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Auszug aus: John Maynard Keynes:

Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes

(in der Übersetzung von Fritz Waeger)
Siebente Auflage, Unveränderter Nachdruck der 1936 erschienen 1. Auflage
Duncker & Humblot, Berlin; 1994
ISBN 3-428-07985-X
Seite 298 ff

 



VI.
 
Es ist zweckmäßig, an dieser Stelle den seltsamen, zu Unrecht über-
sehenen Propheten Silvio Gesell (1862 - 1930) zu erwähnen, dessen Werk
Einfälle tiefer Einsicht enthält und der nur gerade eben verfehlte, bis
zum Kern der Sache vorzudringen. In den Nachkriegsjahren bombar-
dierten mich seine Anhänger mit Exemplaren seiner Werke; aber wegen
gewisser offenkundiger Mängel seiner Beweisführung verfehlte ich voll-
ständig, ihre Vorzüge zu entdecken. Wie so oft im Falle unvollkommen
analysierter Eingebungen wurde ihre Bedeutung erst augenscheinlich,
nachdem ich meine eigenen Folgerungen auf meine eigene Art erreicht
hatte. Wie andere akademische Ökonomen, behandelte ich inzwischen
seine tief originellen Bestrebungen als nichts Besseres als die eines Über-
spannten. Da die Bedeutung Gesells voraussichtlich wenigen Lesern
dieses Buches sehr vertraut sein wird, will ich ihm einen sonst unver·-
hältnismäßig großen Platz einräumen.


Gesell war ein erfolgreicher deutscher Kaufmann in Buenos Aires,
der durch die Krise der späten achtziger Jahre, die in Argentinien be-
sonders heftig war, zur Erforschung der geldlichen Probleme geführt
wurde. Sein erstes Buch, "Die Reformation im Münzwesen als Brücke
zum sozialen Staat", wurde 1891 in Buenos Aires veröffentlicht. Seine
grundlegenden Anschauungen über das Geld wurden im gleichen Jahr
in Buenos Aires unter dem Titel "Nervus rerum" veröffentlicht, und es
folgten viele Bücher und Flugschriften, bis er sich 1906 als wohlhabender
Mann in die Schweiz zurückzog, in der Lage, die letzten Jahrzehnte
seines Lebens den köstlichsten Beschäftigungen zu widmen, die jenen,
die ihren Unterhalt nicht zu verdienen brauchen, offenstehen, nämlich:
Schriftstellerei und experimentelle Landwirtschaft.


Der erste Teil seines Standardwerkes wurde 1906 in Les Hauts
Geneveys in der Schweiz unter dem Titel "Die Verwirklichung des Rechtes
auf den vollen Arbeitsertrag" veröffentlicht und der zweite Teil 1911 in
Berlin unter dem Titel "Die neue Lehre vom Zins". Beide Teile zusammen
wurden in Berlin und in der Schweiz während des Krieges (1916) ver-
öffentlicht und erreichten eine sechste Auflage während seines Lebens
unter dem Titel "Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und
Freigeld"
. Die englische Ausgabe (übersetzt von Mr. Phillip Pye) erschien
unter dem Titel "The Natural Economic Order". Im April 1919 trat Gesell
dem kurzlebigen Sowjet-Kabinett Bayerns als dessen Finanzminister
bei und wurde danach vor ein Kriegsgericht gestellt. Das letzte Jahr-
zehnt seines Lebens wurde in Berlin und in der Schweiz verbracht und
der Propaganda gewidmet. Gesell zog die halbreligiöse Verehrung auf
sich, die früher Henry George umgab, und wurde der verehrte Prophet
eines Kultus mit Tausenden von Anhängern in der ganzen Welt. Die
erste internationale Zusammenkunft des schweizerischen und deutschen
Freiland-Freigeld-Bundes und ähnlicher Organisationen aus vielen
Ländern wurde 1923 in Basel abgehalten. Nach seinem Tode 1930 wurde
ein großer Teil der besonderen Art von Schwärmerei, die Doktrinen wie
die seine hervorrufen können, auf andere (nach meiner Ansicht weniger
bedeutende) Propheten gelenkt. Dr. Büchi ist der Führer der Be-
wegung in England, aber ihre Literatur scheint von San Antonio, Texas,
verbreitet zu werden. Ihre Hauptstärke liegt heute in den Vereinigten
Staaten, wo Professor Irving Fisher, als einziger unter den akademi-
schen Ökonomen, ihre Bedeutung erkannt hat.


