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Fragen der Freiheit
Heft 129, Dezember 1977
Seite 5 - 31
Eine kritische Würdigung der Geldordnung in Silvio Gesells
utopischem Barataria (Billig‑Land) (*)
I. Zweck der Parabel
Silvio Gesells utopische Parabel ist letztlich eine
Auseinandersetzung mit marxistischen Ideen. Silvio Gesell greift einmal das
Menschenbild des Marxismus und dann die marxistische Analyse an. Der Marxismus
betrachtet die Spaltung der Gesellschaft in Klassen als Folge einer bestimmten
Eigentumsform ‑ Privateigentum an den Produktionsmitteln ‑ und
leitet daraus die Ausbeutung der Arbeitenden durch die Besitzer der
Produktionsmittel ab. Silvio Gesell kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, nicht
das Eigentum an den Produktionsmitteln spalte die Gesellschaft in Klassen,
sondern eine bestimmte Geldverfassung. Hier liege der »nervus rerum«, wie
Gesell sich ausdrückt. (1)
II. Zur Person und zum Aufbau der Parabel
1. Zur Person
Zuerst
einiges zur Person von Silvio Gesell, da ich annehme, daß sein Lebenslauf nicht
allen geläufig ist. Er wurde im Jahre 1862 als siebtes Kind einer
gutbürgerlichen Familie ‑ so darf man sagen ‑ geboren. Er wanderte
im Jahre 1887 nach Argentinien aus und hat sich dort selbständig gemacht; er
ist schnell durch seine unternehmerische Tüchtigkeit wohlhabend geworden. Er
gründete eine Firma, die »Casa Gesell«, die hauptsächlich mit zahnärztlichem Zubehör
handelte ‑ ein Wachstumsberuf, würde man heute sagen.
Als
Kaufmann litt er unter den Schwankungen der argentinischen Volkswirtschaft;
zugleich fühlte er sich als Analytiker herausgefordert; er verfolgte die
Ursachen der Schwankungen und sah sie in spekulativen Manövern des
Geschäftsbankensystems begründet. Er kam zu dem Schluß, dass argentinische
Banken aufgrund einer bestimmten Geldverfassung für die Schwankungen der
argentinischen Volkswirtschaft verantwortlich seien. Er stellte dann fest, daß
dieses Phänomen nicht nur auf Argentinien beschränkt sei, sondern ein
allgemeines Phänomen darstelle. Er glaubte, daß es immer dann zu Störungen im
Wirtschaftsablauf komme, wenn einige wenige Geldhäuser dem Wirtschaftskreislauf
Geld vorenthalten könnten, also Umlaufsmittel außer Kraft setzen könnten. Dies
war seiner Auffassung nach möglich, weil das Geld nicht bloß Umlaufsmittel,
sondern zugleich auch Wertaufbewahrungsmittel sei.
Nach dieser analytischen Entdeckung widmete er sich immer
mehr seinen analytischen Ideen und den darauf gründenden politischen Zielen. Er
übergab seine Firma seinem Bruder und seinen Söhnen, siedelte in die Schweiz
über und setzte dort seine ganze Arbeitskraft zur Ausgestaltung und Verbreitung
seiner Lehre und zur Schaffung der freiwirtschaftlichen Bewegung ein.
Zwischenzeitlich, nach dem Ersten Weltkrieg, sammelte er praktische politische
Erfahrungen als Volksbeauftragter für Finanzen der ersten bayerischen
Räterepublik im Jahre 1919. Seine manchmal bitteren Erfahrungen als Finanzminister
der bayerischen Räterepublik fanden auch in seiner utopischen Parabel ihren
Niederschlag. Er starb im Jahre 1930 in Berlin.
2. Das Verhältnis der nationalökonomischen Zunft
zu Gesell
Die Wirtschaftswissenschaft hat Silvio Gesell tiefe
Einblicke in das Wesen des Geldes und des Zinses zu verdanken, jedoch ist
Silvio Gesell von der nationalökonomischen Zunft immer als Sonderling
betrachtet worden. Er war ja auch kein Professor ‑ das ist schon
verdächtig. Silvio Gesell kann sich damit trösten, daß viele bedeutende
Nationalökonomen außer Adam Smith, der Professor für Moralphilosophie war ‑
ebenfalls keine ordentlichen Professoren waren: Der Gründer der
Physiokratischen Schule, Francois Quesnay, war Leibarzt der Madame Pompadour,
David Ricardo war Börsenmakler, Karl Marx war Berufsrevolutionär und freier
Schriftsteller, John Maynard Keynes verdiente sein Geld überwiegend in der
Versicherungsbranche und spekulierte erfolgreich an der Waren‑Termin-Börse.
Schumpeter sagte einmal in einer Würdigung von Keynes, dieser habe ihm
gebeichtet, er könne es sich finanziell nicht leisten, eine ordentliche
Professur zu übernehmen. (3)
Vielleicht tröstet es Gesell, daß auch Genies, die zur
Zunft der Nationalökonomie gehören, oft verkannt werden. Das Handwörterbuch der
Staatswissenschaften hat beispielsweise der wissenschaftlichen Leistung eines
der Gründer der modernen Wirtschaftstheorie, nämlich Marie Esprit Leon Walras,
insgesamt eine halbe Spalte gewidmet. (4) Das Urteil von Joseph Schumpeter
lautet heute dagegen: »Auf dem Gebiete der reinen Theorie ist Walras meiner
Ansicht nach der größte aller Wissenschaftler« (5) Im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften stand damals (1923) lediglich:
»Walras
gehörte zu denjenigen Nationalökonomen, die die Volkswirtschaft mathematisch zu
behandeln versuchten«. Es wird Gesell trösten, daß er im heutigen
repräsentativen Nachschlagewerk, dem Wörterbuch der Sozialwissenschaften, die
fünffache Wertschätzung wie seinerzeit Walras erfährt: Ihm sind dort nämlich
insgesamt zweieinhalb Spalten gewidmet worden. (6)
Eine
ausführliche, gerechte und wohlwollend leutselige Würdigung hat Gesell in dem
wohl bekanntesten Werk des 20. Jahrhunderts, nämlich in John Maynard Keynes’
»General Theory of Employment Interest and Money« erfahren. Die Vertreter der
nationalökonomischen Zunft entschuldigen diese ausführliche Würdigung Gesells
durch Keynes damit, daß Keynes immer einen Hang zum Exzentrischen gehabt habe.
(7) Keynes schreibt im 22. Kapitel seiner »Allgemeinen Theorie« über seine
Vorgänger ‑ ein wenig aphoristisch ‑ und berichtet dann: »Es ist
passend, an dieser Stelle des seltsamen unverdientermaßen übersehenen Propheten
Silvio Gesell zu gedenken, dessen Werk Momente tiefer Einsicht zeigt und der
lediglich verfehlte, bis zum letzten Sinn der Dinge vorzustoßen« Wer das tat,
war natürlich Keynes selbst. Uneingeschränkten Respekt zollte Keynes jedoch der
sozialphilosophischen Haltung von Gesell. Er schrieb: »Ich glaube, die Zukunft
wird mehr vom Geiste Gesells als vom Geiste Marxens lernen, Das Vorwort zu 'Die
natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld' wird dem Leser die
moralische Höhe Gesells zeigen. Die Antwort auf den Marxismus ist nach meiner
Ansicht auf den Linien dieses Vorwortes zu finden« (8) Ich glaube, eine
schönere Würdigung kann sich kein Schriftsteller wünschen.
3. Zum Aufbau der utopischen Parabel
Nun zum
Aufbau der utopischen Parabel von Silvio Gesell. Sie weist Unterschiede und
Parallelen zur klassischen »Utopie«, nämlich zur »Utopia« des Thomas Morus auf.
(9) Beiden, Silvio Gesell und Thomas Morus, ist der hintergründige Humor
gemeinsam. Silvio Gesell beginnt seine Parabel mit einem Hommage, mit einer
Vorbeugung vor Thomas Morus. Der erste Satz der Parabel lautet: »Auf dem
gleichen Breitengrad wie Utopia und genau 360° ost-westlich dieser Insel liegt
die Insel Barataria«. Nun muß man
wissen, daß Utopia überhaupt nicht existiert; auch den 360. Breitengrad gibt es
natürlich nicht. »Utopia« heißt ‑ wörtlich aus dem Griechischen übersetzt
-: Unland, Nicht-Land, Nirgendwo. »Barataria«
ist die Insel »Billig‑Land; »Billig‑Land«
nicht deswegen, weil die Produzenten zu wenig für ihre Ware bekämen, sondern weil die Produktionskosten relativ gering
seien und weil man daher relativ preiswert Waren beziehen könne.
Unterschiedlich
in den beiden Utopien ist die Besiedlung. In der »Utopia« des Thomas Morus gab
es zuerst eine Urbevölkerung, Menschen, die genauso roh und ungebildet waren
wie die Menschen der Alten Welt. Diese utopische Insel, die damals eine
Halbinsel war, ist dann von König »Utopos« (König »Ohne‑Land«) und seinen
militärischen Gefolgsleuten erobert worden. Er hat sich die Ureinwohner
Utopiens unterworfen und sie dann einem Erziehungsprozeß unterzogen, also der
gewaltsame Akt der Überführung der alten Gesellschaftsordnung in eine neue. Die
Insel »Barataria« ist dagegen von 500 Kolonisten eingangs des 17. Jahrhunderts
besiedelt worden. Diese Kolonisten waren eigentlich auf dem Wege nach Amerika;
sie erlitten Schiffbruch, retteten sich aber auf eine menschenleere Insel, die
nachher »Barataria« hieß. Doch hatte die Umwelt keine Kenntnisse von der
Rettung der Kolonisten, so daß diese von der Umwelt unbehelligt ihr Gemeinwesen
aufbauen konnten.
Ähnlich
wie in der »Utopia« des Thomas Morus ist auch in Silvio Gesells Parabel die
Wahl der Eigennamen von hintergründigem Humor. Thomas Morus läßt die Erzählung
von der Insel »Utopia« von Raffael Hythlodäus vortragen. Dieser heißt, wenn wir
den Namen aus dem Griechischen übersetzen, Raffael »Schaumredner«. Dieser
berichtet also über »Utopien« mit der Hauptstadt »Amaurotum«, die am Strome
»Anydros« liegt, und mit dem Präsidenten »Ademos« an der Spitze. Der
»Schaumredner« berichtet also über das Land »Nirgendwo«, seiner Hauptstadt
»Schall und Rauch« am Flusse »Wasserlos« und über den Präsidenten »Ohne-Volk«.
Auch
Gesell bedient sich dieses Stilmittels ‑ wenn auch auf andere Art und
Weise. So läßt er die utopische Parabel durch »Juan Acratillo« in die Öffentlichkeit einführen. Wenn wir diesen
Namen aus dem Griechisch-lateinisch‑spanischen übernehmen, ist es der
»Johannes Herrschaftslos«, der über die Insel »Barataria« berichtet. Hierin
zeigt sich eine Grundströmung der Gesell'schen Parabel, nämlich ihr
anarchistischer Zug ‑ aber nicht ein Anarchismus, wie er heute allgemein
verstanden wird, als terroristischer Anarchismus, sondern ein friedlicher
Anarchismus; der Anarchismus als Versuch, die Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung wettbewerblich so zu
organisieren, daß es staatlicher
Eingriffe nicht bedürfe. So ist bei Silvio Gesell Anarchismus zu verstehen.
