Reisekrankheit
Wenn Mobilität auf den Magen schlägt
Sie befiel schon Lawrence von Arabien beim Kamelritt durch die Wüste. Von ihr betroffen waren englische Könige auf ihren Schiffen, die sich deshalb den Kopf festhalten ließen, und sie befällt sogar Astronauten. Das Übel 'Kinetose', wie die Reise- bzw. Bewegungskrankheit genannt wird, plagt die Menschheit, seit diese sich zur Überwindung größerer Entfernungen nicht mehr der eigenen Füße bedient, sondern auf Vierbeiner oder technische Verkehrsmittel zurückgreift.* Damit überfordert der Mensch sein biologisches Orientierungssystem.
Dabei wird ihm, dem Sinn der Technik entsprechend, zwar Arbeit abgenommen: Er wird ganz ohne sein Zutun bewegt. Andererseits führen die andersartigen und heftigeren Bewegungen der künstlichen Transportmittel zu einer physiologischen Überreizung. Zudem wird der komplizierte, völlig automatisch ablaufende Prozeß, mit dem der Körper sonst die eigene Bewegung organisiert, durchkreuzt. Der Organismus verliert seine vertrauten Orientierungsgrößen, wie zum Beispiel Schwerkraft, optische Linien oder bewegte Gegenstände, und kann seine eigenen Bewegungen mit der dabei auftretenden Änderung der Bezugsgrößen nicht mehr ohne weiteres verrechnen.
Normalerweise setzt unser Körper dazu eine Reihe verschiedener Sinnessysteme ein. Sie stehen in einer Hierarchie, müssen aber gleichwohl zusammenspielen. Am Kopf sind es die Augen, das Gleichgewichtsorgan in beiden Innenohren -es besteht aus einem Steinchenorgan zur Ausrichtung auf die Schwerkraft - und der Nacken. Mit im Spiel sind der Magen und die Nieren, aber auch die Haut und nicht zu vergessen, die Fußsohlen. Mit Hilfe von Rezeptoren übermitteln alle diese Körperteile Lageberichte an den 'Zentralcomputer', das Gehirn, das die Information dann verarbeitet und den Bewegungsapparat daran anpaßt.
Wanderern wird selten übel
Produzieren diese Systeme plötzlich 'Datensalat', dann kommt es zur Kinetose, wie zum Beispiel bei einer Autoreise. Den Insassen im Fond des Wagens ist der Blick nach vorn, auf die Straße, von den Köpfen des Fahrers und des Beifahrers verstellt. Sie erleben die Fahrt eher wie eingeschlossen in eine Dose und nehmen widersprüchliche Informationen aus dem Seh- und Gleichgewichtsbereich wahr. So melden die Augen dem Gehirn die Information "keine Bewegung". Das Innenohr dagegen empfängt Signale der Beschleunigung und Achsenverschiebung und meldet daher "Bewegung". Das Gehirn verfügt über keine Technik, um den Widerspruch zu verstehen. Es löst ihn einfach durch Setzung "aller Systeme auf Null" und schaltet auf Notversorgung. Der Körper reagiert mit Müdigkeit, Schwindel bis hin zu Übelkeit und Erbrechen - den typischen Symptomen der Reisekrankheit.Ganz gleich, welches Transportmittel benutzt wird, ein schlingerndes Kamel oder ein kurvendes Auto: Immer ist die Kinetose ein Konflikt der beteiligten Sinnesorgane. Als praktische Faustregel für alle Fahrten 'zu Wasser, zu Lande und in der Luft' gilt deshalb: Die Augen auf die Bewegung des Fahrzeuges fixieren, um so die nicht zusammenpassenden Informationen zu reduzieren. Dies erklärt auch, warum Fahrer, Piloten oder Kapitäne kaum reisekrank werden. Bei Schiffsreisen mit starkem Seegang ist es hingegen ratsam, sich in der Mittelzone des Schiffes aufzuhalten. Damit kann die Überreizung, die von Rollbewegungen ausgeht, verringert werden. Weiter sollten Reisende ihren Magen nicht belasten und auf Alkohol verzichten. Wer reiseempfindliche Kinder 'im Gepäck' hat, sollte lieber in der Nacht reisen: Im Schlaf schläft auch das Gleichgewichtssystem.
Sylvia Zacharias
* Alles Wissenswerte über die Reisekrankheit mit Tips zur Vorbeugung bei Hans Scherer, Das Gleichgewicht, 1997 (Heidelberg).
Ihre Meinung: