Prof. Dr. Klaus Landfried, Präsident der HRK

Die Freie Universität auf dem Weg in die Zukunft



(Foto: Schulz)
Auch wenn ich Sie gleich mitnehmen will auf eine ideelle, also auf eine "Kopf-Reise" in mögliche, keineswegs freilich sichere Zukünfte dieser Stätte von Erkunden und Erkennen, von Bildung und Ausbildung, von Kultur und Dienstleistung, kann ein kurzer Blick auf abgelebte, aber doch bewahrte Worte, Überzeugungen und Taten der eigenen Vergewisserung dienen.
Über den inneren Antrieb derer, die vor 50 Jahren die Universität "Unter den Linden" verließen, um schließlich hier in Dahlem akademische Freiheit neu zu leben, muß ich nach soviel Erinnerung in diesem Jahr nichts weiter sagen, aber doch auf den einfachen Sinn hinweisen, den akademische Freiheit schon lange ausmacht, nämlich: "Soviel lernen zu dürfen, wie man nur will." Ein alter Sinnspruch, der vom alten Virchow stammt und mehr als 100 Jahre alt ist. Natürlich ist es nicht sein Alter, das ihn legitimiert, sondern die Nachhaltigkeit, mit der er handlungsorientierende Werte vermittelt. Von gleicher Qualität ist auch die Erkenntnis des noch älteren, auch in den praktischen Dingen so erfindungsreichen Benjamin Franklin, der mahnte: "Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
Solcherlei Sentenzen bewähren ihre Kraft erst in den Entscheidungssituationen des Alltags. Die frührere WRK, ein Jahr jünger als die FU Berlin, und ihre gesamtdeutsche Fortsetzung als HRK haben 2 Jahresversammlungen (1979 und 1998), 2 Plenarversammlungen (1953 und 1964) und mehrere Senatssitzungen (in den 80er Jahren und 1990) in Berlin abgehalten, was vor 1989 durchaus als Zeichen der Solidariät der westdeutschen mit den Berliner Hochschulen zu verstehen war.
Der heutzutage meist wortreich - was nicht mit ideenreich zusammenfallen muß - in der Öffentlichkeit agierende Bundesverband der Bedenkenträger, Freund aller historisch gewachsenen Rechts-Biotope, wenn es um neue Wege in die Zukunft der Gesellschaft geht, also die Stimme jener Bedenkenträger war auch 1948 aus der einen oder anderen westdeutschen Universität gegenüber der neuen FU zu vernehmen. In bester Absicht, den Blick fest auf die zu sichernde Einheit des Vaterlandes (und Berlins) gerichtet, erklärte der damalige Rektor der Frankfurter Universität, Professor Dr. Walter Hallstein, auf einer Konferenz in Braunschweig seine Bedenken gegen die Neugründung einer "Freien Universität" unter anderem damit, daß alles unterlassen werden müsse, was die Universitäten der Sowjetzone vom Westen trennen könnnte. Als hätten die West-Universitäten das in der Hand gehabt. Als hätte angesichts der längst verlorenen oder genauer: unterdrückten akademischen (und anderen bürgerlichen) Freiheit die moralisch hochgespannte, aber politisch hilflose akademische "Hallstein-Doktrin" auch nur die Spur einer Chance gehabt. Und heute dürfen wir froh sein, daß die Universität "Unter den Linden" wieder frei ist, und daß die Freie Universität Berlin sich anschickt, "im kooperativen Wettbewerb" - um das Thema unserer diesjährigen Jahresversammlung aufzugreifen - mit den anderen Berliner Hochschulen den Weg in die zweiten 50 Jahre zu betreten, im Augenblick unter Rahmenbedingungen, die nur als schwierig zu bezeichnen fast schon einem Euphemismus gleichkäme, die aber zugleich zu kreativen und mutigen Strukturentscheidungen auffordern. Unsere gemeinsame "Kopfreise" in die Zukunft will ich mit einem Blick auf unsere, auf Ihre Aufgaben beginnen:
Seit ihrem ersten Auftreten im Hochmittelalter waren Universitäten zugleich Inititiatoren von Wandel und Bewahrer des Bestehenden. Sie schufen neues Wissen, schützten überkommene, über Generationen erworbene Kultur vor dem Vergessen und gaben das alte wie das neue Wissen an die nächste Generation weiter. Anfangs und für lange Zeit waren die Universitäten winzige elitäre Inseln in einer Gesellschaft, in der Wissenserwerb das kaum erschwingliche Privileg einiger Weniger war. Heutzutage ist lebenslanges Lernen zu einer Überlebensvoraussetzung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft geworden, sind moderne Universitäten in