Im Vorwort der Parabel wird kundgetan, daß das Manuskript
von »Pedro Tramposo « in einer alten
Privatbibliothek entdeckt worden sei. Auf deutsch ist Pedro Tramposo der »Peter
Schwindler«, »Peter Lügenbold« oder »Peter von Münchhausen«. In dieser Parabel
treten als Hauptfiguren auf: Diego
Martinez, der Lehrer (ich nehme an eine Verkörperung Silvio Gesells), und
als Gegenspieler: Carlos Marquez, also
auf deutsch: Karl Marx.
Bei Thomas Morus wird der Bericht über die utopische
Insel von Raffael Hythlodäus vorgetragen ‑ Thomas Morus gibt diesen
Bericht lediglich wieder. Bei Silvio Gesell wird die Parabel über das utopische
Barataria in einer alten Privatbibliothek gefunden. Nun hat der Bücherfund
einen mythischen Stellenwert. In der Gnostik oder im frühchristlichen Ritual
wurden letzte Wahrheiten nicht durch Menschenmund ausgesprochen, sondern
verschollene Bücher wurden gefunden, in denen die letzten Wahrheiten
verzeichnet waren. Der Bücherfund ist also nichts anderes als das Entdecken
unumstößlicher letzter Wahrheiten. Eine Nebenbemerkung: Auch in den
säkularisierten religiösen Spielarten, etwa dem Marxismus-Leninismus, werden
letzte Wahrheiten nicht durch Menschenmund ausgesprochen, sondern es wird
solange gesucht, bis man bei den Propheten, also bei Karl Marx oder Lenin, eine
passende Stelle gefunden hat; also das Aussprechen letzter Wahrheiten durch das
Finden von Zitaten.
Die beiden Utopien haben gemeinsam, daß die Welt von
einem Punkte aus kuriert wird. Bei Thomas Morus ist dies die Beseitigung des
Privateigentums und der Ersatz des Ordnungsprinzips Wettbewerb durch das
Prinzip Solidarität oder Brüderlichkeit. Das Resultat ist eine Gesellschaft
absoluter Gleichheit und strengster Disziplin, die durch die Obrigkeit
gewährleistet wird. Gesell kuriert dagegen die Gesellschaft von einem anderen
Punkte aus. Der Zerfall der Gesellschaft in eine Klassengesellschaft sei keine
Folge des Privateigentums an den Produktionsmitteln, sondern eine Folge der
Ordnung oder besser: der Unordnung des
Geldwesens. Das ist der »nervus rerum«; also nicht die Abschaffung des
Privateigentums und des Wettbewerbs bringe die klassenlose Gesellschaft,
sondern im Gegenteil die Verwirklichung
des Wettbewerbsprinzips, vor allen Dingen die Verwirklichung des
Wettbewerbsprinzips in der Geld‑ und Bodenordnung. So lautet die Losung
von Gesell.
Diese Auseinandersetzung um die richtige
Gesellschaftsordnung zeigt, daß die Gesell'sche Parabel auch als eine
Abrechnung mit dem Marxismus verstanden werden kann. Daher erklärt sich auch der
zunächst unverständische Titel der Gesell'schen Parabel: »Der verblüffte
Sozialdemokrat«. Denn auch Marx und Engels waren ja Mitglieder der
Sozialdemokratischen Partei, wenngleich sich Engels über diesen Parteinamen
mokiert hat; (10) das sozialdemokratische Gedankengut war in der ersten Zeit
überwiegend marxistisch orientiert. In einem Nachdruck ist dann der Titel
geändert worden; heute heißt die Schrift: »Die Wunderinsel ‑ oder der
verblüffte Marxist«. Dieser Titel soll darstellen, daß der Marxist beim Studium
dieser Parabel öfter verblüfft ist, weil er neue, bisher übersehene Wahrheiten
entdeckt. Der Titel »Wunderinsel« trifft m. E. den Charakter dieser Parabel
nicht ganz, da Gesell keine Wunderinsel schildert, die einen neuen Menschen
voraussetzt, sondern eine Insel, die den Menschen so läßt, wie er ist, und
versucht, durch institutionelle Änderungen der Wirtschaftsordnung eine ideale
Gesellschaft zu erreichen. Insofern ist also das, was in Barataria entstanden
ist, für Gesell kein »Wunder«, sondern die Konsequenz bestimmter ordnungspolitischer Ideen.
Die zentrale Frage bei Gesell lautet: Welche
Institutionen sind geeignet, privates Handeln, gerade wenn es eigennützig ist,
in Richtung sozialer Zwecke zu kanalisieren. Gesell will nicht den Eigennutz
des Menschen durch die Erziehung des neuen Menschen abschaffen, sondern er
versucht, den Eigennutz des Menschen durch institutionelle Regelungen in
Handlungen umzumünzen, die soziale Zwecke realisieren, etwa das Gewinnprinzip
im Sinne einer optimalen Bedürfnisbefriedigung der Gesamtbevölkerung zu nutzen.
Es geht also nicht um die Abschaffung des Eigennutzens, sondern es geht um
dessen rechte, sozial erwünschte Kanalisierung.
Wiederum eine Nebenbemerkung: Paradox ist, daß diejenigen
Sozialphilosophen den Wettbewerb und den Eigennutz als Ordnungsprinzipien
akzeptierten, die gütige und hilfsbereite Menschen waren, wie etwa David Hume,
Adam Smith, John Stuart Mill, Ricardo, Malthus oder auch Silvio Gesell;
diejenigen dagegen, die eine Gesellschaft auf den ordnungspolitischen
Prinzipien »gemeinschaftliche Planung, Gemeinnützigkeit und Brüderlichkeit«
aufbauen wollen, waren in der Regel mißtrauisch, brutal, herzlos und
rücksichtslos wie Robbespierre, Marx, Lenin, Trotzky oder Stalin.
Nun zur Analyse der utopischen Parabel von Gesell selbst.
Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Baratonen, wie wir die Bewohner der Insel »Barataria« nennen
wollen, durchläuft insgesamt drei
Stadien: zuerst das Stadium der kommunistischen
Gesellschaftsordnung ‑
gemeinschaftliche Planaufstellung, gemeinschaftliches Eigentum und
gemeinschaftliche Verantwortung; dann das Entstehen der idealen Wirtschaftsordnung, das Aufblühen der Insel Barataria durch die
Etablierung einer richtigen Geldordnung; und schließlich der Niedergang des Gemeinwesens durch
geldpolitische Experimente.
III. Kritik der kommunistischen
Gesellschaftsordnung auf Bataria
Zunächst zur Phase der kommunistischen
Gesellschaftsordnung auf der utopischen Insel Barataria. Zu Anfang betrieben
die Baratonen ihre Wirtschaft kommunistisch; jedoch nicht lange, so berichtet
unser Chronist Juan Acratillo. Der Lehrer Diego Martinez habe eines Tages die
Kolonisten zusammengerufen und ihnen folgendes aus den bisherigen Erfahrungen
unterbreitet: Der Kommunismus habe zwar mehr geleistet, als sie erwarten
durften; jedoch leiste er nicht das, was man von der vollen persönlichen
Freiheit, Unabhängigkeit und Selbständigkeit erwarten dürfe; so wie uns das
Hemd näher sei als der Rock, so sei es auch mit Egoismus und Altruismus; der
Selbsterhaltungstrieb werde immer über den Arterhaltungstrieb siegen. Die
Konsequenz der Annahme, daß man den Arterhaltungstrieb über den
Selbsterhaltungstrieb stellen kann, führt unweigerlich dazu, den Menschen so zu
erziehen, daß er den Arterhaltungstrieb höher schätze. Alle kommunistischen
Gesellschaftsordnungen müssen zunächst einmal eine Erziehungsdiktatur
durchlaufen, sie sind auf die ideologische Indoktrination angewiesen. Doch
zeigen die Erfahrungen der sich kommunistisch oder sozialistisch nennenden Staaten,
daß der Mensch, wenn er ideologisch indoktriniert wird, nicht zum neuen
Menschen wird, sondern zum geistigen und moralischen Krüppel. (11) Der Versuch,
den Eigennutz durch Erziehung abzuschaffen, führt nicht zur Beseitigung des
Eigennutzes; der Eigennutz sucht sich vielmehr andere Kanäle: Wie schlüpft man
durch die Maschen des disziplinären Obrigkeitsstaates. So hat Hedrick Smith in
seinem Erfahrungsbericht eine russische Rechtsanwältin mit dem Wort zitiert,
Durchschlüpfen sei russischer Nationalsport. (12)
Weiter sagt Diego Martinez, die Tatsache, daß alle
Verantwortung trügen, hätte die Konsequenz, daß keiner Verantwortung trüge. Verrotte das Handwerkszeug im Freien,
dann sei es nicht das persönliche Handwerkszeug, sondern das der Allgemeinheit.
Erfriere eine Erdbeerkultur, weil sie nicht sorgfältig genug abgedeckt sei,
dann wäre es nicht die eigene, sondern die der Allgemeinheit. Auch orientierten
sich die Menschen in ihrem Arbeitseifer leider nicht am Besten, sondern immer
am Langsamsten. Viele Leute versuchten immer, auf Kosten anderer Leute Fleiß
durchs Leben zu kommen. Der Einzelne sei nicht genügend motiviert, sich für die
Gemeinschaft abzuplagen.
Die Verteilung von Orden und Ehrenzeichen ist
offensichtlich nicht genug, um die Menschen zur Einhaltung der Arbeitsdisziplin
anzuhalten. Sie versuchten, wie es heute in der sozialistischen Praxis üblich
ist, durch Tricks und Fälschungen die Normen zu erfüllen; (13) wenn eine
Eierfarm beispielsweise das Soll um 20% unterschreite, dann werde nicht in die
Bücher hineingeschrieben: »Wir haben das Soll nicht erfüllt«, sondern dann
heißt es: »Soll hundert Prozent erfüllt, zwanzig Prozent Bruch«. Die
ordnungspolitische Konsequenz lautet auch in der sowjetischen Gesellschaft, daß
die Motivation richtig gesteuert werden müsse, damit Mikro- und Makro‑Rationalität
zusammenfielen ‑ Mikro‑Rationalität ist das eigennützige Interesse,
Makro‑Rationalität ist das gesamtgesellschaftliche Interesse ‑; das
heißt, man versucht Mikro‑Rationalität und Makro‑Rationalität durch
geeignete institutionelle Steuerungsmechanismen in Übereinstimmung zu bringen.
Dies ist letztlich eine Abkehr von dem Glauben an den neuen Menschen. Es ist
ein Rückgriff auf die zentrale Idee des Liberalismus, institutionelle
Regelungen einzuführen, die privates und öffentliches Interesse in
Übereinstimmung bringen. Einer der ideologischen Begründer der sowjetischen
Wirtschaftsreform von 1965, Evsey G. Liberman, schreibt dazu: »Es muß
unausgesetzt ein Mechanismus wirken, der in der Praxis bestätigt, daß die
Erfolge jedes Kollektivs und jedes Werktätigen im Interesse der Gesellschaft in
gerechter Weise moralisch und materiell entlohnt werden und daß alle auf diesem
Wege möglichen Fehler und Ungenauigkeiten und Abweichungen unter Beteiligung
der Produzenten selbst korrigiert werden«. (14) Dieses Zitat von Libermann ist
eine klare Bestätigung der Auffassung von Silvio Gesell, daß die Verantwortung
in einer kommunistischen Gesellschaft nicht unmittelbar genug ist; daher auch
der Versuch des Einbaus des Wettbewerbsprinzips in die Zentrale Planung, die
Einführung von Absatz‑ und Rentabilitätskennziffern (Stichworte:
materielle Interessiertheit oder ökonomische Hebel).
Diego Martinez wirft der kommunistischen Gesellschaft
ferner vor, daß es nicht gelinge, neue Produktionsmethoden durchzusetzen; neue
Produktionsmethodem müßten nämlich mit dem Kollektiv abgesprochen werden. Das
Kollektiv sei von Haus aus konservativ nach dem Motto: Wenn wir es bisher so
gemacht haben, warum sollten wir nicht so weitermachen? Und: Das ist doch
bisher gut gelaufen ‑ wer weiß, ob das neue ebenso gut läuft? ‑
Infolgedessen besteht immer eine Abneigung gegen Einführung von Neuerungen; der
einzelne »dynamische Unternehmer« wie Joseph Schumpeter sagen würde ‑
würde mutlos und würde nicht mehr in den Versammlungen seine neuen
produktionstechnischen oder organisatorischen Neuerungen vortragen. Diese
Analyse trifft auch auf die jetzige sowjetisch‑russische Wirtschaft zu,
die ebenfalls Schwierigkeiten hat, technischen Fortschritt durchzusetzen und
deswegen auf den Import westlicher Technologien angewiesen ist. (15)
Weiter kreidet Silvio Gesell nicht in der Parabel selbst,
sondern im Vorwort zu seiner »Natürlichen Wirtschaftsordnung« der
kommunistischen Idee die Verlogenheit der Annahme der gleichen
Einkommensverteilung an. (16) Ein kommunistisches Essential ist ja die
Gleichverteilung. Im Kommunismus, im Endstadium der Menschheit sollte dieser
Grundsatz realisiert sein: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen. Die Verteilung erfolgt in der kommunistischen Gesellschaft nicht
über den Markt, sondern über die Obrigkeit. Wenn die Verteilung in einer
Gesellschaft durch den Markt abgeschafft wird, dann schaffen wir nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern dann
schaffen wir letztlich die Privilegien‑Gesellschaft,
wo sich die Obrigkeit selbst Privilegien einräumen kann. Wenn die
»herrschende Klasse« der Privilegien‑Gesellschaft schon die Eigenschaft
des »neuen Menschen« hätte, nämlich selbstlos auf Privilegien zu verzichten und
die Güter vornehmlich denjenigen zuzuweisen, die schmutzige und harte Arbeit
verrichten, dann und nur dann wäre das Entstehen einer Privilegien‑Gesellschaft
nicht von Übel. Aber der Erziehungsprozeß hat leider auch bei der herrschenden
Klasse keine rechte Frucht getragen, denn der Weg zur sogenannten klassenlosen
Gesellschaft ist kein Weg zur Gleichverteilung, sondern ein Weg zu einer
außerordentlich differenzierten Klassengesellschaft, die man eine Vier‑Klassen‑Gesellschaft
nennen kann:
‑ Die erste Klasse, der »kommunistische Adel«, darf
sich in freier Wahl von dem nehmen, was da ist; allein für diese »Klasse« ist
der Grundsatz: »Jedem nach seinen Bedürfnissen« Wirklichkeit geworden;
‑ die zweite Klasse repräsentieren die sog.
Staatspreisträger, Partei‑ und Staatsbürokratie, verdiente Meister der
Kultur, der Wissenschaft und des Sports, die besondere Zuweisungen erhalten;
‑ die dritte Klasse hat Beziehungen zur Obrigkeit
oder zum Verkaufspersonal und kommt dann und wann in den Genuß von
Ferienreisen, in den Genuß komfortablerer Wohnungen oder anderer
Seltenheitsgüter;
- die vierte Klasse schließlich muß mit dem vorlieb
nehmen, was übrig bleibt.
Diese Entwicklung ist eine geradezu klassische
Bestätigung der Vermutung Silvio Gesells, daß es in der neuen Gesellschaft, der
kommunistischen Gesellschaft, nicht zur
Gleichverteilung komme.
Unsere Schlußfolgerung: Die Analyse und Prognose Silvio
Gesells über die kommunistische Gesellschaftsordnung ist durch die praktischen
Erfahrungen voll bestätigt worden. Auf jeden Fall leuchteten die Argumente den
Baratonen ein; sie waren bereit, ihre Wirtschaftsordnung zu ändern. Diego
Martinez schlägt ihnen die Ablösung der kommunistischen Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung durch eine marktwirtschaftlich orientierte vor. Die baratonische
Volksversammlung beschließt die Etablierung
der Marktgesellschaft.
IV. Aufblühen des baratonischen Gemeinwesens durch
Privateigentum, Wettbewerb und Schwundgeld
Zunächst wird das bisher
gemeinschaftlich genutzte Land verteilt
und zwar auf dem Wege der Versteigerung. Der schlechteste Boden wird umsonst vergeben; diejenigen, die besseren Boden haben
wollen, weil er günstiger liegt oder weil er ertragreicher ist, müssen die
monetären Äquivalente für Lage- und Qualitätsrente an einen gemeinschaftlichen
Fonds abführen; aus diesem gemeinschaftlichen Fonds werden dann soziale Zwecke
finanziert. Diese Bodenversteigerung soll gleiche Startchancen für alle
realisieren.
Das Hauptproblem für die Baratonen ist aber, daß eine
Marktgesellschaft eines universellen Tauschmittels bedarf. Wenn man unabhängig
voneinander produziert und sich aus Gründen der Kostenersparnis auf eine
bestimmte Produktion spezialisiert, müssen Waren ausgetauscht werden. Man
bedarf dann eines Mittels, das den Tausch erleichtert. Man bedarf eines
allgemein akzeptierten Tauschmittels, das
wir Geld nennen wollen.
Zunächst tauchte in Barataria die Frage auf, wie denn das
umlaufende Geld gedeckt sein sollte, da Gold in Barataria nicht vorhanden war.
Bei der Diskussion der Deckung der umlaufenden Währung zeigt sich wieder der
hintergründige Humor Silvio Gesells. Es werden zwei Vorschläge zur Deckung des
umlaufenden Geldes eingebracht: einmal » Kartoffeln« und zum anderen »Mist«.
Für Kartoffeln als Deckung spräche, daß jeder Kartoffeln
produzieren könne. Die produzierten Kartoffeln würden von der Zentralnotenbank
gegen entsprechende Quittierung entgegengenommen ‑ etwa: eingeliefert ein
Zentner Kartoffeln, zehn Zentner Kartoffeln, hundert Zentner Kartoffeln. Bei
Vorlage der Quittungen bei der Notenbank würden die entsprechenden
Kartoffelmengen wieder ausgehändigt. So besteht also volle Konvertibilität, um
einen modernen Begriff zu verwenden. Diese Kartoffelscheine laufen dann
innerhalb Baratarias als Geld um. Gegen das Deckungsmittel »Kartoffel« spräche,
daß es als Gut nicht universell genug sei, daß man einen Stoff brauche, der
universeller sei. Was aber sei universeller als Mist? Denn Mist sei derjenige
Stoff, der die Fruchtbarkeit der Erde erhöhe. Insofern sei also das Gut »Mist«
sehr viel universeller als das Gut »Kartoffeln«. Infolgedessen sollte man
»Mist« zur Deckung des umlaufenden Geldes verwenden. Die Baratonen standen also
vor der Alternative »Kartoffelwährung« oder »Mistwährung«. Die Männer
Baratarias plädierten aus währungstechnischen Gründen für die Mistwährung, die
Frauen aus ästhetischen Gründen für die Kartoffelwährung. Natürlich haben sich
die Frauen in Barataria durchgesetzt. Die Baratonen haben sich also für die
Kartoffelwährung entschieden.
Betrachten wir die Kartoffelwährung
aus systematischer Sicht, so ist folgendes bemerkenswert: Da ist einmal die
Idee der Waren-Reserve-Währung, also eine Idee, die jetzt wieder aufkommt,
nämlich daß bestimmte Waren als Deckung für umlaufende Geldmittel gelten, und
dann, womit uns ja Herr Professor Schüller bekannt gemacht hat (17) - und dies
scheint mir außerordentlich wichtig -, bei der Geldschöpfung ist nicht das
Monopolprinzip, sondern das Konkurrenzprinzip verwirklicht worden; denn jeder
kann Kartoffeln produzieren, jeder kann also Geld produzieren. Die baratonische
Kartoffelwährung ist sozusagen eine Waren-Reserve-Währung und zugleich eine
Währung, für die das Konkurrenzprinzip gilt; wer Geld brauchte, konnte
Kartoffeln anpflanzen, diese Kartoffeln bei der baratonischen Notenbank abliefern;
er erhielt dafür entsprechende Noten, die in der baratonischen Wirtschaft als
Geld umliefen.
Nun lautet der übliche Einwand gegen eine Währung, die
auf dem Konkurrenzprinzip basiere, daß sie zur Inflation tendiere. Wenn jeder
Geld schaffen könne, warum sollte er das nicht tun? Die Frage lautet also, ob
die baratonische Kartoffelwährung eine
inflationistische Komponente in sich birgt. Ob diese Vermutung richtig ist,
können wir anhand eines kleinen Modells feststellen. Wir gehen davon aus, daß
in Barataria nur zwei Produkte hergestellt werden ‑ Kartoffeln und
Getreide ‑ und daß der Arbeitsaufwand für einen Zentner Kartoffeln dem
Aufwand für einen Zentner Weizen entspricht, daß sich also ein Zentner Weizen
gegen einen Zentner Kartoffeln tauschen möge. Wenn nun die Baratonen, um über
mehr Geld zu verfügen, fünfzig Prozent ihrer Arbeitskraft zusätzlich für die
Kartoffelproduktion verwenden und entsprechend weniger für die
Weizenproduktion, dann kommt auf 1,5 Zentner Kartoffeln nur noch 0,5 Zentner
Weizen. Wenn die Baratonen dann die Kartoffeln der baratonischen Notenbank
anbieten, so bekommen sie entsprechend mehr Noten. Dieses zusätzliche Geld
stößt auf ein kleineres Getreideangebot, so daß per saldo der Getreidepreis um
das Dreifache steigen muß. Dann entdecken die Baratonen, daß es für sie
lohnender ist, Getreide anzubauen, da sie bei der Getreideproduktion das
Dreifache verdienen. Infolgedessen werden sie im nächsten Jahr die
Kartoffelproduktion entsprechend einschränken und stattdessen Weizen produzieren.
Ihren Bedarf an Kartoffeln decken sie nicht aus der laufenden Produktion,
sondern verschaffen sich die benötigte Menge durch Rückgabe der
Notenbankquittungen; das heißt der Geldumlauf wird verkleinert und das Angebot
an Getreide ist gestiegen. Der inflationäre Effekt der ersten Phase ist durch
eine entsprechende Umorientierung der Produktionsstruktur rückgängig gemacht
worden.
Es sind also in Barataria außerordentlich moderne Ideen
verwirklicht worden: Kartoffeln als Waren‑Reserve‑Währung,
das Konkurrenzprinzip bei der
Geldschöpfung und die automatische
Bremse an der Geldschöpfungsmaschine. Insofern kann man die
Kartoffelwährung als eine außerordentlich günstige und elegante Lösung des
baratonischen Währungsproblems betrachten.
Aber nach einem Jahr stellte der Notenbankleiter ‑
nämlich Diego Martinez, den man zum Notenbankleiter gemacht hatte ‑ einen
Schwund der Kartoffelreserven um 20 Prozent fest. Das hatte aber niemand
bemerkt; lediglich bei der Jahresprüfung kam heraus, daß die umlaufende Währung
nicht zu hundert Prozent in Kartoffeln gedeckt war, sondern nur noch zu 80
Prozent. Es wurde vorgeschlagen, daß man jeden baratonischen Bürger zu einer
entsprechenden Abgabe an Kartoffeln an die Notenbank veranlassen müßte, daß man
also eine Geldsteuer erheben müßte.
Dies fand aber nicht den Beifall von Diego Martinez, weil nicht alle Leute sich
des Umlaufmittels Geld bedienten, sondern die benötigten Güter in
Eigenwirtschaft produzierten; es wäre ungerecht, daß diejenigen, die mit dem
Gelde überhaupt nicht in Berührung kämen, die gleiche Steuer wie andere zahlen
müßten. Man sollte daher ein neues Deckungsmittel einführen ‑ oder:
brauchte man überhaupt ein Deckungsmittel? Wenn die Leute das Kartoffelgeld
angenommen hätten, obwohl es nicht zu hundert Prozent gedeckt gewesen sei,
würden sie dann nicht auch ein Umlaufsmittel akzeptieren, das überhaupt nicht
gedeckt sei? Reiche es nicht aus, daß ein Umlaufsmittel Tauschakte ermögliche?
Um so mehr die umlaufenden Noten zum allgemeinen Tauschmittel würden, desto
entbehrlicher werde die Deckung. „Das Geld braucht an sich gar keine Deckung.
Seine Verwendung, seine Nützlichkeit als Tauschmittel muß vollkommen genügen,
um die Nachfrage nach diesem Geld zu erzeugen. Und mehr Deckung braucht keine
Ware als Nachfrage«. Es wird also als Ersatz für die Kartoffelwährung letztlich
eine stoffwertlose Währung vorgeschlagen.
Aber daran knüpfen sich zwei Fragen an: Wer produziert dieses Geld, dieses
stoffwertlose Geld, und wie wirkt sich die Abschaffung des Konkurrenzprinzips
aus?
Eine Frage an das Publikum: Haben Sie die Sache mit dem
stoffwertlosen Geld gänzlich verstanden? Kaum ‑ das macht aber nichts;
denn auch die Baratonen haben da nicht ganz durchgeblickt.
Deswegen hat Diego Martinez eine andere Lösung des
Währungsproblems vorgeschlagen, die leichter in die baratonischen Köpfe ginge;
denn eine Volksversammlung solle nichts beschließen, was sie nicht restlos
überblicken könne. Daß dadurch manch vernünftiger Vorschlag nicht verwirklicht
werden könne und stattdessen schlechtere Lösungen akzeptiert werden müßten, sei
dann eben hinzunehmen. Alles in der Welt habe seinen Preis ‑ auch die
Demokratie. »Fiat democratia et pereat mundus«, läßt Gesell seinen Diego
Martinez in Abwandlung einer bekannten Sentenz sagen.
Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß die
Maxime, jede Versammlung solle nur das verabschieden, was sie gänzlich
verstanden habe, außerordentlich viel für sich hat, da sich dann der
intellektuelle »Windbeutel« mit seinen Vorschlägen nur schwer durchsetzen kann.
Viele der derzeitigen Übel bei uns und anderswo wären dann nicht entstanden.
Auch Silvio Gesell beschreibt die Vorteilhaftigkeit eines solchen Grundsatzes
sehr klar. Leider haben sich die
Baratonen an diesen Grundsatz bei der Behandlung der Anträge des Carlos Marquez
nicht gehalten, was ihnen, wie wir noch sehen werden, schlecht bekommen ist.
Diego Martinez hält sich jedoch an diesen Grundsatz und
schlägt statt des stoffwertlosen Geldes ein Umlaufsmittel vor, das stofflichen
Charakter, aber keinen Wert an sich hat und bei dem sich nicht die Problematik
des Schwundes der zentralen Währungsreserven, die bei der Zentralnotenbank
lagern, ergibt. Auf der Insel Barataria, so führt Diego Martinez aus, gebe es
einen einzigen Baum, der geschmacklose und wertlose Nüsse liefert, die Kinder
brauchten sie allenfalls für ihre Murmelspiele. Dieser Baum, der Pinus moneat (18) oder auf deutsch: die Geldkiefer, solle jetzt die
Zentralnotenbank ersetzen. Er schlägt folgendes Umtauschverhältnis vor: Ein
Zentner Kartoffeln entspreche einem Pfund Nüsse des Pinus moneta. Die Preise in Barataria tauschen sich dann
entsprechend dem Gewicht der Nüsse: ein Gramm Nuß, fünf Gramm Nüsse, zehn Gramm
Nüsse usw. Die Preise für baratonische Güter werden im Gewicht der Früchte des Pinus moneta ausgedrückt.
Als Deckung für die umlaufenden Nüsse schlägt in der
Volksversammlung Carlos Marquez, der sich als der Gegenspieler von Diego
Martinez entpuppt, die verfaulten Kartoffeln, die in den Kellern der Notenbank
lagerten, vor; denn die „wertlosen« Nüsse des Pinus moneta, deren Produktion keine menschliche Arbeit gekostet
hätte und die keine »Arbeitsgallerte« vorstellten, könnten nur durch den auf
sie „übertragenen Wert« der Kartoffeln als Geld gelten. »Das Geld kann nur den
Wert eintauschen, den es selber hat«, so sagte Carlos Marquez. Auch wenn die
Kartoffeln vollständig verfaulten, so schade das nichts, da der Wert, den diese
durch die aufgewandte Arbeitszeit in sich bürgen, »nach Abstraktion aller
körperlichen Eigenschaften« verbleibe und auf die Nüsse des Pinus moneta übergehe. (Wie man leicht
erkennen kann, verspottet Silvio Gesell hier die Marx'sche Arbeitswerttheorie.)
Da die Baratonen kein Wörtchen von den Ausführungen des Carlos Marquez
verstanden, so fährt Gesell fort ‑ auch dies wieder ein Seitenhieb gegen
Marx und die schwer verdauliche Kost, die er dem Leser zumutet ‑, so
wurde der Vorschlag in der baratonischen Volksversammlung einstimmig
angenommen.
Wichtig ist, daß bei Geltung der Nüsse des Pinus moneta nicht nur der
Stoffwertcharakter der Währung aufgehoben ist, sondern auch das Konkurrenzprinzip durch das
Monopolprinzip ersetzt worden ist. Denn nun kann nicht jeder mehr nach
eigenem Gutdünken Geld produzieren, sondern es gibt einen Monopolisten in der
Geldschöpfung, nämlich den Pinus moneta. Doch
ist die Geldschöpfung nicht diskretionärer Politik überlassen, sondern es gibt
für die Geldversorgung strikte Regeln; man würde heute sagen: Der Ansatz von
Silvio Gesell ist regelgebunden.
Wie wollen wir nun diese neue Währung des Pinus moneta nennen? Nicht »Moneten«,
weil damit ja jegliches Geld gemeint sein könnte. Ich schlage stattdessen einen
rheinischen Dialektausdruck für Geld vor, der sich vielleicht sogar von „Pinus«
ableitet. Ich schlage vor, dieses Geld auf Barataria »Pinunzen« zu nennen. Der
Ausdruck »Pinunzen« stammt nicht von Silvio Gesell; das ist mein eigener
schöpferischer Beitrag zur utopischen Parabel von Silvio Gesell.
Dieses Geld, die
Pinunzen, haben eine weitere sehr wichtige Eigenschaft: Ihr Gewicht geht
jährlich um 10% zurück, das heißt 10 Pfund Nüsse am Jahresanfang wiegen am
Jahresende nur noch 9 Pfund. Die Pinunzen unterliegen einem kontinuierlichen
Schwund; wir haben sozusagen ein stoffliches Schwundgeld vor uns. Diego Martinez schlägt nun vor, und die
Volksversammlung nimmt diesen Vorschlag an, daß zu Beginn eines jeden Jahres
die Notenbank diese 10% Gewichtsverlust aus der laufenden Produktion des Pinus moneta ersetzt, indem sie Waren
kauft oder Dienstleistungen nachfragt. Wenn wir dies jetzt aus
volkswirtschaftlicher Sicht werten, so liegt eine Einkommensumverteilung vor,
denn das Gemeinwesen kauft am Anfang jedes Jahres durch die Notenbank zehn
Prozent des Bruttosozialprodukts. Das heißt, der Schwund der Pinunzen ist
nichts anderes als eine Steuer. Schwundgeld oder Inflation kann als eine Steuer
betrachtet werden, aber nicht ‑ wie heute ‑ außerhalb, sondern
innerhalb der Legalität. Denn es ist ja so durch demokratischen Beschluß
akzeptiert worden, daß der Wert des Geldes jedes Jahr um 10 Prozent schwindet
und daß der Staat diesen Schwund durch Kauf von Gütern wieder auffüllt. Jedes
Jahr kann der Staat 10% des Bruttosozialprodukts in Anspruch nehmen und
beispielsweise Infrastrukturobjekte finanzieren.
