Patientengeschichte: Aus der Psychatrie

"Spannend am Menschen sind seine Gedanken"


"Ich saß im Bus und fühlte mich mit einem Mal so schwach", erinnert sich Sabine Schröder*. "Ich war irgendwie hungrug und völlig hilflos. Ich stürzte raus. Nichts in der Welt hätte mich wieder in dieen Bus gekriegt." Sich nicht mehr alleine hinauszutrauen, eine sogenannte Agoraphobie, war nicht das einzige, worunter sie litt. Hinzu kamen Depressionen, Waschzwänge, Beziehungsideen und andere Ängste. Seit 1978 ist Sabine Schröder in psychiatrischer Behandlung. 1983 dann die endgülige Diagnose: chronische schizophrene Psychose sowie Angst- und Zwangserkrankung.


Psychiaterin aus Überzeugung: Dr. Maria Jockers

Sabine Schröder mußte mehrfach stationär behandelt werden, doch seit 1985 lebt sie zusammen mit 24 anderen Patienten im Höhne-Stift, einem Haus, in dem der Förderverein für psychisch Kranke der Psychiatrischen Klinik der FU das Projekt "Betreutes Wohnen" durchführt. Und seit zweieinhalb Jahren hat sie eine weitere wichtige Konstante in ihrem Leben: eine ambulante Langzeittherapie in der Psychiatrischen Klinik und Poliklinik in der Charlottenburger Eschenallee. Diese ehemalige Einrichtung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses gehört jetzt zum Universitätsklinikum Benjamin Franklin. Dort betreut sie Dr. Maria Jockers.

"Sie war eine meiner ersten Patientinnen hier im Haus", erzählt Dr. Jockers. Daß Sabine Schröder im Anschluß an einen stationären Aufenthalt zurück ins Höhne-Stift und in die ambulante Behandlung durfte, hat sie auch ihr zu verdanken. Die Zusammenarbeit zwischen den Sozialarbeitern des Fördervereins im Höhne-Stift, die den Patienten bei der Bewältigung von Alltagsproblemen zur Seite stehen, und den Ärzten in der psychiatrischen Poliklinik ermöglicht es selbst schwer psychisch Kranken, ein weitgehend eigenständiges Leben zu führen. Einige der Patienten erholen sich sogar soweit, daß sie einer Arbeit nachgehen können.

Zu den freiwilligen Aktivitäten, die den Bewohnern angeboten werden, gehören verschiedene Gruppenveranstaltungen, Kino- oder Museumsbesuche, Spaziergänge sowie Bastel- und Bowlingnachmittage. Sabine Schröder fühlt sich wohl im Höhne-Stift. Sie besucht eine Selbsthilfegruppe für psychisch Kranke, und sie liest sehr viel. "Sie ist intelligent, belesen und zudem noch äußerst witzig. Ich persönlich mag die Psychosepatienten am meisten. Jeder Psychiater hat seine Vorlieben," gesteht Maria Jockers. Für die Psychiatrie hat sie sich entschieden, "weil das Spannendste am Menschen seine Gedanken sind". Die junge Ärztin ärgert sich darüber, daß gerade die Schizophrenie in der Gesellschaft als etwas Anrüchiges gilt und nicht als normale, behandlungsbedürftige Krankheit angesehen wird: Aber die meisten Menschen sprechen ja auch lieber über ihre Herz- als über ihre Darmbeschwerden. Es gibt eben Tabubereiche."

Bei Psychosepatienten gehen Ärzte von einer Stoffwechselstörung des Gehirns aus. Der Patient kann nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Tatsachen unterscheiden und wird daher von einer Informationsfülle überflutet. Meistens kommt es zu einem Realitätsverlust, der sich unter anderem in optischen oder akustischen Halluzinationen äußert. Viele Kranke berichten von dem Gefühl, dunkle Mächte führten etwas gegen sie im Schilde. Man behandelt Psychosepatienten mit sogenannten Neuroleptika. Wie bei Diabetikern ist die regelmäßige Einnahme der Medikamente unerläßlich. Da sich Psychosepatienten zum Teil ihrer Krankheit nicht bewußt sind, verweigern viele die Arzneimittel, was meistens zu Rückfällen führt.

Sabine Schröder geht im Durchschnitt alle 14 Tage zu ihrer Ärztin. In einem etwa halbstündigen Gespräch reden die beiden dann über das Befinden der Patientin und regulieren gegebenfalls die medikamentöse Behandlung. Durch den engen Kontakt konnte Dr. Jockers z.B. auch eine Schilddrüsenunterfunktion diagnostizieren und erfolgreich behandeln. Das ist nicht selbstverständlich, denn nicht selten steht die Psychose derart im Vordergrund, daß andere Erkrankungen dieser Patienten weder erkannt noch ernstgenommen werden.

Sabine Schröder ist froh, daß sie nicht stationär behandelt werden muß. Und: "daß da trotzdem jemand ist, der sich um einen kümmert." Der Zustand der 42jährigen hat sich immens verbessert. "In Begleitung bin ich sogar mit der Mitfahrzentrale zu meinen Eltern nach Bayern gefahren", erzählt sie. Die medizinische, psychologische und sozialtherapeutische Betreuung ist aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken.

Monica Brandis

* Name von der Redaktion geändert


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