderen hat zu gelten: nicht die Pharma-Industrie soll bestimmen, wie wir uns gesund halten können, nicht die Elektro-Industrie soll bestimmen, wie ein Krankenhaus funktionieren, wie groß und wie teuer es werden soll. Nicht die Öl- und Stromverkäufer sollen bestimmen, wie wir uns beweglich und warm halten.

Daraus ergibt sich nun die Frage, wie sich im sekundären Sektor der Vorrang der Interessen und Lebenschancen der konkreten Menschen gegen die Eigeninteressen der Macht- und Produktionsapparate verwirklichen läßt?

Eine kommunikative Gesellschaft beinhaltet dem Anspruch nach eine allseitige Verständigung über die Unterschiede der Interessen und Wertungen zwischen Menschen, die durch die gemeinsam festgelegten und gelebten Normen zur Einheit finden27. Der Entwicklung kommunikativer Strukturen und Prozesse könnte im formellen Sektor ein Wandel der alten und ein Ausbau neuer Institutionen, besonders auch neue Spielregeln für ihr (Zusammen)-Wirken dienen: Einige Elemente seien genannt:

- Ausbau der politischen Mitbestimmung auf allen Ebenen des politisch-administrativen Systems (der Gemeinde, des Landes und des Staates) in direkter oder repräsentativer Form der demokratischen Beteiligung; innerverhandliche Demokratie; Rotation; Verbot der Ämteranhäufung.

- Ausbau der Wirtschaftsdemokratie durch den Ausbau der Mitbestimmung und der Vermögensbeteiligung in den Unternehmen; Bildung eines Wirtschaftsrates, der für eine demokratische Rahmenplanung und die Übernahme der Orientierungsdaten in die Entscheidungsverfahren der Unternehmungen und Verbände verantwortlich ist. Eine solche Orientierungplanung hat über die Ausarbeitung von Plan-Alternativen mit dem Aufweis der sozialen und ökonomischen Folgekosten die langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungsziele abzustecken. Diese Planvarianten, die einer demokratischen Auswahlentscheidung zu unterwerfen sind, haben gemäß den gewählten Prämissen die Konsumstruktur (personale und gesellschaftliche Bedürfnisse) und die Einkommensverteilung beziehungsweise die Produktionsstruktur und die Investitionsentwicklung optimal aufeinander abzustimmen.

--Bildung einer Konsumentengewerkschaft; die Bereitstellung der Infrastruktur für eine Qualitätsopposition (Gruppen ab einer bestimmten Größe wird die Möglichkeit geboten, Vorschläge zur Qualitätsverbesserung von Gütern, Dienstleistungen, Entscheidungs- und Zustimmungsverfahren an die Öffentlichkeit zu tragen);

--Bildung einer Technologiekommission: aus den Erfahrungen in beiden Hälften der Arbeitswelt, im autonomen wie im formellen Sektor des Wirtschaftens, kann ein politischer Konsens entstehen, der eine vorausblickende Prüfung neuer Techniken und Produkte möglich werden läßt; dies kann sich dann auch im Inhalt auf Gesetze, in staatlichen Institutionen und Unternehmensplanungen niederschlagen.

Solche Methoden und Institutionen einer mehr kooperativ-kommunikativer Steuerung garantieren allerdings aus sich weder Gerechtigkeit noch Freiheit; dies vermag keine Institution und kein Verfahren! Immer wird der Entscheidungs- und Aktionsspielraum einzelner und von Gruppen eingeengt, immer werden verschiedene Interessen bevorzugt und benachteiligt; aber indem die vorwegnehmend skizzierten Verfahren und Institutionen darauf angelegt sind, keinerlei Herrschaftspositionen, weder von Unternehmungen noch von Gruppen noch von einzelnen außerhalb der Kommunikation und das heißt auch außerhalb möglicher Kritik zu belassen, kann dieser Typ der Steuerung zur Chance größerer Freiheit für alle werden.

