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Robert Mittelstaedt



Michael Endes letzte Worte an die Japaner


Am 4. Mai 1999 wurde im japanischen Fernsehen NHK (Nihon Hôsô Kyôkai) der Dokumentarfilm »Ende no yuigon« - "Endes letzte Worte" ausgestrahlt. Das Programm stiess bei den Zuschauern auf grosses Interesse und wurde seither bereits dreimal wiederholt. Der Film beginnt mit Ausschnitten aus einem Interview, das Michael Ende dem japanischen Fernsehen im Februar 1994 gegeben hatte. In seinen letzten Lebensjahren hatte sich Ende sehr intensiv mit Fragen der Wirtschaft und des Geldsystems auseinandergesetzt. Sein Meisterwerk "Momo" enthält zahlreiche Andeutungen zu diesen Themen. Dem Volkswirtschaftler Werner Onken fielen diese Anspielungen auf und er sprach ihn darauf an. Im seinem Antwortbrief bestätigte Ende diese Vermutungen:

"Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, dass die Idee des alternden Geldes im Hintergrund meines Buches MOMO steht. Gerade mit diesen Gedanken von Steiner und Gesell habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich zu der Ansicht gelangt bin, dass unsere ganze Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich oder vorher sogar die Geldfrage gelöst wird."(1)

Dieses Thema beherrschte auch das Gespräch mit den Fernsehleuten aus Japan. Über zwei Stunden sprach er über die Dinge, die ihm so sehr am Herzen lagen und das japanische Fernsehteam hörte mit grossem Interesse zu. Das Gespräch lieferte die Anregung zu einer Fernsehreihe über das Thema unter der Mitarbeit von Michael Ende. Leider kam es dann nicht mehr dazu, da Michael Ende im August 1995 verstarb. Das Fernsehteam nahm die Anregung dennoch auf. In Endes hinterlassenen Büchern fanden sich viele Werke zum Thema Geld und Wirtschaft. Das Interview und die Bücher boten dann das Grundmaterial für die Fernsehdokumentation "Endes letzte Worte".

Michael Ende

Michael Ende liebte Japan, seine Menschen, seine Kultur. Und die Japaner lieben ihn. In keinem anderen Land, ausserhalb Deutschlands, wurde sein Werk so umfassend aufgenommen und erreichte so hohe Auflagen. Aus Gesprächen, die er mit japanischen Künstlern und Wissenschaftlern geführt hatte, entstanden Bücher, die es auf Deutsch nicht gibt. Und so kommt es, dass seine Vorstellungen über Geldsystem und Wirtschaft und deren innerer Zusammenhang mit der Kultur in Japan besser bekannt sind als hierzulande. Auf den ersten Blick scheint es Gemeinsamkeiten zu geben zwischen Deutschland und Japan: beide verfügen über eine alte, gewachsene Kultur und beide gehören sie zu den industriell fortgeschrittensten Ländern. Diese Voraussetzungen mögen Ende bewogen haben, seine Vorschläge an Japan zu richten. Die wirtschaftlich mächtigsten Länder hätten der Welt gegenüber eine Pflicht zu erfüllen, so meinte er, und daraus entstand die Idee, in Tokyo eine Konferenz einzuberufen, bei der Unternehmer und Wirtschaftler eine Organisation bilden, die das kapitalistische Wirtschaftssystem von Grund auf neu durchleuchtet. Der Beitrag der reichen Länder im internationalen Rahmen solle nicht darin bestehen, Geld an die armen Länder zu verteilen, sondern in der Verwirklichung kluger Unternehmen.

Wie kommt nun ein Autor wie Michael Ende, der für den Reichtum der Phantasie in seinen Geschichten geliebt und bewundert wird, dazu, sich auf das knallharte Parkett der Realität zu begeben? Vielleicht sind Vorstellung und Wirklichkeit gar keine so unversöhnlichen Gegensätze, wie uns unsere offizielle Kultur noch immer glauben machen will. Das Reich der Phantasie, das die innere, subjektive Befindlichkeit widerspiegelt und die Welt der objektiven Tatsachen, der äusseren Bedingungen, stehen in Wechselbeziehung zueinander. Äussere Gegebenheiten können die Phantasie anregen und aus der Vorstellungskraft wiederum können neue Tatsachen geschaffen werden. Während einer Konferenz von Wirtschaftlern und Managern in der Schweiz, zu der Ende eingeladen worden war, las er eine Passage aus einem seiner Bücher und er versuchte dann, das Vorstellungsvermögen seiner Zuhörer zu aktivieren. Sie sollten sich vorstellen, wie die Gesellschaft der Zukunft aussehen solle; aber es kam nicht dazu. Die Zuhörer sahen nur die Bedingung der Realität, "Wir brauchen ein jährliches Wirtschaftswachstum von 3%, um überleben zu können", und darin gab es keinen Freiraum mehr für Phantasie.(2)