Trotz des prophetischen Schmuckes, mit dem ihn seine Verehrer aus-
gestattet haben, ist Gesells Hauptwerk in kühler, wissenschaftlicher
Sprache geschrieben, obschon es durchweg von einer leidenschaft-
licheren, einer erregteren Hingebung für gesellschaftliche Gerechtigkeit
durchströmt ist, als manche für einen Gelehrten schicklich finden. Der
Anteil Henry Georges (2), obschon ohne Zweifel eine wichtige Quelle der
Stärke der Bewegurg, ist von ganz untergeordnetem Interesse. Der
Zweck des Buches als Ganzes kann als die Aufstellung eines anti-
marxistischen Sozialismus beschrieben werden, eine Reaktion gegen das
"laissez-faire", auf theoretischen Grundlagen aufgebaut, die von jenen
von Marx grundverschieden sind, indem sie sich auf eine Verwerfung,
statt auf eine Annahme der·klassischen Hypothesen stützen, und auf
eine Entfesselung des Wettbewerbes, statt auf seine Abschaffung. Ich
glaube, daß die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von
Marx lernen wird. Das Vorwort zu "Die natürliche Wirtschaftsordnung
durch Freiland und Freigeld" wird dem Leser, wenn er es nachschlägt, die
moralische·Höhe Gesells zeigen. Die Antwort auf den Marxismus ist nach
meiner Ansicht auf den Linien dieses Vorwortes zu finden.


Gesells besonderer Beitrag zur Theorie des Geldes und der Zinsen ist
wie folgt. Erstens unterscheidet er deutlich zwischen dem Zinsfuß und
der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, und er legt dar, daß es der
Zinsfuß ist, welcher der Wachstumsrate des Realkapitals eine Grenze
setzt. Dann hebt er hervor, daß der Zinsfuß eine rein geldliche Er-
scheinung ist, und daß die Eigentümlichkeit des Geldes, von der die
Bedeutung des Geldzinsfußes herrührt, in der Tatsache liegt, daß ihr
Besitz als Mittel, Reichtum aufzuspeichern, dem Besitzer unbedeutende
Durchhaltekosten verursacht, und daß die Formen von Reichtum, wie
Vorräte von Waren, die Durchhaltekosten bedingen, tatsächlich wegen
des vom Geld gesetzten Standards einen Ertrag abwerfen. Er führt die
verhältnismäßige Beständigkeit des Zinsfußes durch alle Zeitalter als
Beweis an, daß er nicht von rein stofflichen Kennzeichen abhängen kann,
da die Schwankungen des letzteren von einem Zeitabschnitt zum andern
unberechenbar größer als die beobachteten Änderungen im Zinsfuß ge-
wesen sein müssen; das heißt (in meiner Terminologie) der Zinsfuß,
der von beständigen psychologischen Eigenschaften abhängt, ist be-
ständig geblieben, während die stark schwankenden Kennzeichen, die·
hauptsächlich die Tabelle der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals be-
stimmen, nicht den Zinsfuß bestimmt haben, sondern die Rate, zu
welcher der (mehr oder weniger) gegebene Zinsfuß dem Bestand an
Realkapital zu wachsen erlaubt.


Aber die Theorie Gesells hat einen großen Fehler. Er zeigt, daß es
nur das Bestehen eines Geldzinsfußes ist, der es möglich macht, aus
dem Ausleihen von Warenvorräten ein Erträgnis zu erzielen. Sein
Zwiegespräch zwischen Robinson Crusoe und einem Fremden (3) ist eine ganz
ausgezeichnete wirtschaftliche Parabel - so gut wie nur irgend etwas
dieser Art, was geschrieben wurde -, um diesen Punkt darzulegen.
Nachdem er aber den Grund angeführt hat, warum der Geldzinsfuß
im Gegensatz zu den meisten Warenzinssätzen nicht negativ sein kann,
übersieht er vollständig die Notwendigkeit einer Erklärung, warum der
Geldzinsfuß positiv ist, und er unterläßt es, zu erklären, warum der
Geldzinsfuß nicht durch den Standard beherrscht wird (wie dies von
der klassischen Schule behauptet wird), der vom Erträgnis produktiven
Kapitals gesetzt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, daß ihm die
Vorstellung der Vorliebe für Liquidität entgangen ist. Er hat nur eine
halbe Theorie des Zinsfußes aufgebaut.


