75. Steglitzer Schmerzkonferenz
Der verdrängte Schmerz
"Der Tod ist eine unveränderliche Grösse", schrieb Georg Christoph Lichtenberg, "allein der Schmerz ist eine veränderliche, die unendlich wachsen kann". Fast jeder zehnte Bundesbürger klagt über chronische Schmerzen - Schmerzen, die nicht mehr durch einfache somatische Ursachen erklärt werden können und sich selbständig gemacht haben. Allgemein gelten die Qualen als chronisch, wenn sie länger als ein halbes Jahr regelmäßig auftreten.
Dr. Andreas Kopf, Anästhesist am Universitätsklinikum Benjamin Franklin, hält jedoch nichts von dieser zeitlichen Definition. Für ihn haben sich die Schmerzen verselbständigt, wenn sie die ihnen unterliegende Ursache, etwa eine Verletzung oder Entzündung, wesentlich überdauern. Kopf unterscheidet zwischen protektivem Schmerz, einem Warnsignal des Körpers, das etwa einen Sportler nach einer Verletzung von frühzeitiger Betätigung abhalten will und nicht-protektivem Schmerz, der seine Warnfunktion längst verloren hat.
Um chronischen Schmerzpatienten helfen zu können, lädt Kopf einmal wöchentlich zu einer interdisziplinären Schmerzkonferenz ein, die Mitte Mai bereits zum 75. Mal stattfand. Zwei Stunden lang werden ambulante und stationäre Schmerzpatienten einem Gremium von zehn bis 15 Oberärzten bzw. niedergelassenen Ärzten vorgestellt, die gemeinsam einen Behandlungsplan erstellen. Noch hat diese interdisziplinäre Schmerzkonferenz in Berlin Seltenheitswert, nur zwei weitere Kliniken und ein niedergelassener Arzt widmen sich bislang diesem Thema fächerübergreifend.
Es ist bekannt, daß die am Schmerzgeschehen beteiligten Nervenzellen (Neurone) "lernend" auf schmerzhafte Reize reagieren. Prof. Christoph Stein, Direktor der Anaesthesiologie am Klinikum Benjamin und ebenfalls Schmerztherapeut, spricht deshalb von einem "Schmerzgedächtnis" im Rückenmark. Sensibilisierungsvorgänge an den Nervenzellen können die natürliche Hemmung von Schmerzreizen überwinden und so die Entstehung chronischer Schmerzen begünstigen. Um dies zu verhindern, müssen akute Schmerzen ausreichend gelindert werden, um ihnen keinen Anlaß zur "Erinnerung" zu bieten. Noch mehr Angst vor einem Zahnarztbesuch braucht jedoch deshalb niemand zu haben, denn diese "normalen" Schmerzen graben sich noch nicht in das "Schmerzgedächtnis" ein.
Schmerz hat jedoch nicht nur eine körperliche, sondern auch eine psychosoziale Komponente. Anhaltender Lärm, soziale Probleme, körperliche und seelische Erschöpfung können dazu beitragen, daß Schmerz chronisch wird. "Der Schmerz kann zur Bühne eines inneren Konfliktes werden, der dort ausagiert wird", sagt Kopf. Dies geschehe jedoch meist unbewußt. Schmerz sei aber nur eine "Sollbruchstelle" in der Psyche des Menschen. Während einer chronische Rückenschmerzen entwickle, könne der andere mit Depressionen, Schlaflosigkeit oder Aggressivität auf Streß reagieren. Deshalb gibt es auch keine Möglichkeit der Vorhersage, wer zum Schmerzpatienten werden könnte.
Um die Situation chronischer Schmerzpatienten zu verbessern, arbeiten Stein und seine Mitarbeiter an der Entwicklung neuer Schmerzmittel, die nicht abhängig machen. Da Abhängigkeitsprozesse im zentralen Nervensystem entstehen, geht es darum, die Opiate erst gar nicht dorthin gelangen zu lassen, sondern ihre Wirkung auf die Schmerzstelle zu begrenzen. Dies ist zum einen durch eine gezielte Injektion konventioneller Opiate in die Schmerzstelle möglich. Dort werden die Wirkstoffe sofort durch das Blut verdünnt und gelangen nicht ins zentrale Nervensystem. In der Entwicklung sind jedoch auch chemische Substanzen, die oral eingenommen werden können und aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht ins Nervensystem gelangen. Für Stein spricht nichts dagegen, bei starken Schmerzen auf Morphium zurückzugreifen, da man hier nicht von einer Abhängigkeit im Sinne von Sucht sprechen könne.
Marion Knappe
Informationen: Prof. Christoph Stein, Klinik für Anaesthesiologie und operative Intensivmedizin, Telefon: 8445-2731
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