Identitätsprobleme in Jugoslawien
Wie aus Freunden Feinde werden
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind von vielen Beobachtern als
Ausdruck nationaler Widersprüchlichkeiten wahrgenommen worden, die
unter der Herrschaft von Tito durch repressive Maßnahmen zwar unter
Kontrolle gehalten, aber nicht überwunden werden konnten. Mit dem
Verlust der Machtstrukturen durch den Zusammenbruch des realsozialistischen
Systems, einschließlich des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus
seien die bislang unterdrückten nationalen Gegensätze mit ungeahnter
Wucht ausgebrochen. Aus diesem Blickwinkel heraus bereitet die Erklärung
für die Kriege im ehemaligen Jugoslawien keine großen Schwierigkeiten.
Die Nationen seien von Beginn an zu verschieden gewesen, um auf Dauer friedlich
zusammenleben zu können. Die jahrzehntelange Ideologisierung und Tabuisierung
der nationalen Frage führte zu einer Zuspitzung der Situation, die
in den Kriegen eskalierte.
Ein Land geht in die Brüche (Fotos: Hajo Funke)
Mit dieser scheinbar plausiblen Position gibt sich das Forschungsprojekt
"Identitätswandel in Jugoslawien" unter der Leitung von Prof. Holm
Sundhaussen vom Osteuropa-Institut der FU und Prof. Wolfgang Höpken
vom Historischen Seminar der Universität Leipzig nicht zufrieden.
Zusammen mit Belgrader Kollegen untersuchen sie, ob die jugoslawische Identität
nur eine Fassade war oder ob sie tatsächlich existierte. Das Projekt
baut auf der Beobachtung auf, daß es Phasen gab, in denen es möglich
war, sich sowohl als Slowene, Kroate, Serbe etc. wie als Jugoslawe zu verstehen,
ohne daß dies von den Betroffenen oder ihrem Umfeld als Widerspruch
aufgenommen wurde. Im Fall von Jugoslawien geht es um ethnische und politische
Selbst- und Fremdzuschreibung, um ihr Verhältnis zueinander und um
die Gründe für ihren Wandel. Im Mittelpunkt von Identität
steht das Verständnis von Nation. Wird die Nation als Abstammungsgemeinschaft
begriffen, wie zum Beispiel in Deutschland oder Südosteuropa, dann
ist diese durch die Herkunft festgelegt. Die Abstammung (ethnische Identität)
ist weder wähl- noch ablegbar. Wenn dagegen die Nation als politische
Gemeinschaft bzw. als Wertegemeinschaft aufgefaßt wird, dann sind
die vorgefundenen Identitätsgrenzen zumindest theoretisch überwindbar.
Zwar gibt es auch hier Abgrenzungen, da sonst keine Identität
vorliegen würde, aber im Unterschied zur ethnischen Identität
sind hier die Grenzen von den Individuen frei wählbar und können
akzeptiert oder abgelehnt werden. Ein Paradebeispiel ist Frankreich. "Hier
wird ein Algerier als Franzose angenommen", sagt Prof. Sundhaussen. "Die
Herkunft spielt hierbei keine Rolle, entscheidend ist allein die Akzeptanz
durch die anderen".
Am Beispiel der bosnischen Muslime ist die unterschiedliche Bedeutung
der verschiedenen Nationsverständnisse klar zu erkennen. Aus der Sicht
der Serben und Kroaten hatten und haben
die Muslime kein "Recht" aus ihrer kroatischen und serbischen Abstammungsgemeinschaft
auszutreten. Auch nach einem Konfessionswechsel ihrer Vorfahren blieben
sie Serben und Kroaten.
Im ersten jugoslawischen Staat (1918-41) wurde von amtlicher Seite
aus ein ethnischer Jugoslawismus propagiert, der nach dem zweiten Weltkrieg
durch einen politischen Jugoslawismus ersetzt wurde. So hatten die Bürger
des Landes die Möglichkeit, sich ethnisch und politisch auf unterschiedlichen
Identifikationsebenen zu definieren. Die Zugehörigkeit zur jugoslawischen
Nation stand nicht im Gegensatz zu der Zugehörigkeit zu einer Ethnonation,
sondern schloß diese Möglichkeit ein. Die wachsenden sozioökonomischen
Probleme Jugoslawiens seit Ende der 70er Jahre schmälerten die Anziehungskraft
des politischen Jugoslawismus. Der Niedergang der realsozialistischen Systeme
und die Auflösung des Ost-West-Konfiktes verschärften die Orientierungsprobleme
und führten zu einer Beschleunigung des Entwertungsprozesses. Die
mit dem politischen Jugoslawismus verbundenen positiven Werte kehrten sich
seit Mitte der 80er Jahre in öffentlichen Diskursen immer mehr in
das Gegenteil um.
Der politische Jugoslawismus geriet immer weiter in die Krise und die
Ethnonationen gewannen immer stärker an Bedeutung. Dies führte
dazu, daß aus vertrauten Menschen langsam Fremde und letztendlich
Feinde wurden, weil die Abstammung der Menschen in dieser Zeit des Umbruchs
und der Unsicherheit wieder an Bedeutung gewann.
Durch die Auswertung von Statistiken, Umfragen, Archivmaterial und
Medien sollen nun genauere Aussagen über die Entfremdungsprozesse
getroffen werden können, die in die ethnischen Säuberungen der
jüngsten Kriege führten.
Skeptiker gehen davon aus, daß nationale Mehrfachidentitäten,
das heißt die Identifizierung der Bürger als z. B. Kroate und
gleichzeitig als Jugoslawe, nicht bestehen können. Gegen diese Behauptung
spricht jedoch die Tatsache, daß es Vielvölkerstaaten wie z.
B. die Schweiz gibt, in denen dieses tatsächlich möglich ist.
Dies bedeutet, daß Vielvölkerstaaten damit nicht von Beginn
an zum Scheitern verurteilt sind. Ethno-Nationalismus ist nicht einfach
vorhanden oder nicht, sondern könnte eine "Möglichkeit" sein,
die zum Beispiel mit Unterstützung der Medien, aktivierbar wäre.
" Der Ethno-Nationalismus bietet viel individuellen Spielraum", sagt Prof.
Holm Sundhaussen. "Wenn man einer Bevölkerungsgruppe lange genug erzählt,
daß es ihnen so schlecht geht, weil es den anderen so gut geht, dann
wird das irgendwann auch geglaubt".
Gefördert wird das Projekt von der Volkswagenstiftung in ihrem
Förderschwerpunkt "Das Fremde und das Eigene - Probleme und Möglichkeiten
interkulturellen Verstehens".
Karin Dobelmann