Industrieländern zu großen Organisationen mit Budgets von rund 1 Mrd. DM angewachsen, die bis zu 40 Prozent eines Jahrgangs in höchst diversifizierten Studiengängen bilden und ausbilden und zugleich durch ihre Forschungsaktivitäten als wichtige "Zukunftswerkstätten" der Gesellschaft fungieren. Die Universitäten werden ihre zentrale Rolle als Agenturen des Wandels wie des Bewahrens in der entstehenden Wissensgesellschaft nur dann ausfüllen können, wenn sie an den grundlegenden Prinzipien der Freiheit der Lehre auf der Grundlage eigener Forschung und an der relativen Autonomie und Stärke der Institution festhalten: Die Universität ist der sie als öffentliche Aufgabe unterhaltenden Gesellschaft rechenschaftspflichtig im Hinblick auf Organisation, finanziellen Aufwand und Ergebnis, nicht aber im Hinblick auf wahr oder falsch wissenschaftlicher Erkenntnis. Daß die indiviuelle ethische Verantwortung derer, die Wissenschaft betreiben, davon nicht berührt wird, sollte klar sein.
Um wen muß sich die moderne Universität kümmern? Da sind zunächst die Studierenden, jüngere und ältere, Präsenz- oder Fernstudenten, dann die Professorinnen und Professoren und die anderen Mitarbeiter, schließlich die Gesellschaft in einem regionalen, nationalen, europäischen und globalen Rahmen.
Die zwei sich scheinbar widersprechenden Konzepte der "Republik der selbstbestimmten Forschenden, Lehrenden, Lernenden" einerseits und des "Dienstleistungsunternehmens" andererseits sollten in einer ausgewogenen Synthese zusammengeführt werden, da es sich in Wirklichkeit um die zwei Seiten einer Medaille handelt: Akademischer Individualismus, der sich nicht um die Gesamtinstitution und ihre sozialen Belange schert, wird ebenso an seiner Blindheit scheitern wie die fremdgesteuerte stromlinienförmige "Wissensfabrik", die auf die individuelle Disposition zu kreativer Forschung und Lehre und auf den kulturellen Auftrag keine Rücksicht nimmt.
Nimmt die Universität jedoch bewußt Anregungen von außen auf und sucht Dialog wie Zusammenarbeit mit externen Partnern, seien es andere Universitäten, Unternehmen oder andere NGO's, so wird dies nicht zu einer Fremdsteuerung der Universität führen, sondern im Gegenteil ihr Profil und ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Schließlich kann das universitäre "Territorium" sowieso nicht gegen das Eindringen "fremden" Wissens geschützt werden. Insoweit war die Vorstellung einer sozusagen autarken Autonomie immer eine eitle, ja arrogante Illusion. Von Hochschulen wird zu Recht erwartet, Rechenschaft abzulegen über die Art, wie sie Steuergelder verwenden und über den zu erwartenden "Mehrwert" für diejenigen, für die sie da sind. Aus diesem Grund brauchen wir auch Leistungsindikatoren, die langfristige Entwicklungen im "bench-marking" erkennen lassen und die qualitative Bewertungen quantitativ ergänzen.
Bei der institutionellen Autonomie und der akademischen Freiheit handelt es sich idealiter um die zwei Seiten derselben Medaille. Moderne Universitäten arbeiten in zunehmendem Maße als Systeme mit verschiedenen Ebenen von Subsystemen, vom Rektorat/Präsidium und Senat über Fakultäten und Institute bis hin zu Gruppen einzelner Professoren. In Frankreich und den USA sind übergreifende Universitätssysteme (Pôles) entstanden, in denen über Strategie und grundlegende Strukturen in einer (kleinen) Zentrale entschieden wird, natürlich nicht "einsam", sondern im Dialog mit den anderen, aber doch entschieden, während nach dem Subsidiaritätsprinzip alle operativen Entscheidungen in Forschung, Lehre und Transfer an die einzelne Hochschule, die Fakultät, das Institut oder an einzelne Teams von Forschern, Lehrern und Lernenden delegiert werden. Da Lernbereitschaft und kreatives Potential mit dem Grad an Eigenverantwortlichkeit zunehmen, werden sich weitsichtige Leiter von Universitätssystemen, Universitäten, Fakultäten und Instituten in erster Linie vom Prinzip, Verantwortung zu delegieren, leiten lassen. Dies ist ein besserer Weg hin zu einer corporate identity als deren bloße Beschwörung, auch wenn sich dabei Fehler oder Mißmanagement nie ausschließen lassen.