Um uns Endes Vorstellungswelt zu nähern, ist es vielleicht hilfreich zu ergründen, wie er die Tatsachen der Wirklichkeit wahrgenommen hat. In einem älteren Interview für eine japanische Fernsehsendung meinte er:

"Wer zahlt, der befiehlt. Da unsere ganze Entwicklung auf technologischen und wissenschaftlichen Gebieten von Wirtschaftsinstituten und von staatlicher Seite für militärische Zwecke bezahlt werden, ist eine ganz bestimmte Art von Naturwissenschaft geschaffen und mit ungeheurer Geschwindigkeit vorangetrieben worden."(3)

Die Ausgaben für militärische Rüstung ergaben sich aus dem Wettbewerb der beiden dominierenden Machtblöcke. Und an diesem Punkt erhebt sich die Frage, wieso der 'real existierende Sozialismus', der ja eine menschlichere Alternative zum Kapitalismus darstellen wollte, so kläglich versagt hat. Nach Endes Ansicht ist die Marxsche Lehre jedoch keine Alternative zum Kapitalismus, Marx hatte den grundlegenden Fehler des Kapitalismus nicht erkannt und gelöst.

"Marx hat im Grunde geglaubt, das Problem des Kapitalismus dadurch zu lösen, dass anstelle der vielen Privatunternehmer nur ein einziger Unternehmer gesetzt wird, nämlich der Staat. Der Hauptfehler von Marx war, dass er den Kapitalismus eigentlich gar nicht ändern, sondern nur dem Staat übergeben wollte. In den beiden feindlichen Zwillingen der letzten 70 Jahre hatten wir einen Privatkapitalismus und einen Staatskapitalismus. Aber wir hatten keine nichtkapitalistische Wirtschaftsordnung. Marx' grosses Verdienst bleibt dennoch, dass er Begriffe geschaffen hat, die eine Kritik des Wirtschaftslebens überhaupt ermöglichen."

Für Ende ist der Kapitalismus eine Auswirkung der fehlerhaften Struktur des Geldwesens selbst. Diesen grundlegenden Zusammenhang hatte Marx nicht erkannt, so dass es zwischen dem 'real existierenden Sozialismus' und dem Kapitalismus westlicher Prägung gar keinen so grundlegenden Unterschied gegeben hat, auch nicht in den Auswirkungen:

"Die Opfer unseres Systems sind die Völker der Dritten Welt und die Natur. Sie müssen die Rechnung bezahlen. Sie werden rücksichtslos ausgebeutet, damit das System weiterhin funktioniert. Um das Geld so profitbringend wie möglich zu investieren, so dass sich das Kapital vermehrt und wächst, müssen sie die Rechnung dafür bezahlen, denn natürlich kommt dieses Wachstum nicht aus nichts."

Auf seiner Suche nach einer Lösung, wie die »Tyrannei des Geldes« beendet werden könne, begegnete Ende vielen Fachleuten - Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern, Wirtschaftlern - und diskutierte mit ihnen. Eine der originellsten Persönlichkeiten unter diesen Experten ist der Schweizer Nationalökonom Hans Christoph Binswanger. Für Binswanger ist das grenzenlose Wirtschaftswachstum Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach Unendlichkeit. Doch diese Sehnsucht hat sich vollständig auf das Materielle verlagert, wo es nicht erfüllbar ist. Dahinter steckt, so vermutet er, das Bestreben der mittelalterlichen Alchemie, Blei in Gold zu verwandeln. Das Faust-Drama Goethes ist nach Binswangers Verständnis eine detaillierte Kritik an den unterschwellig wirkenden, alchemistischen Vorstellungen und eine eindringliche Warnung an die Hybris der modernen Wirtschaft.(4)

