Inhalt: Grundeinkommen ohne Arbeit
2.3. Identität und Anerkennung
2.3.1. Einwand: Wer bin ich eigentlich - ohne Arbeit?
Die individuelle und soziale Identitätsbildung eines Menschen vollzieht sich heute vornehmlich über die Arbeit beziehungsweise über eine berufliche Rolle. Auf die Frage: "Was sind Sie?", wird geantwortet: Ich bin Stahlarbeiter; ich arbeite bei "Siemens"; ich bin Anwalt. Arbeit erbringt auch den Nachweis, für die Gemeinschaft von Nutzen zu sein, von anderen Menschen gebraucht zu werden; über sie erfolgt im breiten Maße die öffentliche Anerkennung als Zuweisung dessen, was ein Mensch ist. Wie vermag sich dieses, für den Menschen so grundlegende Identitätsgefühl herauszubilden, wenn es nicht mehr über die Arbeit entwickelt wird?
Entgegnung: Identität aus der Teilnahme am Wandel der Gesellschaft
Normalerweise wird Identität heute über Erwerbsarbeit, Leistung und Status gewonnen - durch Faktoren also, die ihre Bewertung durch das Urteil anderer und durch Abgrenzung von anderen beziehen. Die Identität eines Managers bildet sich heute zuvor nicht aufgrund seiner guten oder schlechten Entscheidungen, die er trifft, sondern durch die Anerkennung der anderen. Sie wird an Symbolen sichtbar gemacht: Einkommen, Privilegien, das Wissen, daß er Macht hat, Entscheidungen (auch über andere Menschen) zu treffen. Nicht sosehr seine persönliche Qualität ist entscheidend, sondern eine ihm zugeschriebene Rolle. Dabei ist die Möglichkeit der Abgrenzung von niedrigeren, weniger einflußreichen sozialen Schichten für die Identitätsbildung von Wichtigkeit.
Die Anerkennungsidentität, die sich aufgrund solchen Verfallenseins an die Anerkennung durch die anderen bildet, führt zu einer Selbsteinschätzung (wer bin ich?), die identisch ist mit dem, wofür mich andere halten.
Diese Zwangs- und Entfremdungsidentität bildet sich eben aufgrund der Rolle, die ich übernommen habe: weil ich diese Arbeit tue, muß ich diese Leistung erbringen. Daher bin ich für mich und für andere in einer bestimmten Zeitphase nur dann ein "Ich-selbst", wenn ich mich so verhalte, wie diese Rolle es mir vorschreibt, mich zu verhalten. Und deshalb sagt der Mensch dann sehr leicht: das bin ich.
Eine positive Identität findet der Mensch durch den Mut, nicht verkleistert durch Rollen und Rücksichten und Vor- sichten zu leben, sondern als der, der er ist, frei von der Sorge um Anerkennung. Kennzeichen solcher positiver Identitätsfindung sind Freude, Friede, Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Treue, Ehrfurcht vor der Natur, Mut zur Entwicklung, zum Wachsen in der Kraft, andere zu fördern, ihnen vertrauen können, in Gelassenheit.
In Ansätzen wird solch positive Identitätsbildung gewonnen in der Teilnahme am Wandel hin zu einer kommunikativeren Gesellschaft. In diesem Sinne ist ein Grundeinkommen eine hilfreiche, wenn auch keine ausreichende Bedingung. Mit anderen Worten: eine positive Identitätsbildung erfordert eine Gesellschaft, in der die Menschen eher ihre Fähigkeiten und Lebenswünsche entwickeln können, erstens durch ein breiteres Angebot von Entwicklungsmöglichkeiten; zweitens würde nicht die Identitätsbildung über fremdbestimmte Produktions- oder über Konsumleistungen (der spektakuläre Konsumstar) dominieren.
Der Vorwurf, daß durch die Einführung eines Grundeinkommens die Identitätsbildung nicht oder erschwert gelinge, dieser Vorwurf ist zuerst an die heutige Gesellschaft zu richten. Das Grundeinkommen vermittelt einem Menschen nicht notwendig eine positive Identität, aber es mindert auch nicht seine Chance, Identität zu finden.
2.3.2. Einwand: Vor allen als Schmarotzer dastehen?
Wie schaffen Menschen es, von einem Grundeinkommen zu leben, das sie nicht verdient haben, etwas annehmen zu können, ohne sich schämen zu müssen? Würden sie nicht jede Selbstachtung verlieren, vor allem dann, wenn die "Nachbarn" auf sie als Schmarotzer und Drückeberger verweisen? Ein solches Grundeinkommen wird die Ursache für zusätzliche Ungunst und somit für Entzweiungsphänomene in der Gesellschaft sein. Für diejenigen, die es ohne anerkannte Gegenleistung in Anspruch nehmen, führt es zu einer öffentlichen Stigmatisierung als Schmarotzer. Dieses Stigma verletzt noch tiefer als das Stigma, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
Entgegnung: Wo niemand an den Rand gedrängt wird, schämt sich niemand seiner Existenz
Den heutigen Sozialhilfeempfängern wird es enorm erschwert, Selbstwertgefühl zu wahren bzw. zu bilden, weil sie versucht sind, das Stigma zu verinnerlichen, das sie zum Bezug dieser Hilfe ermächtigt. Ich bin ein alter Mensch, ich bin ein Gescheiterter, ein Alkoholiker - und deshalb habe ich Anspruch. Zum Unterschied davon setzt das Grundeinkommen keine Stigmata voraus. Eine ledige Mutter wird größere Chancen der ldentitätsbildung und des Selbstwertgefühls finden, wenn die Gesellschaft ihr - zwar nicht als Lohn für Erziehungsarbeit, aber als selbstverständliche Anerkennung ihrer Existenz als im übrigen einer einkommenslosen Frau mit Kind - ein Grundeinkommen zuspricht. Warum soll sie sich dadurch gedemütigt fühlen? Durch ein Grundeinkommen könnte auch die Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit dadurch gemildert werden, daß Arbeitslosigkeit gleichbehandelt wird wie die Nicht-Erwerbstätigkeit21.
Die Einführung eines Grundeinkommens setzt ein bestimmtes gesellschaftliches Klima voraus, nämlich die "atmosphärische" Vorwegnahme eines Zustands, in dem Gruppen von Benachteiligten für das Funktionieren der sozialen Schichtung nicht mehr notwendig sind, ein Klima der Großzügigkeit wäre notwendig, im Sinne der Grundhaltung: in unserer Gesellschaft fällt niemand durch den Rost; wir benötigen für unsere Identitätsfindung nicht den Rand von Benachteiligten, nicht die Schadenfreude, daß es anderen noch schlechter geht. Dann kann ein Grundeinkommen ohne Skrupel in Anspruch genommen werden. Wie unser System der sozialen Sicherheit - einmal eingeführt - von jedermann als selbstverständlich hingenommen wird, so werden Menschen, die unter den Rahmenbedingungen eines Grundeinkommens aufwachsen, dieses ganz normal finden.