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(in der Übersetzung von Fritz Waeger)
Siebente Auflage, Unveränderter Nachdruck der 1936 erschienen 1. Auflage
Duncker & Humblot, Berlin; 1994
ISBN 3-428-07985-X
Seite 298 ff
Gesell war ein erfolgreicher deutscher Kaufmann
in Buenos Aires,
der durch die Krise der späten achtziger
Jahre, die in Argentinien be-
sonders heftig war, zur Erforschung der
geldlichen Probleme geführt
wurde. Sein erstes Buch, "Die Reformation
im Münzwesen als Brücke
zum sozialen Staat", wurde 1891 in Buenos
Aires veröffentlicht. Seine
grundlegenden Anschauungen über das Geld
wurden im gleichen Jahr
in Buenos Aires unter dem Titel "Nervus
rerum" veröffentlicht, und es
folgten viele Bücher und Flugschriften, bis er
sich 1906 als wohlhabender
Mann in die Schweiz zurückzog, in der Lage,
die letzten Jahrzehnte
seines Lebens den köstlichsten
Beschäftigungen zu widmen, die jenen,
die ihren Unterhalt nicht zu verdienen
brauchen, offenstehen, nämlich:
Schriftstellerei und experimentelle
Landwirtschaft.
Der erste Teil seines Standardwerkes wurde 1906
in Les Hauts
Geneveys in der Schweiz unter dem Titel
"Die Verwirklichung des Rechtes
auf den vollen Arbeitsertrag"
veröffentlicht und der zweite Teil 1911 in
Berlin unter dem Titel "Die neue Lehre vom
Zins". Beide Teile zusammen
wurden in Berlin und in der Schweiz während
des Krieges (1916) ver-
öffentlicht und erreichten eine sechste
Auflage während seines Lebens
unter dem Titel
"Die natürliche
Wirtschaftsordnung durch Freiland und
Freigeld".
Die englische Ausgabe
(übersetzt von Mr. Phillip Pye) erschien
unter dem Titel "The Natural Economic
Order". Im April 1919 trat Gesell
dem kurzlebigen Sowjet-Kabinett Bayerns als
dessen Finanzminister
bei und wurde danach vor ein Kriegsgericht
gestellt. Das letzte Jahr-
zehnt seines Lebens wurde in Berlin und in der
Schweiz verbracht und
der Propaganda gewidmet. Gesell zog die
halbreligiöse Verehrung auf
sich, die früher Henry George umgab, und wurde
der verehrte Prophet
eines Kultus mit Tausenden von Anhängern in
der ganzen Welt. Die
erste internationale Zusammenkunft des
schweizerischen und deutschen
Freiland-Freigeld-Bundes und ähnlicher
Organisationen aus vielen
Ländern wurde 1923 in Basel abgehalten. Nach
seinem Tode 1930 wurde
ein großer Teil der besonderen Art von
Schwärmerei, die Doktrinen wie
die seine hervorrufen können, auf andere (nach
meiner Ansicht weniger
bedeutende) Propheten gelenkt. Dr. Büchi ist
der Führer der Be-
wegung in England, aber ihre Literatur scheint
von San Antonio, Texas,
verbreitet zu werden. Ihre Hauptstärke liegt
heute in den Vereinigten
Staaten, wo Professor Irving Fisher, als
einziger unter den akademi-
schen Ökonomen, ihre Bedeutung erkannt hat.