"Bei meiner Interpretation ist die Erkenntnis neu, dass Goethe im Faust die moderne Wirtschaft als einen alchemistischen Prozess beschreibt und vor den Folgen solchen Tuns eindringlich warnt: vor allem dort, wo von der Schaffung von Gold, von Geld, von den Geldschöpfungsexperimenten die Rede ist... Hier liegt ein wesentlicher Teil von Goethes Faust-Botschaft. Alchemie ist kein mittelalterlicher Aberglaube, sie wird konsequenter denn je praktiziert, sie experimentiert heute mit dem Globus insgesamt, und dieses alchemistische Grossexperiment heisst »moderne Wirtschaft«...
Was passiert denn in der Wirtschaft heute? Ständig »wächst« etwas »zu«. Merkwürdig nur, dass nirgendwo irgendetwas weniger werden soll. Genau das ist Alchemie, die Fortsetzung des Schöpfungsprozesses quasi aus dem Nichts."(5)

Binswanger sagt, dass die Wirtschaft zu etwas Sakralem, das Geld zu etwas Transzendentem geworden sei, es verdirbt nicht, es kann nicht verbraucht werden, denn es läuft ja nur um. Es verfault nicht, es rostet nicht - es ist dem Gold gleich. "So ist das, was wir beim Geld empfinden, unbewusst zu einer Metapher geworden für Unsterblichkeit." Aber die groteske Selbstvermehrung des Geldes, das Sakrale darin, ist für Ende eine Form von Schwarzer Magie.

"In den alten Kulturstätten der Welt stand im Mittelpunkt der Tempel, die Kirche oder der Dom. Von dort ging die Ordnung des Lebens aus. Heute steht im Mittelpunkt jeder Grossstadt das Bankgebäude. In meinem »Rattenfänger« habe ich versucht, dies als eine Art Dämonenkult zu schildern, wo das Geld wie etwas Heiliges angebetet wird. Dort wird sogar expressis verbis gesagt, es sei Gott!
Es tut Wunder, denn die Vermehrung des Geldes selbst ist ja ein Wunder. Es ist ja eine wunderbare Geldvermehrung, um die sich's da handelt. Es hat den Charakter des Unvergänglichen. Wenn jedoch etwas eine rein menschliche Schöpfung ist, dann ist es das Geld."

Schwarze Magie hat es an sich, dass sie selbstzerstörerisch ist, dass sie sich letztendlich selbst verzehrt. Im »Rattenfänger von Hameln«, der alten Legende, die Ende als Grundlage für eine Oper benutzt hat, erscheint der Rattenfänger als Retter, der die Kinder aus einer kranken, elenden Gegend, in der die Pest wütet, in ein neues, gesundes Reich führt. Dies ist möglich in der Welt der Phantasie, wie aber soll eine Lösung in der Realität aussehen. Nun, wenn das Problem dadurch entsteht, dass das Geld zu einem Symbol für Unendlichkeit und Unsterblichkeit geworden ist, obwohl es mitten in der endlichen und vergänglichen Welt benutzt wird, scheint die Lösung offensichtlich. Auf dem Höhepunkt des Gesprächs mit dem japanischen Fernsehteam fällt nun der Name Silvio Gesell.

"Ich weiss nur, dass es mit Silvio Gesell angefangen hat, der einer der ersten war, die sich den Kopf darüber zerbrochen haben. Das war ein Mann der Räterepublik in Bayern kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Er sagte zum Beispiel: »Geld muss altern können«. Er sagte, es muss so eingerichtet werden, dass das Geld am Ende des Wirtschaftsprozesses wieder verschwindet."

Er bringt dann zur Veranschaulichung den Vergleich mit dem Blut, das an einer Stelle - im Knochenmark - erzeugt wird, dann im Körper zirkuliert, alle Organe mit Nährstoffen versorgt und zum Schluss altert und ausgeschieden wird.

Silvio Gesell wurde in einem kleinen Ort nahe der belgischen Grenze geboren, wanderte als junger Mann nach Argentinien aus und gründete dort als Kaufmann ein erfolgreiches Geschäftsunternehmen. Er studierte die wechselnden Phasen in der Konjunktur der Wirtschaft und fand die Ursachen für krisenhafte Entwicklungen im Geldsystem. Seine Einsichten bildeten die Grundlage für seine Theorie. Als er nach Europa zurückkehrte, verfasste er sein umfangreiches Hauptwerk »Die Natürliche Wirtschaftsordnung« und versuchte auch hier seine Erkenntnisse weiterzugeben. Aber auch nach der zweiten, noch schlimmeren Katastrophe wurde nicht an der bestehenden Geldordnung gerührt. Und da auch heute wieder die wirtschaftliche Situation bedrohliche Ausmasse annimmt, scheinen nach Endes Meinung Massnahmen dringend geboten.

