Mit einem kleinen roten Feuerwehrauto in der Hand saust Alex laut brummend in das Behandlungszimmer. "Da ist ja mein Proffi", begrüßt er freudestrahlend den Mann im weißen Kittel und gibt ihm die Hand. Der Vierjährige fühlt sich ganz offensichtlich wie zu Hause in dem mit bunt gemalten Kinderbildern und vielen Kinderfotos geschmückten Arbeitszimmer des Kinderchirurgen Professor Dr. Jürgen Waldschmidt. Kein Wunder - denn seit seinem zweiten Lebensmonat kommt Alexander Mayers* mit seiner Mutter regelmäßig alle drei Monate zur Kontrolluntersuchung hierher.
Im August 1991 wurde er in Kauldorf bei Berlin mit einer seltenen Fehlbildung, einer sogenannten Blasenspalte (Blasenextrophie) geboren. "Sein Unterbauch war ab dem Bauchnabel offen, von der Blase war nur die Rückwand vorhanden, die wie ein blumenkohlartiges Gewächs aus dem Bauch heraushing. Auch das Becken und die Harnröhren waren gespalten, sie sahen aus wie aufgeklappt, und vom Penis war nur die Eichel zu sehen." Auch heute noch kann Alexanders Mutter, Cornelia Mayers, ihre Gefühle, die Angst und Hoffnungslosigkeit von damals kaum beschreiben.
Nach unauffälligen Ultraschallbildern und einer vollkommen normal verlaufenen Schwangerschaft und Geburt hatte sie die Nachricht von der Krankheit ihres Sohnes völlig unvorbereitet getroffen. Zwar wurde Alex sofort in die CharitŽ verlegt, aber auch dort machte man der verzweifelten Mutter wenig Mut: "Es hieß, mein Sohn hätte kaum Chancen, ein normales Leben zu führen". Mit Hilfe von Freunden erfuhr Cornelia Mayers schließlich über "tausend Ecken" von Professor Jürgen Waldschmidt im FU-Klinikum Benjamin Franklin, der seit fünfzehn Jahren erfolgreich Kinder mit Blasenspalten behandelt.
Als der Chef der Abteilung für Kinderchirurgie den kleinen Alex das erste Mal sah, war der inzwischen vier Wochen alte Säugling für ihn "fast schon ein Rentner". Denn Kinder mit dieser Fehlbildung operiert er normalerweise schon wenige Stunden nach der Geburt: "Da ist das Blasengewebe noch nicht angeschwollen und infiziert und die Knochen sind noch so weich, daß man vieles wieder hinbiegen kann." Bei Alexander rekonstruierte Prof. Waldschmidt in einem siebenstündigen mikrochirurgischen Eingriff die Blase, bastelte neue Harnröhren, brachte das Becken und die Hüftgelenke wieder in die richtige Stellung und schloß den Bauch. Ziel ist es, die offenen Organe schnell in einer großen Operation zu schließen und den normalen Verhältnissen möglichst genau nachzubilden. "Wenn das nicht in den ersten Tagen oder Wochen gelingt, schafft man es meistens nie mehr. Das bedeutet, daß diese Kinder einen unendlichen Leidensweg vor sich haben." Zum Glück tritt diese tückische Fehlbildung, über deren Ursachen nur wenig bekannt ist, selten auf. So kommt in Berlin im jährlichen Durchschnitt von 30.000 Neugeborenen ein Kind mit einer Blasenspalte auf die Welt. Bei Jungen tritt sie etwa zweieinhalb mal so häufig auf wie bei Mädchen.
Prof. Waldschmidt rekonstruierte in einem siebenstündigen Operationsmarathon Alexanders Blase, bastelte neue Harnröhren und brachte Becken und Hüftgelenk wieder in die richtige Stellung.
Prof. Waldschmidt versteht nicht, daß sich viele Kliniken heute noch scheuen, Neugeborene mit einer Blasenspalte sofort zu operieren. Mit einem manchmal Jahre lang offenen Bauch, einer künstlichen Harnableitung, keinen oder unterentwickelten Genitalien können sich diese Patienten kaum gesellschaftlich integrieren.
Um ihren Kindern dieses Schicksal zu ersparen, nehmen Eltern, die ihre Kinder im Universitätsklinikum Benjamin Franklin operieren lassen, die Risiken in Kauf, die so eine große Operation unmittelbar nach der Geburt für das Leben des Neugeborenen mit sich bringt. "Was für mich damals einzig und allein zählte, war die Hoffnung auf ein normales Leben für meinen Sohn, und ich bin heute natürlich sehr glücklich." Während seine Mutter erzählt, spielt Alex leicht gelangweilt mit seinem Auto und macht sich schließlich auf die Suche nach den Schokoladenplätzchen des Professors.
Nur in einem Punkt unterscheidet er sich von Kindern seines Alters: Er braucht noch Windeln. Denn obwohl er seine Blase kontrollieren kann, tröpfelt aus einer Fistel an der Narbe neben dem Penis noch Resturin. Um diese unnatürliche Verbindung nach außen zu schließen, ist schon ein Operationstermin im nächsten Jahr verabredet. Alex ist zuversichtlich:"Wenn der Proffi mich jetzt noch mal operiert, dann brauche ich keine Windel mehr und kann auch einen Schlüpfer anziehen".
Betina Meißner
*Name von der Redaktion geändert