Der Schwundgeldcharakter der Pinunze hat noch eine
weitere äußerst wichtige Konsequenz: Darlehen
werden in Barataria zinslos
vergeben ‑ nicht, weil die
Baratonen so viel anständiger sind als wir, sondern weil sie ein Interesse
daran haben, ihr Geld loszuwerden; denn wenn das Halten von Geld mit einem
Schwund von 10% bestraft wird, dann ist es günstig, jemanden zu finden, der die
Aufbewahrung übernimmt und die Kosten des Schwundes trägt. Derjenige, der
Kredite aufnimmt, erleidet keinen Verlust, da er das aufgenommene Geld sofort
wieder in den Kreislauf bringen kann, also relativ wenig vom Schwund des Geldes
betroffen ist. Insofern hat also der Schwund der Pinunzen die Konsequenz, daß
Darlehen zinslos gewährt werden. Nun, wenn wir ganz korrekt sind, dann muß man
feststellen, daß derjenige, der Darlehen gibt, doch einen Zins erhält; denn er
wird von der Steuer, der 10%igen Steuer an den Staat, ausgespart. Wenn er 100
Pinunzen Anfang des Jahres hat und im nächsten Jahr den Gegenwert von 100
Pinunzen erhält, dann hat er keine Steuer an den Staat bezahlt. Wir können die
Vermeidung der 10%igen Steuer als Zins auffassen.
Nun, die Konsequenzen der baratonischen Geldordnung waren
sehenswert, sehenswert insofern, als diese Insel schnell aufblühte. Dabei gab
es nicht den Effekt der Spaltung in Arme und Reiche. Aber Sie wissen aus der
geschichtlichen Erfahrung: Je wohlhabender ein Volk ist, desto mehr neigt es zu
Experimenten. Oder in der Sprache des Volksmundes: Wenn's dem Esel zu wohl
geht, dann geht er auf's Eis. So auch die Baratonen.
V. Niedergang des Gemeinwesens durch eine Änderung
der Bemessungsgrundlage ‑ vom Gewicht zum Hohlmaß
Eines Tages trat in der Volksversammlung der Carlos
Marquez auf und sagte, er hätte zwar vermutet, daß die Änderung der
Wirtschaftsordnung zu Krisen und Stockungen geführt hätte; das sei zwar nicht
eingetreten, aber es sei doch ungünstig, daß die Baratonen, wenn sie ihr Geld
zuhause aufbewahrten, einen Schwund hinnehmen müßten; dieser Schwund des Geldes
führte dazu, daß sie immer sofort Waren kaufen und sich große Warenläger
anlegen müßten. Es wäre doch sehr viel bequemer, wenn sie jetzt nicht Waren als
Reserven zuhause aufbewahrten, sondern ihre Pinunzen in kleinen Säckchen. Das
wäre praktischer und würde weniger Platz brauchen, den man anderweitig benutzen
könnte ‑ als Freizeiträume zum Beispiel. Er schlägt daher vor, den Wert
der Währung nicht mehr nach Gewicht, sondern nach Hohlmaß zu messen; denn die
Pinunze verliere jährlich 10% Gewicht, doch bleibe das Volumen der Pinunze
gleich. Wenn daher der Wert des Geldes nicht nach Gewicht, sondern nach
Hohlmaßen bemessen würde, dann gäbe es keinen Schwund des Wertes. Diejenigen,
die sparen wollten, brauchten sich nicht die Keller mit Waren vollzustopfen,
sondern könnten ihre Nußsäckchen in einen kleinen Schrank stellen.
Gegen diesen Vorschlag der Änderung der Bemessungsgrundlage
wandte Diego Martinez ein, daß die Änderung der Bemessungsgrundlage vom Gewicht
zum Hohlmaß nicht eine nebensächliche Änderung sei, sondern grundsätzlicher
Natur und den Ruin eines blühenden Gemeinwesens bedeuten könne. Er glaube, daß,
wenn jetzt das Geld als Wertaufbewahrer benutzt werden könnte, dies gravierende
Konsequenzen für die gesamte Wirtschaft habe; der einzelne würde nicht mehr
gezwungen sein, sein Geld in Umlauf zu bringen, sondern könnte das Geld zuhause
halten. Und dann, so vermutete er, könne sich die Zinswirtschaft einstellen.
Sehe der einzelne sich nicht mehr gezwungen, sein Geld in Umlauf zu bringen,
dann könne er warten; das Warten könne bedeute, daß man ihm einen Zins zahlen
müsse als Preis für den Verzicht auf Liquidität. Als abschreckendes Beispiel
verweist Diego Martinez auf ein Geschehnis des Alten Testamentes, auf das 1.
Buch Moses: Joseph als Berater des Pharao habe über die Beherrschung des
Geldwesens das ägyptische Volk in die Leibeigenschaft gezwungen. Er, Diego Martinez,
vermute, daß sich etwas Ähnliches in Barataria ereignen werde.
Aber wie schon gesagt: »Es blühe die Demokratie, wenn
auch die Welt untergehe«; die Baratonen haben sich dem Vorschlag von Carlos
Marquez Änderung der Bemessungsgrundlage ‑ einstimmig angeschlossen.
»Von nun an ging's bergab« in Barataria. Die Baratonen
wollten ihre Vorräte nicht mehr in Kellern halten, sie wollten verkaufen. Alle
Baratonen packten also ihre Warenreserven auf die Karren, fuhren zum Markt,
aber keiner wollte kaufen. Und da sagte Carlos Marquez: »Seht, ich habe es euch
immer schon gesagt, die kapitalistische Wirtschaft neigt zur Überproduktion«.
Die Baratonen zogen also unverrichteter Dinge wieder vom Markte ab. Schließlich
kam ein findiger Baratone auf die Idee, sich die Deckung der umlaufenden
Pinunzen aushändigen zu lassen. Sie wissen, das waren die verfaulten Kartoffeln
als die „kristallisierte Arbeitsgallerte«. Natürlich konnte man diesen Wert,
diese »kristallisierte Arbeitsgallerte«, nicht tatsächlich aushändigen. Infolgedessen
wurden demjenigen, der das Darlehen haben wollte, zusätzliche Nüsse gegeben.
Dies tat man deswegen, weil dieser findige Baratone den Mitbürgern klar gemacht
hatte, es sei für die Volkswirtschaft nützlich, daß für Nachfrage gesorgt sei,
er würde mit Hilfe des Kredites den Markt räumen. Er erhielt ein zinsloses
Darlehen, also der Prozeß der Kreditschöpfung auf der Grundlage der
»kristallisierten Arbeitsgallerte«. Dieser Baratone kaufte tatsächlich alle
Waren auf. Er war jetzt allein im Besitz der baratonischen Warenreserven, er
war Monopolist.
Bei der nächsten Aussaat stellten die Baratonen fest, daß
sie zwar Nüsse in ihren Vorratsschränken hatten, aber keine Früchte mehr für
die Aussaat; sie mußten ihre Früchte von dem findigen Baratonen zurückkaufen,
der ihnen teuer verkaufte, was er ihnen billig abgenommen hatte. Daraus haben
die Baratonen gelernt, sie behielten eine kleine Warenreserve als Vorrat. Doch
bei der Ernte stellten sie fest, daß dieser findige Baratone sie wieder übers
Ohr gehauen hatte; denn er hatte alle Karren und alle Säcke aufgekauft. Sie
mußten Säcke und Karren um teures Geld zurückkaufen.
Eines Tages kommt unser findiger Baratone auf die Idee,
eine Depositenbank zu gründen. Er läßt folgendes ausrufen ‑ ich zitiere
jetzt frei ‑: „Ihr Baratonen, ihr haltet eure Nüsse immer in euren
Schränken, das ist witzlos. Ich biete euch für täglich fälliges Geld 1%, für
Zwei‑Monats‑Geld 2% und für Jahresgeld 3% Zins«. Die Baratonen
waren begeistert, brachten alle ihre Nüsse zu diesem findigen Baratonen, der
jetzt nicht nur die Warenproduktion, sondern auch die Geldzirkulation
kontrollierte. Und jetzt sagte dann Carlos Marquez ‑ ich zitiere wiederum
frei ‑: „Seht ihr, ich habe es immer gewußt, dem Privateigentum an den
Produktionsmitteln ist die Mehrwert gebärende Maschine immanent, der Zins ist
nichts anderes als der monetäre Ausdruck dieser Mehrwert gebärenden Maschine,
hervorgerufen durch die private Eigentumsform an den Produktionsmitteln«.
Die Gründung der Depositenbank zeigt zweierlei: Die
Geldkontrolle wird in einer Hand konzentriert, und Kredite werden nicht mehr
zinslos abgegeben; die Baratonen erhalten jetzt einen Zins, wenn sie ihre Nüsse
zur Depositenbank bringen; daher muß derjenige, der ein Darlehen aufnehmen
will, mindestens in die Konditionen der Depositenbank eintreten. Der Geldhalter
ist nicht mehr daran interessiert, sein Geld jemandem zu geben, bloß damit der
es für ihn aufbewahrt. Die zinslose Wirtschaft in Barataria wird also durch
eine zinstragende Geldwirtschaft abgelöst.
Der Zins liegt in der unterschiedlichen Stofflichkeit von
Waren und Geld begründet. Der Warenhalter unterliegt einem Angebotszwang,
einmal weil die Waren verderben und zum anderen weil die Kosten der Produktion
ersetzt werden müssen. Wenn Lohnarbeit in die Produktion eingeflossen ist, so
entstehen stark ersatzbedürftige Kosten. Der Produzent muß seine Waren
losschlagen, um die Löhne bezahlen zu können. Der Produzent unterliegt also
einem Angebotszwang. Der Halter von Geld unterliegt dagegen keinem Angebotszwang;
er leidet nicht unter stark ersatzbedürftigen Kosten; seine Pinunzen können
nicht verderben. Die unterschiedliche Stofflichkeit ‑ Verderbnis von
Waren bzw. starke Ersatzbedürftigkeit der Kosten einerseits und unbeschränkte
Haltbarkeit des Geldes andererseits ‑führt dazu, daß der Halter von Geld
dem Halter von Waren einen Zins abpressen kann, den Urzins abpressen kann. Der
Urzins liegt darin begründet, daß die Fristigkeit bei Warenhaltern und
Geldhaltern unterschiedlich ist. Der Warenhalter ist daran interessiert, seine
Warenlager möglichst oft umzuschlagen; der Geldhalter gibt seine
Liquiditätsvorliebe dagegen nur bei einem angemessenen Zins auf. Dies ist die
Ursache des Urzinses. Der Geldhalter erpreßt ihn vom Warenhalter.
Die Folge der Änderung der Geldordnung in Barataria war
wiederum sehenswert. Das Preisniveau stieg stark an, da für das aufgenommene
Kapital, die Verwendung von Kapital im Produktionsprozeß, Zinsen gezahlt werden
mußten: Diese Zinsen drückten das Preisniveau nach oben. Ferner bestellten die
Baratonen ihre Waren nicht mehr direkt ab Werk, sondern, da sie nur noch kleine
Vorräte hielten, über Kommissionsgeschäfte. Es entstand also eine neue
Dienstleistungsstufe: der Einzelhandel. Es entstanden zusätzliche Kosten der
Verteilung. Machten vorher die Verteilungskosten ‑ vom Produzenten zum
Konsumenten ‑ nur 4% des Warenwertes aus, so stiegen diese nach
Einschaltung des Einzelhandels auf etwa 40 Prozent. (Diese Schätzung Gesells
trifft in etwa das Ausmaß der heutigen Handelsspanne.)