"Wenn nicht die Vernunft den Menschen dazu bewegt, etwas zu ändern, dann werden es die Ereignisse sein.
Aber ich glaube, dass es eine Maulschelle sein wird, die die Menschheit bekommt und die ihr noch viele Jahrhunderte in den Ohren klingen wird..."

Maulschellen hat die Menschheit im 20. Jahrhundert ja schon einige kräftige erhalten. Und vor jeder Katastrophe, die sich ereignete, gab es Stimmen der Vernunft, die vor der Katastrophe warnten. Gesells Leserbrief an eine Berliner Zeitung stammt aus dem Jahre 1918:

"Trotz der heiligen Versprechen der Völker, den Krieg für alle Zeiten zu ächten, trotz der Rufe der Millionen: »Nie wieder Krieg«, entgegen all den Hoffnungen auf eine schönere Zukunft muß ich sagen: Wenn das heutige Geldsystem, die Zinswirtschaft, beibehalten wird, so wage ich es, heute schon zu behaupten, daß es keine 25 Jahre dauern wird, bis wir vor einem neuen, noch furchtbareren Krieg stehen."

In weiteren knappen Sätzen beschrieb er, was sich bis zu dieser Katastrophe ereignen würde und es traf ein. Gesell war jedoch kein Hellseher. Seine Voraussage war nur eine präzise Darstellung der Konsequenzen, die sich aus der inneren Gesetzmässigkeit des Geldsystems zwangsläufig ergeben mussten. In Phasen sich steigernder Aufregung werden jedoch Stimmen der Vernunft und Besonnenheit immer überhört.

Die Domäne des Schriftstellers Michael Ende ist das Reich der Phantasie, der subjektiven Vorstellungskraft, und diese scheint nichts mit der Realität zu tun zu haben. Aber die sogenannten Realisten, die nur die Notwendigkeit für "3% Wirtschaftswachstum" sehen, stehen möglicherweise unter dem Zwang einer inneren Vorstellung von der Wirklichkeit, dessen sie sich nicht bewusst sind. Michael Ende versuchte, die Aufmerksamkeit der Menschen auf diese innere Welt der geistigen Vorstellung zu lenken. Es könnte zu der Einsicht führen, dass der Zwang zu "3% Wirtschaftswachstum" auch nur eine Ausgeburt der Phantasie, aber einer unbewussten ist.

"Ich betrachte meine Möglichkeiten als Schriftsteller, die ja sehr gering sind, nur unter diesem Gesichtspunkt. Ich versuche Gedanken zu denken, Vorstellungen zu entwickeln, die möglicherweise denen helfen können, die die Ereignisse überstehen und nicht den gleichen Fehler wieder machen. Es wird sich dann eine Gesellschaft von ganz anderer Art bilden."

Michael Ende überschätzt keineswegs seine Möglichkeiten der Einflussnahme in einer Kultur, in der Phantasie und Realität, Subjekt und Objekt als voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden, die scheinbar ohne gegenseitige Beziehung nebeneinander existieren. Aber auch diese Vorstellung ist keineswegs universal und überall gültig.

Atsunori Kawamura, der Leiter der Dokumentarfilmabteilung "Group Gendai" von NHK berichtet (6), dass Ende sich trotz seiner Sympathie und Wertschätzung für Japan und seiner Kultur weit von der heutigen Lebenswirklichkeit der Japaner entfernt fühlte. Im Japan der Gegenwart wird die Wirtschaft und sogar die Kultur von der Macht der Bürokratie beherrscht. Was als Neuaufbau der Wirtschaft bezeichnet wird, besteht lediglich in der Investition ungeheurer Summen aus Steuergeldern in die Kapitalorganisation privater Unternehmen. Auch das kulturelle und geistige Schaffen hängt von Subventionen und Autoritäten ab, die so die Richtung der Entwicklung beeinflussen. Die demokratisch gewählten Politiker sind meist damit beschäftigt, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren, um bei der nächsten Wahl wieder gewählt zu werden. Die Bürokraten, die sich nicht um die Wählergunst bemühen müssen, können sich ohne Ablenkung auf Sachfragen konzentrieren. Diese Bürokratie ist sehr effizient, sie trifft ihre Entscheidungen nicht einseitig, sondern in reger Zusammenarbeit mit betroffenen Institutionen. Auf diese Weise entstand ein paternalistisches System, das auf Konsens und Harmonie beruht, aber die Bürger auf subtile Weise entmündigt. Endes Vorstellungen orientieren sich weitgehend an den Theorien Rudolf Steiners von der Dreigestalt der Gesellschaft. Die Grundlage der Demokratie ist die Gleichberechtigung der Bürger und somit auch die Grundlage für Mehrheitsentscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten. Im geistigen und kulturellen Leben jedoch gelten andere Theorien, in diesem Bereich zählt die Freiheit am höchsten. Was Kunst ist, kann nicht durch Mehrheitsbeschluss oder gar per Dekret bestimmt werden. Der wirtschaftliche Bereich sollte vor allem dem Ideal der Brüderlichkeit entsprechen. Diese Einteilung der Gesellschaft folgt den Schlagworten der Französischen Revolution: Freiheit im geistigen, kulturellen Bereich, Gleichheit in der Ausgestaltung der Bürgerrechte und Brüderlichkeit bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen.

