Patientengeschichte

Das Chronische Müdigkeitssyndrom -
Stiefkind der Medizin?


Man nennt es wohl 'doctor shopping', wenn einer berufsmäßig den Patienten spielt. Aber es gibt auch Fälle, in denen ein solches 'Flanieren' durch die Sprechzimmer nur Ausdruck medizinischer Ohnmacht ist. Christa Müller*, Patientin in Professor Peter Mitzneggs Praxis für Allgemeinmedizin im Franklin-Klinikum, war nach eigenen Worten "positiv ausgelastet" als Mutter, Lehrerin und Ehefrau, als ihr eine rätselhafte Krankheit einen wahren "Überweisungsmarathon" aufzwang. An die 50 Ärzte bzw. Kliniken hat te sie konsultiert, bis dann die Rede auf das "Chronische Müdigkeitssyndrom" kam.

Damit war nicht etwa eine sekundäre Erschöpfung wegen ergebnisloser Arztgänge gemeint, sondern das in den angelsächsischen Ländern bereits wissenschaftlich dingfest gemachte "Chronic Fatigue Syndrome", kurz: CFS. Heute weiß die Patientin, daß die Krank heit erst ungefähr vor sechs Jahren, zu dem Zeitpunkt also, an dem ihr eigener Leidensweg begann, auch für die Forschung interessant wurde.

1993, als der Verdacht auf CFS im Klinikum Steglitz bereits in der Akte stand, wußte man keine Hilfe. Daraufhin reiste die von Atemnot Geplagte zu dem bundesweit einzigen Experten, Dr. Hilgers in Düsseldorf. Dessen Untersuchungen am Immunsystem der Pat ientin bestätigten die unglaubliche und unter Medizinern bis dato so unglaubwürdige Krankheitsgeschichte: Christa Müller hatte in einer Art Infektionsspirale eine ganze Serie von Viruskrankheiten durchgemacht: Influenza A, Lungenentzündung, Hirnhautentzün dung, Pilzinfektionen und Kinderkrankheiten wie Mumps. Die Symptome - "starke Kopfschmerzen, nachts Schlaflosigkeit, tagsüber Schlafattacken" - beschreibt die Patientin als "katastrophal heftig". Sie ähnelten streckenweise einem Schlaganfall, sagt sie: "I ch konnte mich plötzlich nicht mehr an die Namen meiner Kinder erinnern." Zum Begriff Müdigkeit stellt die drahtig wirkende Frau richtig: "Ich war nicht eigentlich müde, sondern eher völlig unfähig, eine Bewegung zu steuern, z.B. eine Tasse oder einen Tel efonhörer anzufassen." Ihre gesamte Motorik sei gestört gewesen.

Die Krankheit von Christa Müller stimmt in Verlauf und Erscheinungsweise mit den Ergebnissen vieler internationaler Studien**) überein. Häufig wurden dort ebenfalls Virus- und (Candida)Pilz-Infektionen als Ausgangspunkt für das CFS festgestellt. Das Sy ndrom, so die Theorie, tritt als immunologisches Resultat einer Infektions-Kaskade auf. CFS als Immundysfunktion, also als Funktionsstörung des Immunsystems, lautete die Düsseldorfer Diagnose. Christa Müller glaubt, daß antibiotikahaltige Frischmilch von einem Bauern am Urlaubsort der erste Auslöser war. Die Verschreibung von starken Medikamenten habe ihr zusätzlich geschadet: Antibiotika gegen die Viren, was bekanntlich kontraindiziert ist, und Antipilzpräparate, nach denen sich die zentralnervösen Sympt ome sprunghaft verschlimmert hätten.

Mit neuer Hoffnung machte sich Christa Müller nun in Berlin auf die Suche nach einem Arzt, der sie mit der Diagnose CFS ernst nehmen und sie beim Ausprobieren unorthodoxer Heilmethoden unterstützen würde. So wurde sie Patientin in Mitzneggs neu eröffne ter, ans Klinikum angegliederten Allgemeinpraxis. Solange klare biologische Marker **) bzw. Strukturkennzeichen für die ins Chaos gestürzte körpereigene Abwehr-Logistik fehlen, bleibt dem Hausarzt nicht anderes übrig, als bei den CFS-Patienten den aufwend igen Weg der Ausschlußdiagnostik zu gehen. Prof. Mitzneggs Resümee: "Es muß sich um eine durch keine andere Krankheit - wie Aids, Krebs, Leberentzündung oder Gemütsleiden - erklärbare Halbierung der normalen Leistungsfähigkeit, über einen Zeitraum von min destens sechs Monate handeln."

Der Allgemeinmediziner förderte die therapeutische Eigenintiative seiner Patientin. Auch dort, wo er vorerst nur behutsame Hypothesen hat, etwa beim Einsatz spezieller Enzympräparate. Seine Devise: "Nicht, wer heilt hat recht, sondern, wer heilt tut re cht". Die Patientin, inzwischen ganz offensichtlich auf dem Weg der Besserung, erprobt nun ihr vierteiliges Programm aus Schleimhautsanierung, Immunstärkung, Spezialdiät und seelischer Aufrüstung "mit gutem Erfolg" an den rund 45 Teilnehmern der von ihr g egründeten Selbsthilfegruppe.

Professor Mitznegg, der die Vergabe einer Doktorarbeit über die von ihm unterstützte Aufbau-Therapie plant, hält inzwischen eine Vorlesung zum CFS. Dort berichtet er auch Historisches. So geistern immer wieder unerklärliche Erschöpfungskrankheiten durc h die medizinische Welt. Zu Zeiten Sigmund Freuds nannte man sie Neurasthenie. Der Amerikaner George Beard fand 1881 für die Hilflosigkeit der Ärzte die Metapher vom 'Zentralafrika der Medizin'. In der Mitte des 20. Jahrhunderts hieß das deutsche Zauberwo rt dann vegetative Dystonie. Daneben verbucht die Medizingeschichte auch virusverdächtige lokale Epidemien wie bei der "Icelandic Disease", die 1948 ein ganzes Dorf auf der Insel heimsuchte. Und Christa Müller erhält in Mitzneggs Vorlesung Gelegenheit, de n Studenten die Besonderheiten des CFs anhand der eigenen Geschichte zu präsentieren.

"Ich wünsche mich natürlich in meinen Beruf zurück", sagt die 46jährige Fachlehrerin. Sie bedauert, daß dies "nicht von heute auf morgen sein kann, sondern erst einmal nach dem Hamburger Teilzeitarbeitsmodell". Ihr verblüffendes Geständnis: selbst in ihrem Gedächtnis habe die Krankheit gewütet: "Meine Fachkenntnisse in Französisch und Englisch und in den Computerprogrammen sind immer noch weg." Doch sie ist optimistisch, die Lücken bald wettmachen zu können. Zumindest möchte sie die Patienten in ihre r Selbsthilfegruppe vor dem Absturz ins berufliche Aus bewahren. "Allzu schnell sind die Amtsärzte bereit, eine psychiatrische Diagnose zu unterschreiben und den Menschen aus dem Verkehr zu ziehen", beklagt sie.

Sylvia Zacharias

*)Name von der Redaktion geändert
**)Chronic Fatigue Syndrome - eine neue Krankheit?, U. Schönfeld, Bundesgesundheitsblatt, Dez. 1993


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