Im Gespräch: drei Medizinstudenten-Generationen
Viel Theorie, wenig Praxis
Zu einem Generationengespräch unter Medizinern trafen sich zwei ehemalige
FU-Absolventen mit einem 'aktuellen' Medizinstudenten. Prof. Stanislaw
Karol Kubicki, emeritierter Professor für klinische Neurophysiologie
(72), Studienjahrgang 1948, und Dr. Ludwig Schaffner (48), niedergelassener
Internist, Studienjahrgang 1972 und Lars Mantey (25), Medizinstudent im
3. klinischen Semester am UKBF, Studienjahrgang 1995. Das Gespräch
führte Dietmar Krähmer.
? Was ist eine Studentengeneration ?
Kubicki: Bei uns war die Altersstreuung sehr groß, weil
es etliche gab, die durch Nazizeit und Krieg nicht studieren konnten. Möglicherweise
stellen nur diejenigen Studenten eine Generation dar, die politisch gefordert
waren. Bei uns war es die Auseinandersetzung mit den Sowjets. Als wir uns
von drüben trennten, war noch nicht klar, ob die Amerikaner bleiben
würden. Das wurde erst klar, als die FU gegründet wurde. Daraus
ergab sich eine einmalige Gemeinschaft aus Lernenden und Lehrenden, zumindest
in den ersten vier Semestern. Wir haben alle an der Gründung mitgearbeitet.
Mantey: Die meisten Studenten meiner Generation sind darauf
konzentriert, ihr Studium möglichst schnell beenden zu können.
Die politische Aktivität ist nicht sehr ausgeprägt. Sogar bei
den Protesten gegen Studiengebühren waren höchstens 10% der Studenten
auf der Straße. Meine Generation dominiert die Sorge um die Zukunft.
Selbst mit einem guten Abschluß gibt es keine Garantie, einen Arbeitsplatz
zu bekommen.
Schaffner: In meiner Zeit sind manche Studenten in die Fabriken
gegangen, um dort politische Arbeit zu leisten. Andere waren in K-Gruppen
(Kommunistische Gruppen, Red.) organisiert. Der Studentenalltag im Klinikum
Steglitz war insgesamt stark politisiert. Teilweise gelang es, allgemeinpolitische
Ziele wie die Weltrevolution mit universitätspolitischen Zielen zu
verbinden. Die offiziellen Gremien und Würdenträger der Uni waren
für uns uninteressant.
Kubicki: In den 50er Jahren, der Phase der Konsolidierung der
FU, als wir als Studenten abtraten, begann bei den Professoren eine Veränderung.
Die glichen sich wieder mehr dem alten Ordinarienprinzip an. Und es war
in der Tat so, daß sie nicht mehr auf die Studentenvertreter hörten.
Bei uns haben die genau zugehört.
Schaffner: Ich habe die Professoren nicht als Lehrer erlebt.
Der Begriff Lehrer wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Das war
der Prof, der Oberguru, mit dem man in der Regel nichts zu tun hatte.
In meiner Zeit sind ja die Studentenzahlen enorm gestiegen. Das war
Massenuniversität. Im Gynäkologie-Praktikum wurden wir schon
vor dem Kreißsaal von der Hebamme abgefangen. Die erste Entbindung
habe ich bei meinem eigenen Kind gesehen. Da war ich schon sechs Jahre
Arzt.
Kubicki: Zum Vergleich, ich habe während meines Studiums
15 Entbindungen vorgenommen. Danach aber nie wieder.
Schaffner: Im HNO-Praktikum drängten sich 14 Studenten
in einem kleinen Untersuchungsraum um eine Patientin. Mit dem Ergebnis,
daß nur die Vordrängler die Untersuchung mitbekamen.
Mantey: Ganz so schlimm ist es bei uns nicht mehr. Ich habe
unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Zum Teil sind wir zwei oder drei
Studenten am Krankenbett. Mein "Innere Untersuchungskurs" war aber eine
Katastrophe. Da begrüßte uns der genervte Assistent: "Oh Gott,
schon wieder die Studenten." Häufig ist die Ausbildung in kleinen
Häusern besser.
? Welche Erinnerungen haben Sie an die Prüfungen ?
Kubicki: Zu meiner Zeit waren die Anatomen noch richtige Ferkel.