Es war nicht Japans Fassade, die solche Anziehungskraft auf Michael Ende hatte, es waren wohl subtilere Aspekte der Kultur dieses Landes, die tiefere Schichten bei ihm angesprochen haben. Japan ist in vieler Hinsicht ein ungewöhnliches Land. Einerseits ist es durch und durch asiatisch, ganz in den Traditionen asiatischer Geistigkeit und Kultur stehend, andererseits hat es sich daraus hervorgehoben und konnte sich nicht nur in der von Wissenschaften dominierten, abendländischen Zivilisation behaupten, sondern sogar einen der höchsten Plätze erobern. Doch die Kultur eines jeden Landes ist wie durch eine Nabelschnur mit seiner Vergangenheit verbunden und auch wenn die äussere Fassade dies nicht mehr erkennen lässt, sind solche Einflüsse unterschwellig wirksam. Über 200 Jahre lang war Japan isoliert (1639-1868). Es gab so gut wie keinen Austausch mit dem Rest der Welt. Von den wissenschaftlich-technologischen Fortschritten, die den westlichen Ländern die Industrielle Revolution bescherten und sie unaufhaltsam weitertrieben, blieb Japan völlig unbehelligt. In den 200 Jahren der Isolation gab es so gut wie keinen technologischen Fortschritt. Als sich Japan 1868 wieder der übrigen Welt öffnete, war es ein reines Agrarland. 80% der Bevölkerung waren Bauern, der Rest verteilte sich auf die übrigen Stände: Samurai, Handwerker, Kaufleute. Aber auch wenn nach westlichen Massstäben, Japan ein rückschrittliches Land gewesen sein mag, trifft dies eben nur im Bereich technologischer Entwicklung zu. Die Japaner sind ein ungemein wissbegieriges, lernfreudiges Volk. Sie nutzten die Zeit des technologischen Stillstands für Bildung und kulturelle Verfeinerung. Es entstanden private Schulen, terakoya genannt, die eifrig besucht wurden und für eine hohe Ausbildung breiter Schichten sorgten. Zum Ende der Edo-Zeit 1868 hatten etwa 40% der männlichen und 20% der weiblichen Bevölkerung eine terakoya besucht und konnten Lesen und Schreiben. Im Vergleich dazu hatten zu dieser Zeit in England, dem damals industriell fortgeschrittensten Land, nur etwa 20% der Männer und keine Frauen eine Schulbildung genossen. Ein überdurchschnittliches Bildungsniveau ist auch heute noch Standard in Japan.

Ganz sicher aber sind unterschiedliche historische Entwicklungen und geistige Wurzeln verantwortlich für die Setzung anderer Akzente im Umgang mit den Dingen der Wirklichkeit. Der amerikanische Japanologe Boye Lafayette De Mente, der viele Jahrzehnte in Japan gelebt hatte, meinte:

"Für einen logisch denkenden Menschen des Westens gibt es wahrscheinlich nichts Irritierenderes als mit Menschen - umso mehr mit einem ganzen Volk - zu tun zu haben, die sich nicht in einer »vernünftigen« Weise verhalten. Für westliche Menschen sind Leute, die ihren Gefühlen erlauben, einen wesentlichen Teil ihres Verhaltens zu bestimmen, suspekt und sie vertrauen ihnen nichts Wichtiges an. Wenn Emotionalität ein ziemlich niedriges Niveau übersteigt, betrachten wir es im Westen bereits als krank. [...]
Vielleicht war es eine Kombination von Shintoismus und Zen-Buddhismus, die die Japaner befähigte, sowohl im Bereich der Gefühle als des Verstandes zuhause zu sein, wobei das Gefühl nicht selten den Verstand überrollt. Mit dem Zen-Faktor im japanischen Denken haben sie einen beträchtlichen Vorteil in der Fähigkeit, zwischen Wirklichkeit und dem Unwirklichen oder der Phantasie zu unterscheiden. Das Zen-Auge blickt durch die Fassade direkt ins Herz der Dinge."(7)