3.6.3. Positive Verzahnung der primären und sekundären Sozialsysteme

Jetzt präsentiert sich weder das primäre noch das sekundäre Sozialsystem in der Form, wie wir sie vorwegnehmend skizziert haben. Noch weniger ist ihre wechselseitige Beziehung eine positive Verzahnung- im Gegenteil: die Tendenz zur Apartheidgesellschaft ist seit langem angelegt. Industriearbeit reduzierte alles autonome Tätigsein zur Schattenarbeit (zum Beispiel die Hausfrauenarbeit). Die bloße Reproduktion des Lebens als selbstverständliche, kaum oder nicht entgoltene Tätigkeit vorwiegend von Frauen trat in den Schatten des Fortschritts, der ausschließlich als Leistung des formellen Sektors, als männergesteuerte Produktion aufgefaßt wurde.

Eine positive Verschränkung dieser beiden Sozialsysteme ist grundsätzlich erst dann gegeben, wenn die auszubauenden und ausgebauten primären Sozialsysteme den Wandel und die neuen Strukturen der sekundären Sozialsysteme tragen, und die gewandelten sekundären Sozialsysteme den primären Sozialsystemen nicht nur ausreichenden Freiraum gewähren, sondern auch günstige Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung und ihren Ausbau schaffen.

Gelingt die positive Integration dieser beiden Grundsysteme nicht, so wird die Bevölkerung - wie sich heute schon zunehmend abzeichnet - in einen Reichtumssektor (der Erwerbsarbeit) und in einen Armutssektor (der autonomen Tätigkeiten) gespalten.

Die Gefahr, daß der formelle Sektor durch Vermarktung (= Monetarisierung und Kolonialisierung) die primären Sozialsysteme verdrängt beziehungsweise absorbiert, ist immer gegeben, und zwar unter dem Motto: "Wenn du wirklich kreativ und kommunikativ-eigentätig "arbeiten" willst, dann brauchst du diese oder jene Instrumente": die Angebote für Heimwerkertätigkeiten, die Angebote der Heilmittel-, Gesunderhaltungs-, Bio- und Rohkostindustrien; die Angebote an Videokassetten, Jogger-Schuhen und -Anzügen, Meditationstechniken; Rezeptologien für Kommunikationsprozesse, soziologische Analysen und Beratungstätigkeiten für den Aufbau sozialer Netze. Mit einem Wort: die "Monetarisierung" der autonomen Tätigkeiten.

Das Krisenmanagement des formellen Sektors ist immer in Versuchung, diejenigen, die nicht mithalten können, in den autonomen Sektor abzuschieben; dieser wird dann zu einer Art "Reparaturwerkstatt" des formellen Sektors reduziert.

Um die positive Verzahnung der beiden Sozialsysteme zu verdeutlichen, sind nicht nur die Nachteile und Defizite des formellen Sektors und Vorteile und Chancen des autonomen Sektors aufzuführen, sondern auch die Nachteile und Gefahren des autonomen Sektors wie die Vorteile und Chancen des formellen Sektors.

Die primären Sozialsysteme zeitigen nämlich keineswegs immer die positiven Formen, die wir ihnen allzugerne zuschreiben. Sie können sogar die interpersonalen Spannungen und Konflikte verschärfen, den Aggressionsdruck vermehren, Forderungen an Menschen und Gruppen stellen, an denen sie zerbrechen. Die oft geringe Effektivität und der Mangel an geeigneten Werkzeugen, an Kenntnissen und Lernmöglichkeiten verstärkt den "Zwang" zu innerlich nicht nachvollzogenem solidarisch-kommunikativem Ver- halten, den psychisch-sozialen Leistungsdruck, die Überforderung der Dienst- und Hingabebereitschaft, die Bedrohung durch die anderen aufgrund der intensiven Begegnungsvielfalt und die Ausbeutung der Gefühlswelt.

Die primären Sozialsysteme werden so selbst zu einem Ort der entfremdeten Abhängigkeit, der eigenen und gegenseitigen Ausbeutung, in der Nähe" als Erstickungssituation erlebt wird, in der einer den anderen "umbringt".

