- "Wenn ich morgens aufwache, liegt der Tag
wie ein großer Berg vor mir. Mein Körper fühlt
sich schwer und matt an. Ich habe zu nichts Lust." Mit
einem solchen Stimmungstief liegt man schon mal morgens im Bett,
besonders wenn man sehr viel Streß hat, eine schwere
Erkrankung oder den Tod eines nahen Angehörigen verkraften
muß. Hält diese Niedergeschlagenheit jedoch über
mehrere Wochen an, kann es sich um eine behandlungsbedürftige
Depression handeln.
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"Nur die Hälfte aller depressiven
Erkrankungen wird erkannt und nur ein Drittel psychiatrisch
behandelt", beklagt Dr. Bernd Ahrens von der
Psychiatrischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum
Benjamin Franklin. Er leitet zusammen mit Prof. Michael Linden
die Forschungsgruppe "Ambulante Therapie". Das Projekt
besteht schon seit über 15 Jahren und hat bisher
noch wenig Nachahmer in Deutschland gefunden. Hier steigt die
Forschung von ihrem Elfenbeinturm herab und begibt sich dorthin,
wo depressive Menschen zunächst Hilfe suchen: in die Praxis
des Arztes. So arbeitet die Forschungsgruppe mit etwa 400
Allgemeinmediziner/innen, 200 Nervenärzt/innen und
neuerdings auch mit Psychotherapeut/innen in Berlin zusammen.
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- Etwa 10 Prozent der Patienten, die wegen
körperlicher Beschwerden wie Schlaf- und
Verdauungsproblemen, Gliederschmerzen oder Beeinträchtigung
der Sexualität ihren Hausarzt aufsuchen, leiden
eigentlich unter einer Depression. In einer Studie mit 130
Patienten untersucht die Forschungsgruppe "Ambulante
Therapie" über ein Jahr lang, wie es den Patienten
beim niedergelassenen Arzt ergeht.
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Mit welchen Störungen kommen sie zum Arzt, wie schwer ist
die Depression, wie werden sie behandelt? Welche Faktoren wirken
sich günstig auf den Verlauf der Krankheit aus, wie z.B.
soziale Kontakte, das Wertesystem oder das Krankheitskonzept des
Patienten. So erkranken z.B. Menschen, die einen hohen
Leistungsanspruch an sich haben, eher an Depressionen als
Menschen, die manches nicht so genau nehmen. Auch die gängige
Einstellung "Wer krank wird, ist selber schuld" trägt
nicht gerade dazu bei, schnell zu gesunden.
- "Überraschenderweise akzeptieren die Patienten den
hohen Einsatz bereitwillig, die eine solche Studie von ihnen
verlangt", betont Dr. Ahrens. Stapel von Fragebögen
müssen sie ausfüllen, einige Tests über sich
ergehen lassen. So kauen sie z.B. morgens auf einem Wattetupfer,
mit dem gemessen wird, wieviel von dem Streßhormon
Cortisol der Speichel enthält. Denn die Wissenschaftler
gehen davon aus, daß Menschen, die zu Depressionen neigen,
sich besonders schnell überlastet fühlen. "Weil
man meinte, einen solchen Aufwand den Patienten nicht zumuten zu
können, wurden bisher ambulante Studien zu wenig gemacht",
sagt Ahrens.
- Ein erstes Zwischenergebnis an 50 Patienten zeigt, daß
entgegen den Erwartungen über ein Drittel der
Patienten an einer relativ schweren Depression erkrankt ist. Nur
ein Viertel leidet an einem leichteren Stimmungstief. Ob die
Ärzte die Patienten gut versorgen können, wird die
endgültige Auswertung Ende nächsten Jahres zeigen.
- Daß Depressionen nicht erkannt oder falsch behandelt
werden, liegt zum Teil in der manchmal mangelhaften Ausbildung
der Allgemeinmediziner. Psychotherapie oder Medikamente,
sogenannte Antidepressiva, stehen als Therapiemöglichkeiten
zur Verfügung. Manchmal wird beides kombiniert. Auch die
Bevölkerung hat mehr Informationen über die psychische
Erkrankung nötig. Die Wissenschaftler um Prof. Linden und
Dr. Ahrens haben dafür eine Patienten-Broschüre
entwickelt. Mit Hilfe eines Fragebogens ("Mein persönliches
Stimmungsprofil") können die Patienten herausfinden,
ob sie an einem normalen seelischen Tief oder an einer
handfesten Depression leiden.
- Ärger, Serotonin und Selbstmord. Eine nicht behandelte,
schwere Depression kann tödlich sein: Etwa 10 bis 15
Prozent aller Menschen, deren Depression nicht oder falsch
behandelt wird, begehen Selbstmord. Auch zu diesem Thema läuft
an der Psychiatrischen Poliklinik eine Studie. 70 Patienten, die
einen Selbstmordversuch überlebt haben, werden auf ihren
Serotoninspiegel hin untersucht. Serotonin gehört zu den
Botenstoffen, die den Hirnstoffwechsel steuern. Es ist schon
länger bekannt, daß Fehlregulationen des Serotonins
auf biochemischer Ebene mit dafür verantwortlich sind, daß
ein Mensch sich umbringt. Was man bisher noch nicht weiß:
Welche Gefühle und emotionalen Impulse hängen im
Detail vom Serotonin ab? In der Studie, ebenfalls unter der
Leitung von Dr. Ahrens, werden die Patienten deshalb nicht nur
unter biochemischen, sondern auch psychologischen und
soziologischen Gesichtspunkten unter die Lupe genommen. Was man
bisher herausgefunden hat: Suizidalität geht neben
den Auffälligkeiten des Serotonins mit starker
Erregbarkeit einher und mit einer mangelnden Fähigkeit,
Ärger zu bewältigen. Deshalb möchten die
Wissenschaftler demnächst mit dem Thema "Ärger"
in die Praxen von niedergelassenen Ärzten gehen. Ahrens hat
bereits für eine mögliche Vorbeugung von Selbstmorden
durch Medikamente einen Forschungspreis erhalten. Vielleicht
folgen aus der neuen Untersuchung auch psychologische Maßnahmen
zur besseren Ärgerbewältigung - damit mehr Selbstmorde
verhindert werden.
- Anke Nolte
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