Wer den Wandel draußen vorantreiben will, darf sich selbst dem Wandel im Inneren nicht verschließen. Wie selbstverständlich setzen wir beispielsweise konventionelle Medien wie Bücher, Zeitschriften, Briefe und die auch schon leicht ergrauten Telefon, Fax und Kopierer in Forschung und Lehre ein. Computer und ihre Netze hingegen werden das universitäre Leben und Arbeiten grundlegend verändern, vor allem, weil die Grenzen der Institution zunächst einmal gründlich durchlöchert werden. Die einst bequeme Entschuldigung des "Mir-noch-nicht-bekannt" entwickelt sich, vor allem für Studierende leicht durchschaubar, zu einem schweren Fehler mit unmittelbaren Auswirkungen auf die akademische Reputation. Die neuen Lerntechniken und Lehrangebote über Internet werden dieselben Auswirkungen auf die "institutionelle Autonomie" und auf "Lehrmonopole" einzelner Hochschullehrer haben wie die sprichwörtlichen Posaunen auf die Mauern von Jericho: Sie werden zusammenstürzen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Lehre auf der Grundlage der Neuen Medien heute technisch noch nicht so gut funktioniert, wie man sich das wünschen würde, besonders in Dialogsituationen. Auch ist die notwendige Modularisierung von Studiengängen noch nicht überall erfolgt.
Der erforderliche Prozess der Qualitätssicherung durch eine zeitlich begrenzte Akkreditierung der Studienprogramme beginnt erst zaghaft und findet vorläufig überwiegend im nationalen Rahmen statt, sofern er in Deutschland nicht noch weiter provinzialisiert wird. Einige "Wissensfabriken" sind bereits dabei, Programme und Abschlüsse über das Internet anzubieten, ohne daß ihre Lehre und Forschung - sofern von Forschung bei einem meist nur von "richtigen" Universitäten ausgeliehenen Mitarbeiterstab auf Teilzeitbasis überhaupt die Rede sein kann - bisher evaluiert und akkreditiert worden wären.
Man sollte also den Universitäten und Unternehmen, die sich bei der Anerkennung dieser Module und Abschlüsse noch zurückhalten, keinen Vorwurf machen. Aber die Hochschulen sollten sich selbst zu einer Evaluation und Akkreditierung aller Institutionen und Programme verstehen, um einen fairen und transparenten Wettbewerb zu gewährleisten.
Ebenso wie in der Geschäftswelt sind Wettbewerb und Zusammenarbeit in zielorientierten Allianzen und Netzwerken auch im akademischen Bereich durchaus kompatibel. Universitäten waren von Anfang an transnational. Dass Wissenschaft und wissenschaftsbasierte Erkenntnis zu nationalistischen Zwecken missbraucht wurden und teilweise immer noch werden, ist unbestreitbar. Und die Unterdrückung der akademischen Freiheit durch die gegenwärtige Regierung Serbiens ist ein Skandal, über den ich mir mehr Berichte in den deutschen Medien wünschen würde. Wenn Universitäten nicht daran festhielten, in regionalen, nationalen, europäischen und globalen Netzwerken mitzuarbeiten, verlören sie genau das Profil und die Stärke, die sie zu sichern bestrebt sind. Es wird nicht darum gehen, ob Universitäten ihre Absolventen auch dann noch als ihre eigenen unverwechselbaren "Produkte" betrachten können, wenn diese Teile ihres Studiums außerhalb der Institution abgelegt haben, sondern ob die Ausbildung der Studierenden gut ist oder nicht. Wenn es zu einer wirklichen und transparenten Modularisierung kommt, werden alle beitragenden Einrichtungen zu ihrem Recht kommen, auch hinsichtlich der akademischen Reputation.