Weiter seien nun in Barataria ‑ so führt Gesell aus
‑ ökonomische Fragen nicht nur aus ökonomischer Sicht diskutiert worden,
sondern zusätzlich unter einem speziellen politischen Aspekt; denn derjenige,
der die baratonische Geldzirkulation kontrolliere, könne nicht mehr
vorurteilsfrei über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen ökonomischer
Vorschläge nachdenken, sondern er müßte immer prüfen, ob ein ökonomischer
Vorschlag ihm persönlich nütze oder ihn schädige. Ferner habe die
Differenzierung der Einkommensverteilung sogar letztlich eine Änderung der
Staatsform bewirkt, nämlich von einer Demokratie zu irgendeiner Form der
konstitutionellen Monarchie.
Der Schluß der utopischen Parabel bei Silvio Gesell ist einigermaßen hoffnungsvoll. Diego Martinez hat ein umfangreiches Werk ausgearbeitet, indem er die verheerende Konsequenz der Änderung der Bemessungsgrundlage ‑ vom Gewicht zum Hohlmaß ‑ aufweist; der Zins erwachse, weil die Pinunzen jetzt nicht nur Umlaufs‑, sondern auch Wertaufbewahrungsmittel seien. Der Schluß der utopischen Parabel klingt mit der Einsicht des Carlos Marquez in seinen grundlegenden Irrtum und dem Versprechen der Revision des baratonischen „Sündenfalls« aus.
VI. Kritische Würdigung
1. Das gesellschaftspolitische Leitbild Silvio
Gesells
Die Parabel vom utopischen Barataria ist grundsätzlich
eine liberale Utopie, aber, wie ich glaube, mit einer anderen Empfindlichkeit
als der der liberalen »Klassiker« ‑ als Adam Smith, als David Ricardo ‑
gegenüber privater Macht. (19) Der Liberale fürchtet ja nicht so sehr private
wie staatliche Macht; er glaubt, daß private Macht letztlich immer durch andere
private oder öffentliche Macht kontrolliert werden könne. Weiter ist die
Gesell'sche Parabel durch einen stärkeren moralischen Rigorismus gekennzeichnet;
der Charakter der utopischen Parabel Gesells ist in gesellschaftspolitischen
Fragen sehr viel strenger als die übliche liberale Auffassung: Silvio Gesell
will nicht nur eine offene Gesellschaft schaffen, sondern eine Gesellschaft mit
absoluter Startgleichheit ‑ realisiert durch ein bestimmtes Bodenrecht
und durch eine bestimmte Geldordnung. Wenn wir die Geldordnung unter dem Aspekt
der Startgleichheit sehen, so können wir sagen, daß Gesell darauf abzielt,
durch eine Änderung der Geldordnung Startgleichheit für Warenhalter und für
Geldhalter zu schaffen.
Typisch liberal ist die Auffassung, daß institutionelle
Änderungen gravierende gesellschaftspolitische Folgen haben. Es ist die
zentrale Idee der liberalen »Klassiker«, den menschlichen Eigennutz durch Aufbau
eines bestimmten institutionellen Arrangements in Richtung sozialer Zwecke zu
kanalisieren ‑ dies ist das Gleichnis der »invisible band« bei Adam
Smith. Unterschiedlich von liberaler Auffassung ist m. E. der Optimismus von
Gesell, was die Vorhersehbarkeit der gesellschaftspolitischen Folgen
institutioneller Änderungen angeht. Er glaubt, daß aus bestimmten
institutionellen Arrangements mit Sicherheit bestimmte gesellschaftspolitische
Konsequenzen erwachsen, etwa bei Revision der Bemessungsgrundlage in Barataria ‑
vom Hohlmaß wieder auf Gewicht ‑ die Rückkehr zu einer idealen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Gesell glaubt also, daß man soziale
Konsequenzen genau prognostizieren könne, wenn man bestimmte institutionelle
Änderungen durchführe. Hier ist der klassische Liberale etwas skeptischer;
dieser sagt: Wir wissen viel zu wenig über die jeweils relevanten Umstände, die
gesellschaftspolitische Maßnahmen kanalisieren. (20) Wir können nicht mit
hinreichender Sicherheit menschliches Handeln prognostizieren. Infolgedessen
können wir uns auch nicht ideale institutionelle Arrangements ausdenken, die
dann ideale gesellschaftspolitische Zustände realisieren. Der liberale
Klassiker glaubt also nicht, daß durch menschliche Erfindung ideale
Gesellschaften geschaffen werden können: Der Liberale ist vielmehr der
Auffassung, daß der Zufall sehr viel dazu beitrage, eine menschenwürdige
Gesellschaft zu realisieren.
Ordnet man den Ansatz von Silvio Gesell in die
sozialphilosophische Ideengeschichte ein, dann könnte man eine Verwandtschaft
seines Ansatzes mit dem von Aristoteles sehen. Aristoteles glaubte, daß durch
institutionelle Vorkehrungen der menschliche Eigennutz für gesellschaftlich
nützliche Ergebnisse eingespannt werden könne. Aristoteles unterschied zwei Arten
des »Nomos« ‑ staatlich gesetztes Recht (thesei) und natürliches Recht
(physei). Der Liberale ist der Auffassung, daß es nicht nur diese Polarität ‑
Physei und thesei ‑ gebe, sondern daß es noch ein drittes gebe, nämlich
die Findung einer menschenwürdigen Gesellschaft durch das Prinzip von »Versuch
und Irrtum«, durch das Prinzip des Ausscheidens aus Erfahrung. Gesetze seien
nicht so sehr Frucht planender Vernunft, sondern »Artefakt« der menschlichen
Entwicklung. (21) Das, was sich als schädlich erwiesen habe, sei ausgesondert
worden, übrig sei das Nützliche geblieben. Der Zufall sei sehr viel findiger
als die menschliche Vernunft.
Ich glaube, daß Gesell eher dem aristotelischen Ansatz
zuzuordnen ist, daß er glaubt, menschliche Vernunft könne eine ideale
Gesellschaft konstituieren.
2. Von Aristoteles' Zinsverbot zu Gesells Urzins
Weiter glaube ich, daß bei Silvio Gesell die theoretische
Analyse durch Normen beeinflußt worden ist, daß er ein bestimmtes Vorurteil
hat, ein Vorurteil, das ich persönlich sehr sympathisch finde und das überdies
auch ein »klassisches« Vorurteil ist: das Vorurteil gegen eine Wirtschaft, die
auf Gelderwerb gerichtet ist. Es ist das Mißtrauen gegenüber dem Geldhändler,
gegenüber dem Wechsler, gegenüber dem Händler überhaupt. Dieses Vorurteil
stellt sich andererseits als Vertrauen gegenüber dem Produzenten dar, ob es nun
der Produzent von Waren ist oder der Produzent von Ideen, der Erfinder. Ich
glaube, daß auch Silvio Gesell ‑ ohne dies ausdrücklich zu sagen ‑
unterscheidet zwischen »schaffendem, produzierendem Kapital« einerseits und
„raffendem Kapital« andererseits. Dies ist ein altes Vorurteil, das uns schon
im Mythos begegnet. Wir wissen, daß die Griechen in dem Gott »Hermes« nicht nur
den Gott der Kaufleute, sondern auch den Gott der Wegelagerer und der Diebe
sahen.
Diese Abneigung gegenüber dem »raffenden Kapital« führte
auch dazu, daß Aristoteles keinen Zins gelten lassen wollte. Geld vermittele
lediglich Tauschakte. Geld sei dazu da, die Arbeit des einen Menschen gegen die
Arbeit des anderen Menschen auszutauschen. Es entspreche menschlicher
Bestimmung, daß man in seinem Beruf aufgehe, nicht aber, daß man Geld raffe.
Aufgabe des Arztes sei zu heilen, nicht aber sein Bankkonto zu erhöhen oder
aber in Abschreibungsgesellschaften zu investieren. Aufgabe des Schusters sei,
Schuhe zu produzieren, nicht aber Geld anzuhäufen. Wenn jemand Geld anhäufe,
dann sei er einmal auf die Übervorteilung des Handelspartners aus oder er werde
seiner eigentlichen Bestimmung, einen Beruf auszuüben, nicht gerecht. Daraus
folgert Aristoteles, daß solch unrechtmäßig zusammengerafftes Kapital nicht
auch noch Zinsen abwerfen könne.
Das Zinsverbot des Aristoteles ist im Mittelalter von
Thomas von Aquin aufgenommen worden. Thomas von Aquin hat die aristotelische
Begründung etwas umformuliert; er sagte: Geld gehe nach der Aufnahme von
Krediten unter, weil Waren gekauft würden, die für den Lebensunterhalt benötigt
würden. Weil aber Geld beim Konsumakt untergehe, könne es keine Zinsen bringen.
Darauf baute dann das kanonische Zinsverbot des Mittelalters auf, das für die
katholische Kirche, nebenbei gesagt, außerordentlich nützlich war, da diese im
Mittelalter der größte Schuldner gewesen ist.
Gleichwohl entstanden aber trotz des kanonischen
Zinsverbotes funktionierende Geldmärkte; die Spät‑Scholastiker haben dann
„Kapital« anders interpretiert, nicht mehr als Darlehen für konsumtive Zwecke,
sondern als Darlehen für investive Zwecke; Geld sei nicht bloß eine
Möglichkeit, um Krisen bei der Nahrungsmittelversorgung zu überwinden, sondern
sei ein unabdingbares Mittel, um Produktion zu ermöglichen, um Schiffe zu
kaufen beispielsweise. Geld sei also das Werkzeug des Kaufmanns und gehe beim
Produktionsakt nicht mehr unter, sondern bleibe erhalten; deswegen sei es notwendig
und billig, Zinsen zu zahlen und zu nehmen.
Der Unterschied zwischen Aristoteles, Thomas von Aquin
und Gesell scheint mir darin zu liegen, daß Silvio Gesell den Zins nicht
gänzlich abschaffen will, sondern offensichtlich nur den Urzins, der aus der
unterschiedlichen Fristigkeit von Waren‑ und Geldkapital herrühre. Denn
es ist eindeutig, daß Zinseinnahmen keine leistungslosen Einnahmen sind,
sondern daß die Hergabe von Kapital Fortschritte im Wirtschaftsprozeß
ermöglicht. Dies möchte ich Ihnen anhand einer kleinen Parabel von Eugen von
Böhm-Bawerk erläutern.