Beziehungsintensive Kommunikationsstrukturen sind aufgrund der inneren Rivalität der Gruppenmitglieder immer wieder in der Gefahr, sich selbst zu zerstören, einem Gruppenegoismus und Gruppenkapitalismus zu verfallen.

Der autonome Sektor kann aber auch die Illusion des Privatisieren-Könnens auslösen im Sinne: hier bin ich mein eigener Herr; hier kann ich tun und lassen, was ich will. Der Schein eines "Naturzustandes" der menschlichen Existenz, die Gefahr der Freiheitsillusion und der Bindungslosigkeit, die mit der Eigentätigkeit verbunden ist, kann zu einem Verlust der gesamtgesellschaftlichen Sicht und Verantwortung führen.

Abgesehen von den Produktivitäts- und Effizienzleistungen des formellen Sektors ist zu sehen, daß die Tauschbeziehungen dieses Bereiches vor allem über rechtliche und institutionelle Normen laufen, die den Menschen von der Belastung und Unsicherheit der direkten Kommunikation befreien. Der Tausch von Gütern und Diensten fordert zuerst und zumeist nicht meine Tugendhaftigkeit, meine gute Laune und mein "Allzeit-bereit-sein", sondern nur die Einhaltung rechtlicher und funktionaler Normen. Der formelle Sektor erlaubt es, "Leute von außerhalb zu treffen und mit ihnen weniger vertraute und freiere Beziehungen zu unterhalten als mit all denen, die in einem sofort die Schwester, die Tochter, die Cousine, die Schwiegertochter usw. sehen und einen in einem genau eingeteilten Universum situieren, in dem jeder seinen ihm zugewiesenen Platz hat und sich unbedingt dort aufhalten muß. Sie erlaubt es, sich in allgemeiner Weise und nicht in besonderer, besonderen Beziehungen unterworfener Weise der Gesellschaft nützlich zu fühlen und daher als universales gesellschaftliches Individuum zu existieren, das aufgrund seiner anonymen Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft gegen den Druck einzelner Gruppen geschützt ist 28".

Das staatliche Krankenhaus und das Altersheim meiner Gemeinde befreien mich aus der Abhängigkeit von widerwillig geleisteten Diensten meiner "Nächsten". Rechte und Pflichten der Lohnarbeit sind institutionalisiert; der Einkauf in einem Kaufhaus - Geld gegen Ware - ist nicht mit der Unsicherheit und Erpreßbarkeit unmittelbarer Kommunikation belastet. "So befreien uns Geld- und Preissystem vom Feilschen und vom wechselseitigen Mißtrauen, die primitive Tauschformen, da ihnen ein gleichwertiges Messungssystem fehlt, begleiten29."

Es gibt Grenzen, die es nicht erlauben, große zentrale Einheiten unangemessen zugunsten kleiner zu dezentralisieren, was nicht grundsätzlich gegen die Dezentralisierung spricht, sondern nur für eine ausgewogene Vermittlung beider Formen. Es kann nicht um eine Partikularisierung im Nebeneinander gehen, sondern um eine sinnvolle Differenzierung der zentralen Einheiten, die um so effektiver werden, je mehr Spielraum sie den kleinen Einheiten für ihre Spontaneität lassen, ohne die notwendige Kooperation und Integration zu eliminieren. Aufgrund der Komplexität der Technik, die auch ihr Gutes hat, kann nicht jede dezentrale Einheit autonom sein. Zentrale Verwaltung in bestimmten Bereichen kann, muß nicht in Bürokratie umschlagen, sie kann den Elementarbereichen größeren Spielraum gewähren und sichern.

Die "Gegenmoderne" bedarf auch der "Moderne". Das Problem einer sauberen Umwelt ist nur zu lösen unter Zulassung der Entwicklung einer Umwelttechnologie -, wenn auch die generelle Vermeidung schädlicher Produktion ein unentbehrlicher und der wichtigere Schritt ist. Die negativen Auswirkungen der Moderne bekommen wir nur in den Griff durch laufende "Modernisierung" des formellen Sektors, aber nicht als Unterwerfung unter seine umfassende Herrschaft, sondern als Anpassung an die Ansprüche und Fähigkeiten, die aus dem autonomen Sektor hervorgehen.