Trotz des prophetischen Schmuckes, mit dem ihn
seine Verehrer aus-
gestattet haben, ist Gesells Hauptwerk in
kühler, wissenschaftlicher
Sprache geschrieben, obschon es durchweg von
einer leidenschaft-
licheren, einer erregteren Hingebung für
gesellschaftliche Gerechtigkeit
durchströmt ist, als manche für einen
Gelehrten schicklich finden. Der
Anteil Henry Georges (2), obschon ohne Zweifel
eine wichtige Quelle der
Stärke der Bewegurg, ist von ganz
untergeordnetem Interesse. Der
Zweck des Buches als Ganzes kann als die
Aufstellung eines anti-
marxistischen Sozialismus beschrieben werden,
eine Reaktion gegen das
"laissez-faire", auf theoretischen
Grundlagen aufgebaut, die von jenen
von Marx grundverschieden sind, indem sie sich
auf eine Verwerfung,
statt auf eine Annahme der·klassischen
Hypothesen stützen, und auf
eine Entfesselung des Wettbewerbes, statt auf
seine Abschaffung. Ich
glaube, daß die Zukunft mehr vom Geiste
Gesells als von jenem von
Marx lernen wird. Das Vorwort zu "Die
natürliche Wirtschaftsordnung
durch Freiland und Freigeld" wird dem
Leser, wenn er es nachschlägt, die
moralische·Höhe Gesells zeigen. Die Antwort
auf den Marxismus ist nach
meiner Ansicht auf den Linien dieses Vorwortes
zu finden.
Gesells besonderer Beitrag zur Theorie des
Geldes und der Zinsen ist
wie folgt. Erstens unterscheidet er deutlich
zwischen dem Zinsfuß und
der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, und
er legt dar, daß es der
Zinsfuß ist, welcher der Wachstumsrate des
Realkapitals eine Grenze
setzt. Dann hebt er hervor, daß der Zinsfuß
eine rein geldliche Er-
scheinung ist, und daß die Eigentümlichkeit
des Geldes, von der die
Bedeutung des Geldzinsfußes herrührt, in der
Tatsache liegt, daß ihr
Besitz als Mittel, Reichtum aufzuspeichern, dem
Besitzer unbedeutende
Durchhaltekosten verursacht, und daß die
Formen von Reichtum, wie
Vorräte von Waren, die Durchhaltekosten
bedingen, tatsächlich wegen
des vom Geld gesetzten Standards einen Ertrag
abwerfen. Er führt die
verhältnismäßige Beständigkeit des
Zinsfußes durch alle Zeitalter als
Beweis an, daß er nicht von rein stofflichen
Kennzeichen abhängen kann,
da die Schwankungen des letzteren von einem
Zeitabschnitt zum andern
unberechenbar größer als die beobachteten
Änderungen im Zinsfuß ge-
wesen sein müssen; das heißt (in meiner
Terminologie) der Zinsfuß,
der von beständigen psychologischen
Eigenschaften abhängt, ist be-
ständig geblieben, während die stark
schwankenden Kennzeichen, die·
hauptsächlich die Tabelle der
Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals be-
stimmen, nicht den Zinsfuß bestimmt haben,
sondern die Rate, zu
welcher der (mehr oder weniger) gegebene
Zinsfuß dem Bestand an
Realkapital zu wachsen erlaubt.
Aber die Theorie Gesells hat einen großen
Fehler. Er zeigt, daß es
nur das Bestehen eines Geldzinsfußes ist, der
es möglich macht, aus
dem Ausleihen von Warenvorräten ein Erträgnis
zu erzielen. Sein
Zwiegespräch zwischen Robinson Crusoe und einem
Fremden
(3) ist eine ganz
ausgezeichnete wirtschaftliche Parabel - so gut
wie nur irgend etwas
dieser Art, was geschrieben wurde -, um diesen
Punkt darzulegen.
Nachdem er aber den Grund angeführt hat, warum
der Geldzinsfuß
im Gegensatz zu den meisten Warenzinssätzen
nicht negativ sein kann,
übersieht er vollständig die Notwendigkeit
einer Erklärung, warum der
Geldzinsfuß positiv ist, und er unterläßt
es, zu erklären, warum der
Geldzinsfuß nicht durch den Standard
beherrscht wird (wie dies von
der klassischen Schule behauptet wird), der vom
Erträgnis produktiven
Kapitals gesetzt wird. Dies ist darauf
zurückzuführen, daß ihm die
Vorstellung der Vorliebe für Liquidität
entgangen ist. Er hat nur eine
halbe Theorie des Zinsfußes aufgebaut.