Böhm-Bawerk verdeutlicht die zentrale Idee seines Werkes
»Kapital und Kapitalzins« anhand der Romanfigur »Robinson Crusoe«, der auf
seiner Insel gerade sein Existenzminimum durch Fischfang friste; er müsse
mühselig die Fische mit der Hand fangen; er wisse aber, daß er, wenn er Angeln
produzieren könnte oder irgendein anderes Fanggerät, die Produktivität seiner
Tätigkeit enorm steigern könnte; er könne dies aber nicht tun, weil er täglich
gerade die zu seiner Existenz notwendigen Subsistenzmittel sich beschaffen
könne; eines Tages beschließt er zu hungern, das heißt seinen Hunger nicht
gänzlich zu stillen, sondern immer etwas von seinen Subsistenzmitteln beiseite
zu legen. Wenn er bisher fünf Fische pro Tag gegessen hatte, ißt er jetzt nur
noch vier Fische und legt einen Fisch zurück. Er sammelt sich also einen Vorrat
an Waren an oder ‑ in der Sprache Böhm‑Bawerks ‑ einen
Subsistenzmittelfonds. Dieser Vorrat an Waren ermöglicht es ihm, an einigen Tagen
auf den Fischfang, auf die tägliche Existenzsicherung zu verzichten und sich
der Produktion von Angeln und anderen Fischgeräten zu widmen. Also Sparen oder
das Sammeln von Subsistenzmitteln ermöglicht dem Robinson Crusoe das
Einschlagen von Produktionsumwegen. Denn er fischt jetzt nicht mehr unmittelbar
mit seiner Hand, sondern er schlägt einen Produktionsumweg ein, indem er
zunächst Angeln produziert; dieses Einschlagen von Produktionsumwegen erhöht
seine Produktivität; im Besitze einer Angel kann er statt fünf Fische zehn
Fische aus dem Wasser fischen. Seine Produktivität ist also durch Einschlagen
von Produktionsumwegen gestiegen. Dieses Einschlagen von Produktionsumwegen war
nur möglich, weil er sich selbst einen Subsistenzmittelfonds angelegt hat. Erst
dieser Subsistenzmittelfonds ermöglicht also das Einschlagen von
Produktionsumwegen und erhöht damit die Arbeitsproduktivität.
Jetzt zum Phänomen des Zinses. Zinsen werden gezahlt,
wenn jemand seinen Subsistenzmittelfonds einem anderen zur Verfügung stellt,
der aus diesem Subsistenzmittelfonds lebt und beispielsweise eine Angel
produzieren kann. Der Zins wird demjenigen gegeben, der den
Subsistenzmittelfonds anlegt. Wenn dieser in der Gegenwart auf Güter zugunsten
zukünftiger Güter verzichtet, so muß ihm eine Prämie gezahlt werden.
Andernfalls wäre er nicht bereit, die Nutzung seines Subsistenzmittelfonds
anderen zu überlassen; denn der Mensch schätze in aller Regel Gegenwartsgüter
höher ein als zukünftige Güter: Der Fisch, den ich heute nicht essen kann, ist
mehr wert als der Fisch, den ich morgen essen kann. Die Prämie für die Nutzung
eines Subsistenzmittelfonds können wir mit Böhm‑Bawerk auch „Agio«
nennen. Das Verzichten auf Gegenwartsgüter ermöglicht einem anderen das
Einschlagen von Produktionsumwegen und daraus kann dieser dann den Zins zahlen.
Weil der einzelne Sparer Gegenwartsgüter höher schätzt als Zukunftsgüter, also
nur bei Erhalt eines Agios auf den Genuß von Gegenwartsgütern verzichtet, muß
ein Zins gezahlt werden. Derjenige, der stattdessen Gegenwartsgüter verzehrt,
kann ein Agio zahlen, weil er jetzt Produktionsumwege einschlagen kann und weil
die Produktionsumwege die Arbeitsproduktivität erhöhen.
Es gibt eine andere instruktive Parabel Silvio Gesells zu
dieser Problematik. (22) Silvio Gesell wählt auch die Figur des Robinson zur
Erläuterung seiner theoretischen Idee. In der Gesellschen Parabel hat Robinson
ebenfalls, um die Bewässerungsanlage seiner Hütte zu verbessern, einen großen
Subsistenzmittelfonds angelegt ‑ Getreide, Wasser, Früchte, Kleider usw.
Eines Tages kommt ein Schiffbrüchiger auf Robinsons Insel und bittet den
Robinson um die Mitnutzung des Subsistenzmittelfonds. Ich gebe jetzt dieses
Gespräch in freier Form wieder. Der Schiffbrüchige: „Laß mich an deinem
Subsistenzmittelfonds teilhaben, ich möchte mir ebenfalls eine Hütte bauen; das
kann ich nicht schaffen, wenn ich gleichzeitig auf Nahrungssuche gehen muß«.
Darauf Robinson: „Gut, aber dann mußt du mir (entsprechend Böhm‑Bawerk:
Gegenwartsgüter werden höher geschätzt als Zukunftsgüter) einen Zins zahlen«.
Daraufhin sagt der Schiffbrüchige: »Nein, das werde ich nicht tun. Du wirst mir
das Geld zinslos geben«. Robinson entgegnet: »Warum soll ich dir das Geld
zinslos geben? Ich habe deswegen gedarbt, und du darbst nicht«. »Ja«, sagt da
der Fremdling, »ich will das Kapital nicht zinslos von dir, weil du ein guter
Mensch bist, sondern weil es dir nützt, mir von deinem Warenvorrat zu geben.
Schau dir doch einmal deine Vorräte an: Im Weizen tummeln sich bereits die
Mäuse, an deinen hirschledernen Anzügen tun sich bereits die Motten gütlich,
dein Warenvorrat verdirbt. Ich werde dir dagegen, wenn du mir jetzt Waren
gibst, diese nach einem bestimmten Zeitpunkt vollwertig zurückgeben«. Robinson
überlegt, das leuchtet ihm ein. Er ist sogar bereit, weniger an Zukunftsgütern
zu nehmen, damit der Schiffbrüchige nur einen möglichst großen Vorrat von
seinen Gütern übernehme und den Verlust des Schwundes trage.
Betrachten wir den Gehalt der Parabel von Silvio Gesell:
Derjenige, der einen Subsistenzmittelfonds anlegt, wird diesen, sofern er aus
Waren besteht, zinslos zur Verfügung stellen, da der Warenvorrat einem Schwunde
unterliegt der durch die Vergabe von Darlehen vermieden werden kann. Mit
anderen Worten: Weil physische Güter relativ schlechte Wertaufbewahrungsmittel
sind, kommt es zum Phänomen zinsloser Darlehen.
Man kann sich aber auch vorstellen, daß auf dem Eiland
des Robinson doch ein positiver Zins gezahlt wird, nämlich dann, wenn nicht
bloß ein Schiffbrüchiger auf die Insel kommt, sondern zehn Schiffbrüchige
zugleich. Wenn diese zehn nun am Subsistenzmittelfonds des Robinson
partizipieren wollen, wird der erste sagen: »Ich bin bereit, für dich den
Schwund zu übernehmen«. Der zweite sagt: »Ich wäre bereit, etwas Zusätzliches
zurückzugeben«. Der dritte sagt: »Ich wäre bereit, dieses Zusätzliche und noch
etwas mehr zurückzugeben«. Die zehn Schiffbrüchigen wären also bereit, Zinsen
zu zahlen. Allgemein formuliert: Zins ist ein Phänomen der Knappheit. Wenn
Geldkapital oder Sachkapital knapp ist, wenn die Nachfrage nach Kapital das
Angebot an Kapital übersteigt, dann gibt es auch bei Sachkapital einen Zins.
Dies ist auch auf der utopischen Insel Barataria nicht
anders. Denn die Kreditwünsche werden auch auf Barataria nicht kontinuierlich, sondern
schubweise, diskontinuierlich anfallen. Wenn wir davon ausgehen, daß es in
Barataria einen Winter gibt, werden die Bauwilligen im Frühjahr anfangen zu
bauen. Dann wird man sich das notwendige Geld nicht im Winter besorgen, weil es
dann ja dem Schwund unterliegt, sondern erst dann, wenn Zahlungen anfallen. Das
heißt, es gibt auch in Barataria Zeiten, wo viele Leute Kredite haben wollen;
in unserem Beispiel: Wenn sie den Rohbau nach einem Monat etwa bezahlen müssen,
dann steigt die Nachfrage nach Krediten. Anders formuliert: Reicht das Angebot
an Kapital nicht mehr aus, um die nachgefragte Kapitalmenge zu befriedigen,
dann ergibt sich auch bei baratonischem Schwundgeld ein Zins. Denn der Halter
baratonischer Pinunzen wird sagen: »Warum kommst du nicht im Winter zu mir, da
hatte ich reichlich Geld. Damals mußte ich den Verlust des Schwundes tragen.
Jetzt, wo alle Geld haben wollen, willst du das Geld umsonst haben. Nein, jetzt
mußt du einen Zins zahlen«. Er kann also ebenfalls die Tür des Tresors vor dem
Kapitalsuchenden zuschlagen. Allgemein formuliert: Der Zins hätte auch in
Barataria die Funktion, die Kredite gleichmäßiger zu verteilen und die weniger
rentablen Investitionsobjekte auszusondern; denn wenn man Zinsen zahlen muß,
weil viele Leute Geld haben wollen, dann lohnt die Überlegung, ob man nicht zu
einem früheren Zeitpunkt ein entsprechendes Darlehen aufnehmen oder ob man
nicht auf die Inanspruchnahme eines Darlehens gänzlich verzichten sollte.
Ökonomisch formuliert: Der Zins übt in Barataria Allokationsfunktion aus,
nämlich für eine zeitliche Verteilung der Kreditnachfrage zu sorgen und
diejenigen Kreditwünsche auszuschalten, die nicht rentabel oder weniger
rentabel als andere sind.
Auch in einer kommunistischen Wirtschafts‑ und
Gesellschaftsordnung gibt es das Zinsphänomen. Marx glaubte zwar, daß der Zins
eine Funktion der Ausbeutung der Werktätigen sei; denn das »konstante Kapital«
könne nur sich selbst reproduzieren und somit keinen Zins erwirtschaften, Zins
sei das Symbol der Ausbeutungsgesellschaft. Aber siehe an, sogar in der
Sowjetunion werden Zinsen gezahlt. Wenn keine Zinsen für die Inanspruchnahme
des Subsistenzmittelfonds gezahlt werden müssen, dann werden die knappen
Kapitalmittel nach anderen Verfahren verteilt werden müssen: nach dem sogenannten
Windhundverfahren (wer zuerst da ist, wer zuerst am schnellsten läuft, der
kriegt den Kredit), nach dem Monte‑Carlo‑Verfahren (es wird dem
Zufall überlassen, wer einen Kredit bekommt), nach einer politischen
Prioritätenliste (man schreibt auf, wer Kredite haben will, und geht dann nach
dem Kriterium der politischen Wünschbarkeit vor) oder nach dem
Überredungsverfahren (man kann zum Beispiel mit Investitionsobjekten beginnen,
obwohl man noch keine Genehmigung dafür hat; den Verteiler von Kapitalmitteln
könnte man dann wie folgt »überreden«: »Du wirst doch wohl nicht eine
Investitionsruine stehen lassen wollen ‑ das wäre ja Verschwendung«).
Dies war und ist tatsächlich die Praxis bei der Vergabe investiver Mittel.
