Fokus Sozialpsychiatrie: DDR-System und Stasi-Haft
Schwerer Wandel: Vom passiven Opfer zum aktiven Betroffenen
Wie alle Diktaturen reservierte die DDR ihre schrecklichsten Strafen für die Täter-Kategorie der Andersdenkenden. Stasi-Haft bedeutete körperliche Entbehrungen, militärische Härte und psychische Folter. In der Bundesrepub lik Deutschland leben heute noch schätzungsweise 90.000 Menschen mit den Folgeschäden ihrer Hafterfahrungen. Zwar sieht das Rehabilitierungsgesetz von 1992 vor, sie als Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme anzuerkenne n. Doch neben der rechtlich-theoretischen Anerkennung fehlt vielen Betroffenen fachkundige ärztliche und therapeutische Hilfe. Demgegenüber stehen Gutachter und Therapeuten, denen es oft an Hintergrundwissen über konkrete gesellschaftliche und politische Zusammenhänge von DDR-System und Stasi-Haft mangelt. Unter dem Titel Eingesperrt und nie mehr frei. Psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR ist jetzt eine Publikation der Abteilung für Sozialpsychiatrie erschienen, die eine Einführung in die Problematik gibt, Schwachstellen aufzeigt und darüber hinaus allen eine Orientierungshilfe geben möchte, die in ihrer täglichen Arbeit mit Menschen zu tun haben, die unter psychischen Störungen und Beschwer den aufgrund politischer Inhaftierung in der DDR leiden".
Die Herausgeber Stefan Priebe, Doris Denis und Michael Bauer stellen als Ansatzpunkt für ihre Publikation das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung vor (PTSD für: post traumatic stress disorder). Denn: die Einführung diese s Konzepts hat ,vielen Opfern ziviler und staatlicher Gewalt die Anerkennung ihres psychischen Leidens als Folge traumatischer Erfahrungen erleichtert". Es war die Begutachtung von Soldaten des Vietnam-Krieges in den USA , die 1980 zum psychiatrische n Konzept der PTSD führte. Eine diesem ähnliche Diagnosen-Klassifikation wurde inzwischen in den internationalen Diagnosen-Code der Weltgesundheitsorganisation WHO aufgenommen. Darin wurde verankert, daß eine Extrembelastung wie KZ-Haft, F olter und andauernde lebensbedrohliche Situationen, z.B. auch in Naturkatastrophen" Auslöser für eine ,andauernde Persönlichkeitsveränderung" sein kann. Sie stellt damit auch eine Grundlage für Gutachter dar, die üb er Rehabilitierungsansprüche zu entscheiden haben.
Doch die heute bei ehemaligen Stasi-Verfolgten festgestellten Störungen passen nicht ohne weiteres in das Diagnose-Schema. Das zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, denen erstmals Gespräche mit mehreren hundert ehemaligen politischen Gefan genen in Berlin, Dresden und Halle zu Grunde lagen. Dabei ergaben sich beispielsweise in Berlin 17 verschiedene Diagnosen. Eine "reine PTSD" ist nur bei einem Viertel der Patienten feststellbar.
Die Nervenärzte, die die Studien an den drei Universitäten durchführten, standen damit vor der Aufgabe, die besonderen, für die Opfer der STASI-Haft typischen Beschwerdebilder zu ermitteln. Sie fanden bei ihren Probanden vorrangig D epressionen, vegetative Störungen und Verfolgungsängste. Zwei Drittel der Patienten gaben an, "vor der Haft noch niemals unter psychischen Beschwerden gelitten zu haben". Doch der Zugang zu einer fachärztlichen Behandlung ist f&uu ml;r die Betroffenen in der Realität vielfach verstellt. Viele scheuen sich, zum Arzt zu gehen. Dem Gang zum Arzt steht bei vielen Betroffenen ein krankheitsbedingter sozialer Rückzug entgegen. Suchen sie schließlich doch einen Arzt auf, s o kann es passieren, daß der Patient nur seine Beschwerden anspricht, die Haft jedoch verschweigt. Das Vertrauen in Therapeuten ist bei Haftgeschädigten oftmals erschüttert, weil - wie das Buch ausführlich belegt - schlechte Erfahrung en mit DDR-Haftpsychiatern nachwirken. Ist der Therapeut seinerseits nicht mit posttraumatischen Erkrankungen vertraut, besteht die zusätzliche Gefahr einer Fehlbehandlung.
Fazit: Der behandelnde Arzt von heute kommt nicht umhin, sich über den konkreten gesellschaftlichen und politischen Hintergrund der Krankheit - DDR-System und Stasi-Haft - zu informieren. Für ihn haben die Berliner Wissenschaftler einen Behan dlungs-Leitfaden erarbeitet*. Auch wenn der tiefere Zusammenhang zwischen traumatischer Belastung und nachfolgender Störung weiterhin ungeklärt ist, die Frage nach der Therapierbarkeit von Stasi-Opfern beantwortet das Herausgeberteam aus der Soz ialpsychiatrie mit einem klaren "Ja. Übergeordnetes Ziel muß es sein, dem Patienten zu einem gesünderen Selbstbild zu verhelfen: Er soll seine ehemaligen wie seine gegenwärtigen "positiven Bewältigungsstrategien entdeck en lernen und sich "vom passiven Opfer zum aktiven Betroffenen wandeln.
Sylvia Zacharias
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