Die Beziehungen des formellen Sektors bilden den Rahmen für die intensiveren Beziehungen des autonomen Sektors auf der Basis der Zwei-Wege-Kommunikation; diese Beziehungen bedürfen des Zwischenraumes abstrakterer und anonymerer Beziehungen, um gedeihen zu können. Der formelle Sektor kann daher auch der Raum eines freieren Atmens sein, in dem die sozialen Prozesse anstrengungsloser verlaufen und so auch zu einer psychischen Entlastung des Menschen führen können.

Verzahnung und Mischung der beiden Sozialsysteme wird in dem Maße positiv verlaufen, wie es gelingt, daß sich beide Sektoren gegenseitig entlasten und ihren Freiraum erweitern und stärken. Es kann also nicht nur um eine Zweiteilung im Sinne einer Isolierung der beiden Bereiche gehen, auch nicht nur darum, den Übergriff des formellen Sektors auf den autonomen Sektor zu verhindern, sondern darum, den Ausbau des autonomen und den Wandel des formellen Sektors anzuzielen und zu fördern. Je flexibler die Grenzen zwischen beiden Sektoren und je größer die Wahl- und Kombinationsmöglichkeiten zwischen Erwerbsarbeit und kommunikativer Eigentätigkeit, Fremdversorgung und kommunikativer Selbstversorgung sind, um so größer wird der Freiheitsraum für den Menschen.

Eine positive Vernetzung des formellen Sektors mit dem autonomen Sektor kann schwer quantifiziert dargestellt werden. Aber ein annäherndes Bild einer möglichen Kombination kann die Aufteilung der Lebenszeit im Tagesdurchschnitt geben: Vier bis fünf Stunden Erwerbsarbeit im formellen Sektor; fünf bis sechs Stunden im autonomen Sektor; sechs bis sieben Stunden Freizeit; acht Stunden Schlaf.

"Das Verhältnis von Erwerbstätigkeiten zu anderen Tätigkeiten beträgt also rund ein Drittel zu zwei Drittel (heute beträgt es halbe-halbe). Das läuft hinaus auf eine Arbeitswoche von 20 bis 25 Stunden, auf eine Jahresarbeitszeit von um 900 bis 1100 Stunden, und eine Lebensarbeitszeit in der Größenordnung von etwa 35.000 bis 55.000 Stunden. Die heutige Lebensarbeitszeit liegt in Größenordnungen zwischen 40.000 und 70.000 Stunden, wobei die mittlere Lebensspanne vergleichsweise kurz ist und die Arbeitswoche lang 30. "

In einer solchen positiven Verzahnung der beiden Sozialsysteme dient die Erwerbsarbeit "nicht bloß ihren Zwecken, sondern auch der Ermöglichung eigener Aktivitäten und dem Genuß von Freizeit und Muße. Der Beruf ist ein Aspekt unter anderen auf einem Lebensweg, auf dem sich mehr findet als bloße Arbeit, sei es auch Eigenarbeit. Erfüllung und Selbstverwirklichung kann man in beiden Sektoren der Wirtschaft finden, ebenso wie Frustration und Unterwerfung. Ein Optimum an Rechten und Freiheiten muß in beiden Sektoren zugleich, in aufeinander abgestimmter Weise, gefunden werden. Das Recht auf Einkommen, das Recht auf Arbeit (Erwerb), das Recht auf sinnvolle Arbeit, das Recht auf Eigenarbeit und das Recht auf Faulheit erlangen ihre Geltung miteinander. Sie ergänzen und begrenzen einander 31".

Wenn also vermieden werden soll, "daß die Gesellschaft in zwei Kulturen - die der Selbstversorger und die der Fremdversorgten - zerfällt, dann ist es notwendig, daß möglichst viele Bürger in beiden Sphären der Bedarfsdeckung aktiv sind. Nur so werden sie die spezifische Eigendynamik beider Sphären aus eigener Erfahrung begreifen und beurteilen können 32".

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