Daher ist die Sowjetunion bei ihrer Wirtschaftsreform aus dem Jahre 1965 dazu
übergegangen, wieder einen Zins einzuführen; natürlich heißt so etwas nicht
»Zins«, sondern »Produktionsfondsabgabe«. Natürlich ist ein solcher Zins nicht
Ausdruck kapitalistischer Ausbeutung, sondern lediglich Einteiler knapper
Produktionsfondsmittel.
3. Ein »modernes« Schwundgeld
Ein kurzer Hinweis auf die Aktualität des
Schwundgeldgedankens. Inzwischen haben wir eine zinslose Wirtschaft, inzwischen
haben wir auch »Schwundgeld«. Derjenige, der sein Erspartes zinstragend anlegen
will, erhält null Prozent Zinsen. Kauft man jetzt festverzinsliche Papiere, so
erhält man eine Umlaufrendite von 6,4 Prozent; wenn man hiervon 40% Steuern
abrechnet, kommt man auf knapp 4 Prozent; bei Berücksichtigung der Inflationsrate
stellt sich der Zins auf null Prozent. Derjenige sogar, der auf sein Sparbuch
einzahlt, der zahlt anderen eine Prämie dafür, daß diese für ihn die
Aufbewahrung des Geldes übernommen haben. Denn die Inflationsrate beträgt 4%,
der Zins auf gesetzlich kündbare Einlagen beträgt 3%, der Zins für auf ein Jahr festgelegte Beträge beträgt 4% ‑
er deckt also gerade den Inflationsschwund. Und das ist nicht nur heute so,
sondern bereits seit geraumer Zeit.
Die Konsequenz, daß man nicht mehr sein Erspartes in
rentierlichem Geldvermögen anlegen konnte, führte dazu, daß man das Ersparte
anders aufbewahrte, daß man Sachwerte kaufte, Immobilien, Häuser, Uhren, Bilder
usw., so daß wir nach 1970 eine grandiose Fehlallokation hatten. Es wurde
gebaut, nicht weil es rentierlich war, sondern weil man glaubte, sein Geld in
solchem Sachvermögen rentierlicher anzulegen als in Geldvermögen. Dies führte
zu einer Überdimensionierung des Wohnungsmarktes, hat dann die Bundesregierung
zu antizyklisch gemeinten Maßnahmen veranlaßt, die zusammen mit der
Marktsättigung die Konkursquoten im Baugewerbe auf Rekordmarken schnellen
ließen. Die Fehlallokation wegen der falschen Verwendung von Ersparnissen führt
letztlich zu Arbeitslosigkeit. Das Produktionspotential ist zusätzlich
beansprucht worden, weil man sparen wollte, weil die Leute ihr Geld nicht für
den normalen Konsum ausgeben, sondern weil sie ihr Geld rentierlich anlegen
wollten; das heißt Sparen hat die Volkswirtschaft vielfach nicht von aktueller
Nachfrage entlastet, sondern wegen der zusätzlichen Beanspruchung der
Produktionsfaktoren belastet. Diese Fehlinvestitionen sind eine wichtige
Ursache für die derzeitige Arbeitslosigkeit.
Ich nehme nicht an, dass Silvio Gesell ein solches
Schwundgeld gewollt hat. Bei ihm stand wohl im Vordergrund, daß die
Geldversorgung nicht durch spekulative Manöver seitens des
Geschäftsbankensektors gestört werden sollte. Er nahm an, daß sich durch die
Aufhebung der Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes solche Krisen vermeiden
ließen. Aber wir haben gesehen, daß diese Annahme in dieser allgemeinen Form
nicht zutrifft.
4. Gesells Parabel ‑ ein Lehrstück für die
Interdependenz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
Insgesamt ist die Gesell'sche Parabel über das utopische
Barataria ein meisterhaftes Lehrstück zur Einführung in eines der schwierigsten
Kapitel der Nationalökonomie, der Geld‑ und Zinstheorie. Es ist ein
reiches Exerzierfeld für ökonomisches Denken und für das Erkennen
interdependenter Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und allgemeiner
Politik. Dabei ist zweitrangig, daß ich die Änderung der Bemessungsgrundlage
(vom Gewicht zum Hohlmaß), also die Einführung der Wertaufbewahrungsfunktion
des Geldes, nicht als den Sündenfall in Barataria betrachte. Entscheidend ist,
daß die grundsätzlichen Ideen, die ordnungspolitischen Ideen von Silvio Gesell
richtig und vorbildhaft sind:
Man wird ein Höchstmaß an Freiheit für den einzelnen
Menschen (also „Raum für den Menschen“, wie eine Tagung hier einmal hieß)
schaffen, wenn man die Tätigkeit des Staates auf die Sicherung des Wettbewerbs
und auf den Ausgleich sozialer Not konzentriert und wenn man vom Staat nicht
etwas fordert, was dieser nicht leisten kann, etwa distributive Gerechtigkeit
herzustellen oder Vollbeschäftigungsgarantien zu geben. Die Verhöhnung eines
Staates, der sich hauptsächlich auf die Schaffung und Sicherung der
Rahmenbedingungen für rechtsstaatliches Handeln beschränkt, als
»Nachtwächterstaat« durch Ferdinand Lasalle, hat zur Konsequenz, daß man
glaubte, der Staat müsse den Einzelnen an die Hand nehmen, um ihm zu zeigen,
was er tun solle, müsse ihm seine Sorgen abnehmen, seine Pflichten übernehmen
und ihn schließlich von jeglicher Verantwortung befreien. Und dann sind es die
organisierten Gruppen, die sich des Staates bemächtigen, ihn als Marionette
benutzen, oder, wie Götz Briefs gesagt hat, degradieren zu einer »pouvoir
dirige«. Dies ist dann nicht viel anders als der Rückfall in feudalistische
Herrschaftsformen.
Weiter ist bei Silvio Gesell vorbildhaft, daß er in der
Schaffung einer funktionsfähigen Geldordnung den »nervus rerum« einer
funktionsfähigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gesehen hat. Ich glaube
nicht und ich hoffe auch nicht, daß wir uns über die Gestaltung einer solchen
idealen Geldordnung hier schon einig sind. Worüber sollten wir denn sonst bei
den nächsten Tagungen streiten?! Ich glaube aber, daß uns die Referate und die
Diskussionen diesem Ziel ein wenig näher gebracht haben.
(*)
Überarbeiteter Vortrag auf dem Seminar I vom 28. Juli bis 1. August 1977 des
„Seminars für freiheitliche Ordnung«: Die Währungsfrage als Rechtsproblem -
Funktionsfähige Geldordnung als Voraussetzung für eine störungsfreie
Marktwirtschaft ‑.
(1) Bei der Analyse der utopischen Parabel Silvio Gesells
habe ich mich auf folgenden Text gestützt: »Die Wunderinsel Barataria« (=
Billigland), Erfurt und Bern 1922. - Da die Parabel in diesem Heft abgedruckt
ist, habe ich im folgenden bei Zitaten - wörtlich oder sinngemäß - auf eine
Quellenangabe verzichtet.
(2) Joseph A. Schumpeter, John Maynard
Keynes, »American Economic Review«, Bd. 36, 1946. Hier
zitiert nach dem Abdruck in: H. C. Recktenwald, Lebensbilder großer
Nationalökonomen, Köln-Berlin 1965, S. 540.
(3)
Abzüglich bibliographischer Angaben. ‑ Handwörterbuch der Staatswissenschaften,
4. Aufl., 8. Bd., Jena 1928, S. 886.
(4)
Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. II, Göttingen
1965, S. 1010.
(5)
Abzüglich bibliographischer Angaben. ‑ Handwörterbuch der
Sozialwissenschaften, 4. Bd., Stuttgart‑Tübingen‑Göttingen 1965, S.
426 f.
(6) In
diesem Sinne: Gottfried Bombach, Keynesianische Ökonomie und die Ökonomie von
Keynes, "Wirtschaftsdienst«, 56. Jg., 1976, H. 10, S. 331.
(7) John Maynard
Keynes, The General Theory of Employment Interest and Money, London 1964
(Nachdruck), S. 353.
(8)
Ebenda, S. 355.
(9)
Vgl. hierzu: Joachim Starbatty, Die Interdependenz von Staat, Wirtschaft und
Kultur in der »Utopia«
des Thomas Morus ‑ Die »Utopia« als Modell der klassenlosen Gesellschaft ‑,
in: »Fragen der Freiheit - Beiträge zur freiheitlichen Ordnung von Kultur,
Staat und Wirtschaft‑«. Folge 123, Dezember 1976, S. 20 ff.
(10)
Friedrich Engels, zitiert nach W. 1. Lenin, Staat und Revolution, Berlin‑Wilmersdorf
1918, S. 74
(11) Vgl. hierzu: Andrej Amalrik, Kann die Sowjetunion
das Jahr 1984 erleben? Zürich 1970, S. 45.
(12) Hedrick Smith, Die Russen, Bern und München 1976, S.
22.
(13) Vgl. zur sozialistischen
(oder kommunistischen) Praxis in der Sowjetunion: Hedrick Smith, a. a. O.,
passim und Jerome Kaiser, Alle Kinder Lenins ‑ Alltag einer Weltmacht,
Reinbek bei Hamburg 1976, passim.
(14) Evsey G. Libermann Ökonomische Methoden zur Effizienzsteigerung der gesellschaftlichen Produktion, Berlin (Ost) 1973, S. 141.
(15) Vgl. hierzu: Jochen Röpke, Der importierte Fortschritt.
Neuerungsimporte als Überlebensstrategie zentralkoordinierter Systeme, »ORDO«,
Jg. 27, 1976, S. 223 ff.
(16) Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung
durch Freiland und Freigeld, 5. Aufl., Rehbrücke bei Berlin 1922, S. XIII.
(17) Alfred Schüller:
»Schuldnerprivilegien als Inflationsursache ‑ konkurrierende Währungen
ein Ausweg?« Vortrag, gehalten anläßlich der Tagung »Die Währungsfrage als
Rechtsproblem« im Juli 1977 in Herrsching/A. Erscheint im Druck in »Fragen der
Freiheit“ Nr. 130 Januar/März 1978
(18) Da Silvio Gesell von dem »pinus moneta« spricht und nicht von der »pinus moneta«, wie kundige Latainer monieren würden, ist hier
das »genus masculinum« beibehalten worden.
(19) Vgl. hierzu: Erich Streissler, Macht und Freiheit in der Sicht des Liberalismus, in: Hans K. Schneider und Christian Watrin, Hrsg., Macht und ökonomisches Gesetz, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 74 II Berlin 1973, S. 1391 f.
(20) Dieses ist der »archimedische Punkt« bei F. A. von Hayek. Vgl. hierzu
seine Aufsatzsammlung »Freiburger Studien«, Tübingen 1969, passim.
(21) Dies ist die entscheidende
Idee bei David Hume. Vgl. hierzu: F. A. von Hayek, die Rechts- und
Staatsphilosophie David Humes, in: Freiburger Studien, a. a. O., S. 237.
(22) Silvio Gesell, Die
natürliche wirtschaftsordnung, a. a. O., S. 319 ff.