Selten oder nie erwachsen ethische Orientierung und auf sie gestützte gesellschaftliche Handlungsanleitungen aus wissenschaftlicher Erkenntnis, die allein im Experiment, durch Zitieren oder statistisches Auswerten gewonnen wurde. Warum auch sollte eine große Universität weniger fragmentiert sein und weniger um Identität und Zusammenhalt ringen als die fragmentierte Gesellschaft, deren Teil sie ist?  Die Universität war traditionell ein Forum für den friedlichen und geregelten Austausch von Argumenten auf der Basis experimental-wissenschaftlicher Erkenntnis und logischen Denkens. Sie hat die Chance, dies auch in Zukunft zu bleiben, aber dafür gibt es keine Garantie. Moderne Universitäten sind wieder offene Institutionen. Der Dialog und die Zusammenarbeit mit Unternehmen, Kirchen, Gewerkschaften, Parlament und Regierung, Parteien, Sport- und Berufsverbänden, Künstlern darf deshalb nicht vermieden, sondern muss gesucht und in professioneller Weise organisiert werden.
All das Gesagte gilt natürlich auch für die Freie Universität Berlin: Wie kann sie diesen Weg in die Zukunft erfolgreich gehen?
Nun, ich glaube, vor allem freier: freier in der Wissenschaft, in Forschung, Bildung und Ausbildung, vor allem dem lebenslangen Lernen verpflichtet, als Stätte orientierender Kultur und kreative Werkstatt für die Zukunft der Gesellschaft. Freier auch von kleinkarierter Staatsintervention wie von kurzsichtigen Gruppenegoismen und professionell, d.h. persönlich verantwortlich geführt von Frauen und Männern mit Zivilcourage. Schließlich auch freier durch den über die Neuen Medien in Hörsäle und Labors wehenden frischen Wind weltweiten Wettbewerbs neuer Ideen. Daß hierzu auch eine neue, stärker persönliche Kultur des Umgangs der Lehrenden mit den Lernenden und umgekehrt gehört, hoffe ich, weiß aber, daß dies ohne andere, eher zumutbare Betreuungsrelationen sehr schwer ist.
Die FU wird noch internationaler sein als heute, mit noch mehr ausländischen Studierenden und vor allem Lehrenden, mit vielen Bachelor- und Master-Studiengängen und mit modularisierten Weiterbildungsprogrammen, die sie über Netz weltweit anbieten wird. Dabei wird sie sich arbeitsteilig mit der Humboldt-Universität, der Technischen Universität und der Universität Potsdam vernetzen.
Die Freie Universität wird über effizientere Entscheidungsstrukturen verfügen. Wie zwischen Land und Hochschule wird die interne Steuerung zwischen Universitätsleitung und Fachbereichen ebenso wie zwischen Fachbereichen und Instituten über mehrjährige Zielvereinbarungen erfolgen, an deren Ausarbeitung hinsichtlich Studium und Lehre sowie der Betreuung durch die Professoren die Studierenden nachhaltig beteiligt sein werden.
Die Freie Universität wird - so sehe ich es voraus - über die traditionellen Graduiertenkollegs hinaus Forschungskollegs mit internationaler Besetzung und in Zusammenarbeit mit außeruniversitären Instituten aufbauen.
Sie wird immer noch in der frischen, freien Luft von Berlin-Dahlem zuhause sein, vielleicht die Nutzung ihrer Grundstücke optimiert haben, und sie wird endlich verschont sein von immer neuen Sparauflagen der Landesregierung von Berlin-Brandenburg, frei schließlich von immer neuen Einfällen der Regierung zum Schönrechnen von Studienplatzzahlen, durch immer neue Milchmädchen-  oder Milchmänner-Rechnungen. Wer beim wissenschaftlichen Nachwuchs das Messer ansetzt, handelt wie ein Gärtner, der im Frühjahr die Äste mit den Blüten abschneidet und sich im Sommer wundert, daß es keine Früchte gibt.
Soweit die aus Erkennen und Hoffen, Wünschen und Wollen gemischte, ideelle "Kopfreise" in mögliche Zukünfte der FU. Mitgeben will ich Ihnen zum Schluß noch zwei weitere historische Zitate. Das eine vom damals schon entlassenen Alt-Kanzler Bismarck, gesprochen zu den Vertretern der deutschen Universitäten, technischen Hochschulen und Kunstakademien in Bad Kissingen am 18.8.1891: "Bekämpfen Sie diese unglückliche Neigung zur itio in partes beim Fraktionswesen! Wenn Sie zusammenhalten, werden Sie den Teufel aus der Hölle schlagen." Das andere, von Leonardo da Vinci, tröstet auch in schwieriger Zeit: "Wissenschaft verjüngt die Seele und vermindert die Bitterkeit des Alters."

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