Hier mag der Schlüssel liegen für die gegenseitige Anziehungskraft zwischen Michael Ende und den Japanern. Phantasie, das freie Fliessen der Assoziationen ist eine Methode, sich von eintrainierten Denkmustern, von Vorurteilen zu lösen, neue Denkmöglichkeiten zu ergründen. Eintrainierte Denkmuster geben Sicherheit aber sie können auch eine Fessel sein, die Dinge so zu sehen, wie sie sein sollen und nicht, wie sie wirklich sind. Phantasie löst die festgefahrenen Denk- und Wahrnehmungsmuster auf, aber dies stellt auch eine Bedrohung der Sicherheit dar. Vor dem Hintergrund irrealer Phantasie kann sich die Realität klarer abheben und gibt neue Sicherheit. Plötzlich werden Feinheiten der Realität wahrnehmbar, die mit den Augen einer voreingestellten Wahrnehmung nicht gesehen werden konnten. Wissenschaft ist die Neugier für das, was »die Welt im Innersten zusammenhält«, die Erkenntnis von der Beschaffenheit der äusseren Welt, die nicht Ich ist. Kunst ist die Sehnsucht nach Einheit mit der Welt, die Trennung von Ich und Nicht-Ich aufzuheben. Der Wissenschaftler, dessen Blick auf die äussere Wirklichkeit gerichtet ist, kämpft mit den Tücken seiner subjektiven Befindlichkeit, seinen Stimmungen und Launen, die die klare Wahrnehmung zu stören scheinen. Der Künstler kämpft mit den Tücken des äusseren Objekts, die dem Ausdruck seiner inneren Phantasie zu widerstehen scheint. Beide, Wissenschaftler und Künstler, wenn sie sich redlich um Verfeinerung ihrer Methoden bemühen, werden sich schliesslich begegnen.

Beide Bereiche, Wissenschaft und Kunst, sind die beiden Seiten des Ganzen. Es ist wohl kein Geheimnis mehr, dass der wissenschaftliche Weg, überwiegend der Weg des Westens war und der künstlerische Weg, der des Ostens. Japan, eine Kultur des Ostens und von daher eher der Kunst zugeneigt, hat sich sehr erfolgreich mit den Errungenschaften des Westens auseinandergesetzt und gleichzeitig gezeigt, wie wertvoll dabei die Errungenschaften des Ostens sind. In einer Welt, die durch Kommunikationstechnologien immer kleiner wird und die Menschen sich immer näher kommen, muss ein Weg gefunden werden, wie die beiden Bereiche von Kunst und Wissenschaft gleichberechtigt zusammengeführt werden können. Dies ist die Kulturfrage, von der Ende zu Anfang sprach, und die seiner Ansicht nach nicht gelöst werden kann, wenn nicht gleichzeitig oder besser schon vorher die Geldfrage gelöst wird.


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Anmerkungen:

Soweit nicht anders vermerkt, sind alle Zitate von Michael Ende Transkripte von dem japanischen Video "Ende no yuigon", die für die schriftliche Wiedergabe leicht redigiert wurden.

(1) Aus einem persönlichen Brief von Michael Ende an Werner Onken

(2) Anekdote aus "Phantasie, Kultur, Politik", 1982; s.a. Yasuyuki Hirota, "Michael Endes Sicht der Ökonomie"

(3) Aus dem NHK-Programm "Einstein Roman 6: Ende's Civilization Desert", 1991

(4) Hans Christoph Binswanger, "Geld und Magie. Deutung und Kritik der modernen Wirtschaft." Edition Weitbrecht, Stuttgart 1985

(5) Aus einem Interview mit der Zeitschrift esotera, 12/1988

(6) In einem Beitrag von Atsunori Kawamura aus dem Buch "Ende no yuigon", NHK-Shuppansha, Tokyo 2000

(7) Boye Lafayette De Mente, "NTC's Dictionary of Japan's Cultural Code Words", National Textbook Company, Lincolnwood, Ill., USA, 1994

Mein besonderer Dank gilt Frau Junko Murayama (NHK) und Herrn Eiichi Morino (Gesell Research Society Japan), ohne deren freundliche Unterstützung dieser Aufsatz nicht möglich gewesen wäre.