Patientengeschichte


Ein sehr frühes Frühchen



Franziska Richters* erstes Zuhause ist der Brutkasten. Sie liegt auf einem hellblauen Kinderbettbezug, die winzigen Arme und Beine wie ein kleiner Frosch von sich gestreckt, und schläft. Das Köpfchen, kaum größer als ein Tennisball, ist dicht mit schw arzem Haar bewachsen. Ihr Mini-Mund schmatzt, saugt und nuckelt auch im Schlaf - fast so als träumte sie vom Essen. Eine bunte Stoffmaus-Spieluhr, nur wenig kleiner als sie selbst, leistet Franziska in ihrem Nest Gesellschaft.

Es könnte ein friedliches Bild sein, wäre da nicht der Ort: die Neugeborenen-Intensivstation A des Klinikums Benjamin Franklin. Hier wurde Franziska kurz vor Weihnachten 1994 geboren, über drei Monate zu früh und genau 783 Gramm schwer. Seitdem kämpft diese winzige Portion Mensch ums Überleben. Ärzte und Pflegepersonal sind rund um die Uhr bemüht, diesem sehr frühen Frühchen ein ungestörtes Wachstum und eine kontinuierliche Entwicklung im Brutkasten zu ermöglichen, indem sie Bedingungen schaffen, die denen im Mutterleib möglichst ähnlich sind.

"Unsere Hauptaufgaben liegen im Bereich der Sauerstoffversorgung, der regulären Ernährung, der Kreislauf- und Temperaturregelung und der allgemeinen Pflege und Versorgung", erklärt der Leiter der Abteilung für Kinderheilkunde mit dem Schwerpunkt Neonat ologie (Neugeborenenmedizin), Professor Hans Versmold.

Wie viele so extrem zu früh geborene Kinder mußte auch Franziska nach der Geburt wegen einer Lungeninfektion zehn Tage lang beatmet werden. Inzwischen schafft sie es aber längst selbst, ihren Körper ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Allerdings "vergißt" sie - wie das für die Frühgeborenen typisch ist - ab und zu noch das Luftholen. Dann ertönt sofort ein Alarmsignal vom Monitor, der über eine Elektrode ständig Franziskas Blutgaswerte kontrolliert. Ein sanftes Streicheln genügt, und schon fängt sie mit einem tiefen Seufzer wieder an zu atmen. Durch die Klappen an ihrem Brutkasten, der mit einer Temperatur von 31¡ bei 85% Luftfeuchtigkeit ein für die Frühgeborenen ideales Dschungelklima hat, wird Franziska im strikten Drei-Stunden-Rhythmus unters ucht und versorgt. Dabei werden ganz vorsichtig die Augen ausgewaschen, die Elektroden, die ihre wichtigsten Körperfunktionen überwachen, werden versetzt, um Hautreizungen zu vermeiden. Und sie bekommt eine neue Windel und etwas zu essen.

Da die meisten Frühgeborenen noch nicht richtig schlucken können, werden sie über einen durch die Nase in den Magen geführten Schlauch ernährt. Franziska hat Glück: Die Milchproduktion ihrer Mutter ist so gut, daß sie ausschließlich mit der - immer noc h als unersetzlich geltenden - Muttermilch ernährt werden kann.

Zweimal täglich ist Aisja Richter für mehrere Stunden bei ihrer Tochter, auch der Vater kommt, so oft er kann. Für die Eltern kam die vorzeitige Geburt, ausgelöst durch eine Infektion der Mutter in der 25. Schwangerschaftswoche, völlig überraschend. D er Schock und die ständige Angst um ihr Kind in diesen ersten Wochen sitzen tief. "Ich bin zwar die Mutter, aber ich konnte gar nichts für mein Kind tun", beschreibt Aisja Richter ihre Hilflosigkeit. "Am Anfang konnte ich nicht mehr schlafen und essen und hatte richtige Nervenprobleme."

Für den Vater war es zunächst schwer, überhaupt eine Beziehung zu dem "kleinen Würmchen zwischen all den Schläuchen" aufzubauen. Er vertiefte sich in die Frühgeborenen-Fachliteratur."Immer, wenn ich bei Franziska war, belauerte ich wie die Schlange da s Kaninchen stundenlang die Monitore, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Das ging solange, bis mir einmal ein Arzt sagte, ich sollte mich lieber um mein Kind kümmern, da würde ich schon merken, ob es ihr gut geht."

Eine starke emotionale Bindung zu ihrem Kind entwickeln beide Eltern, seitdem Franziska "Ausflüge aus dem Inkubator" auf die Brust der Mutter, manchmal auch des Vaters, machen darf. Bei dieser sogenannten "Kängeruhpflege" wird Franziska, warm in Decke n eingehüllt, vorsichtig auf die nackte Brust gelegt und Mutter und Kind können eine Weile ungestört kuscheln. "Das Gefühl, sie zu spüren, sie zu streicheln, mit ihr zu reden und sie dann vielleicht auch noch lächeln zu sehen, ist einfach unbeschreiblich wunderbar", kommen die Richters ins Schwärmen.

"Die Eltern geben dem Kind in dieser Situation etwas, was nur sie können und niemand sonst." Diesen positiven psychologischen Aspekt hält Professor Versmold für besonders wichtig. Deshalb wird die "Kängeruhpflege" allen Eltern angeboten, bei denen es d er Zustand des Kindes zuläßt. Auch wenn aus medizinischer Sicht noch nicht alle Risiken für das Kind erforscht sind und diese Pflege für die Ärzte und Schwestern viel mehr Arbeit bedeutet.

Von der Arbeit und Atmosphäre auf der neonatologischen Intensivstation sind die Eltern von Franziska sehr angetan. "Man hat den Eindruck, daß hier Profis arbeiten, die etwas von ihrem Handwerk verstehen. Dabei kann man mit jedem reden, jeder ist anspr echbar und man selbst hat nie das Gefühl zu stören." Gut findet Uwe Richter auch, daß sein eigener Optimismus, angesichts der kontinuierlichen guten Entwicklung seiner Tochter, von Seiten der Klinik auf eine eher nüchtern realistische Einschätzung trifft. "Man bereitet uns auf wahrscheinliche Rückschläge vor, indem man uns immer wieder klar macht, daß es meistens nach drei Schritten vorwärts wieder zwei zurück geht."

Franziska in ihrem Brutkasten ahnt von all diesen Sorgen und Ängsten um sie herum nichts, und so wie sie - selbst im Schlaf - in ihrem Nest strampelt, mit den Ärmchen rudert, Grimassen zieht und immer wieder lächelt, strahlt sie einen Lebenswillen aus , der hoffen läßt, daß sie in nicht allzu ferner Zukunft nach Hause kommen wird.
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Betina Meißner


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