Die Unvollständigkeit seiner Theorie ist zweifellos die Erklärung,
warum sein Werk von der akademischen Welt vernachlässigt worden
ist. Er hat aber seine Theorie trotzdem weit genug entwickelt, um zu
einem praktischen Schluß zu kommen, der den Kern dessen in sich
tragen mag, was notwendig ist, obschon er in der vorgeschlagenen Form
nicht durchführbar ist. Er legt dar, daß die Vermehrung von Real-
kapital durch den Geldzinsfuß aufgehalten wird, und daß, wenn dieses
Hemmnis beseitigt würde, die Vermehrung von Realkapital in der·
modernen Welt so rasch sein würde, daß ein Nullgeldzinsfuß wahrschein-
lich zwar nicht sofort, aber doch innerhalb einer verhältnismäßig kurzen
Zeit gerechtfertigt sein würde. Die Hauptnotwendigkeit ist somit eine
Senkung des Zinsfußes, und dies, hebt er hervor, kann dadurch erreicht
werden, daß man veranlaßt, daß das Geld Durchhaltekosten bedingt,
genau wie andere Vorräte unproduktiver Güter. Dies führte ihn zu dem
berühmten Vorschlag von "gestempeltem" Geld, mit dem sein Name
hauptsächlich in Zusammenhang gebracht wird, und der die Zustimmung
von Professor Irving Fisher erhalten hat. Nach diesem Vorschlag würden
Banknoten (obschon er sich offenbar zum mindesten auch auf einige
Formen von Bankgeld beziehen müßte) ihren Wert nur bewahren,
wenn sie jeden Monat ähnlich wie eine Versicherungskarte mit auf dem
Postbureau gekauften Marken gestempelt würden. Der Preis der Marken
könnte natürlich auf jeder angemessen Höhe festgesetzt werden. Nach
meiner·Theorie sollte er ungefähr gleich dem Überschuß des Geldzins-
fußes (von den Marken abgesehen) über diejenige Grenzleistungsfähigkeit
des Kapitals sein, die einer Rate der Neuinvestition entspricht, die
mit Vollbeschäftigung vereinbar ist. Die von Gesell tatsächlich vor-
geschlagene Gebühr war 0,1 % in der Woche, gleich 5,2 % im Jahr.
Dies würde unter bestehenden Verhältnissen zu hoch sein, aber die
richtige Zahl, die von Zeit zu Zeit geändert werden müßte, könnte nur
durch Versuch und Irrtum erreicht werden.


Der hinter dem gestempelten Geld liegende Gedanke ist gesund.
Es ist in der Tat möglich, daß Mittel gefunden werden könnten, um
ihn in bescheidenem Rahmen in der Wirklichkeit anzuwenden. Aber es
bestehen viele Schwierigkeiten, auf die Gesell nicht gefaßt war. Ins-
besondere war·er sich nicht bewußt, daß das Geld nicht einzigartig
darin ist, daß ihm eine Liquiditätsprämie anhaftet, sondern in dieser
Beziehung nur·im Grad von vielen anderen Waren abweicht, und daß
seine Bedeutung daher·rührt, daß es eine größere Liquiditätsprämie
als irgendeine andere Ware hat. Wenn den Banknoten somit durch das
Stempelsystem ihre Liquiditätsprämie genommen würde, würde eine
lange Reihe von Ersatzmitteln in ihre Fußstapfen treten - Bankgeld,
täglich abrufbare Darlehen, ausländisches Geld, Juwelen und die Edel-
metalle im allgemeinen und so weiter. Wie ich oben erwähnt habe, hat
es Zeiten gegeben, in denen wahrscheinlich die Begierde nach dem Be-
sitz von Land, ohne· Rücksicht auf sein Erträgnis, dazu beigetragen hat,
den Zinsfuß hoch zu halten; - freilich wäre nach Gesells System diese
Möglichkeit durch die Verstaatlichung des Landes ausgeschaltet worden.
 



 
(1) Geboren in der Nähe der Luxemburger Grenze, Sohn eines deutschen Vaters
und einer französischen Mutter.
(2) Gesell wich von George darin ab, daß er die Bezahlung einer Entschädigung
empfahl, wenn das Land nationalisiert wird.
(3) The Natural Economic Order, S. 297 et seq.
 
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