Die Unvollständigkeit seiner Theorie ist
zweifellos die Erklärung,
warum sein Werk von der akademischen Welt
vernachlässigt worden
ist. Er hat aber seine Theorie trotzdem weit
genug entwickelt, um zu
einem praktischen Schluß zu kommen, der den
Kern dessen in sich
tragen mag, was notwendig ist, obschon er in
der vorgeschlagenen Form
nicht durchführbar ist. Er legt dar, daß die
Vermehrung von Real-
kapital durch den Geldzinsfuß aufgehalten
wird, und daß, wenn dieses
Hemmnis beseitigt würde, die Vermehrung von
Realkapital in der·
modernen Welt so rasch sein würde, daß ein
Nullgeldzinsfuß wahrschein-
lich zwar nicht sofort, aber doch innerhalb
einer verhältnismäßig kurzen
Zeit gerechtfertigt sein würde. Die
Hauptnotwendigkeit ist somit eine
Senkung des Zinsfußes, und dies, hebt er
hervor, kann dadurch erreicht
werden, daß man veranlaßt, daß das Geld
Durchhaltekosten bedingt,
genau wie andere Vorräte unproduktiver Güter.
Dies führte ihn zu dem
berühmten Vorschlag von
"gestempeltem" Geld, mit dem sein Name
hauptsächlich in Zusammenhang gebracht wird,
und der die Zustimmung
von Professor Irving Fisher erhalten hat. Nach
diesem Vorschlag würden
Banknoten (obschon er sich offenbar zum
mindesten auch auf einige
Formen von Bankgeld beziehen müßte) ihren
Wert nur bewahren,
wenn sie jeden Monat ähnlich wie eine
Versicherungskarte mit auf dem
Postbureau gekauften Marken gestempelt würden.
Der Preis der Marken
könnte natürlich auf jeder angemessen Höhe
festgesetzt werden. Nach
meiner·Theorie sollte er ungefähr gleich dem
Überschuß des Geldzins-
fußes (von den Marken abgesehen) über
diejenige Grenzleistungsfähigkeit
des Kapitals sein, die einer Rate der
Neuinvestition entspricht, die
mit Vollbeschäftigung vereinbar ist. Die von
Gesell tatsächlich vor-
geschlagene Gebühr war 0,1 % in der Woche,
gleich 5,2 % im Jahr.
Dies würde unter bestehenden Verhältnissen zu
hoch sein, aber die
richtige Zahl, die von Zeit zu Zeit geändert
werden müßte, könnte nur
durch Versuch und Irrtum erreicht werden.
Der hinter dem gestempelten Geld liegende
Gedanke ist gesund.
Es ist in der Tat möglich, daß Mittel
gefunden werden könnten, um
ihn in bescheidenem Rahmen in der Wirklichkeit
anzuwenden. Aber es
bestehen viele Schwierigkeiten, auf die Gesell
nicht gefaßt war. Ins-
besondere war·er sich nicht bewußt, daß das
Geld nicht einzigartig
darin ist, daß ihm eine Liquiditätsprämie
anhaftet, sondern in dieser
Beziehung nur·im Grad von vielen anderen Waren
abweicht, und daß
seine Bedeutung daher·rührt, daß es eine
größere Liquiditätsprämie
als irgendeine andere Ware hat. Wenn den
Banknoten somit durch das
Stempelsystem ihre Liquiditätsprämie genommen
würde, würde eine
lange Reihe von Ersatzmitteln in ihre
Fußstapfen treten - Bankgeld,
täglich abrufbare Darlehen, ausländisches
Geld, Juwelen und die Edel-
metalle im allgemeinen und so weiter. Wie ich
oben erwähnt habe, hat
es Zeiten gegeben, in denen wahrscheinlich die
Begierde nach dem Be-
sitz von Land, ohne· Rücksicht auf sein
Erträgnis, dazu beigetragen hat,
den Zinsfuß hoch zu halten; - freilich wäre
nach Gesells System diese
Möglichkeit durch die Verstaatlichung des
Landes ausgeschaltet worden.
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