Der alte Professor Kopsch zum Beispiel hat mir in der Prüfung drei
ferklige Witze erzählt. Bis ich den Mut hatte, ihm einen zu erzählen,
den er noch nicht kannte. So was erleben sie heute nicht mehr.
Mantey: Das ist vielleicht auch ganz gut so.
Schaffner: Ich bin gerade in die Welle gekommen, wo mit Macht
die Multiple-Choice-Fragen eingeführt wurde. Die Chemie-Klausur haben
wir zweimal erfolgreich boykottiert, bis wir schließlich unter Polizeischutz
in Vierergruppen über Berlin verteilt die Klausur geschrieben haben.
Kubicki: Damals waren die Hochschullehrer geschlossen gegen
Multiple Choice. Es ist mit Gewalt durchgedrückt worden. Ursprünglich
auf Wunsch der Studenten, die später bemerkten, wie unangenehm das
eigentlich ist. Und inzwischen haben viele Hochschullehrer gesehen, daß
es auch bequem sein kann.
Schaffner: Auch gegen die Einführung des Praktischen Jahres
haben wir mit Streik protestiert. Weil es im Gegensatz zum früher
üblichen Medizinalassistenten kein Geld gab und einen völlig
hilf- und rechtlosen Status auf Station bedeutete.
? Wie waren die Aussichten nach dem Studium ?
Kubicki: Gar nicht so gut. Viele Absolventen mußten in die
Industrie gehen. Die meisten Pharmareferenten waren damals Ärzte.
Als Mitte der 50er Jahre die Niederlassungsfreiheit kam, änderte sich
die Situation. Da sind alle rausgestürzt und haben ihre Praxen aufgemacht.
Schaffner: Stellenprobleme gab es bei uns eigentlich nicht,
weil sich die Kollegen, sobald sie den Facharzt hatten, niederließen.
Dadurch herrschte im Krankenhaus eine hohe Fluktuation. Daß jemand
jenseits der 35 noch Assistent ist, so wie heute üblich, war undenkbar.
? Wie würden Sie das Medizinstudium reformieren?
Schaffner: Es sollte parallel praktisch und theoretisch gelernt
werden. Ich habe während des Studiums viel als Extrawache gearbeitet.
Es hat mich motiviert, wenn in der Vorlesung oder im Lehrbuch zufällig
die gleichen Themen behandelt wurden.
Mantey: Eine Verknüpfung von Theorie und Praxis ist noch
heute der Wunsch der meisten Studenten. Wozu zwei Jahre Vorklinik? Die
Dozenten sollten besser danach ausgesucht werden, ob sie überhaupt
Lehre machen wollen. Ein Assistent ohne Interesse an der Lehre ist an einer
Uniklinik fehl am Platz.
? Was kann das Benjamin-Franklin-Kolleg zur Verbesserung der Lehre beitragen
?
Mantey: Mit dem Benjamin-Franklin-Kolleg soll das wissenschaftliche
Arbeiten gefördert werden. Ziel ist es, die Promotionsfähigkeit
von Studenten zu verbessern.
Schaffner: Das ist ja durchaus sinnvoll, aber es wäre interessant,
auch mal einen Modellversuch mit einer praktisch orientierten Ausbildung
zu starten.
Mantey: Es gibt den erfolgversprechenden Reformstudiengang am
Virchow-Klinikum, der hoffentlich noch im Oktober beginnt.
Kubicki: Ich denke, man sollte sich im Studium auf Kernwissensbereiche
beschränken. Daran sollte sich ein individuelles pflichtmäßiges
Postgraduate Studium anschließen, das die Richtung für den späteren
Facharzt vorgibt. Das Studium sollte nach Inhalten abgesucht werden, die
rein facharztspezifisch sind.
Mantey: Heute nimmt sich jedes Fach wichtig, doch am Ende des
Studiums kann mancher nicht mal einen venösen Zugang legen.
Schaffner: Ein Hauptkritikpunkt an der Einführung von Multiple-Choice-Fragen
war, daß damit nur Faktenwissen bis ins Detail prüfbar ist,
doch Wissenszusammenhänge so nicht geprüft werden können.
Fazit: Man kommt aus einer Klausur, in der man eine unglaublich spezielle
Frage zur Histologie beantwortet hat, in die Rettungsstelle, wo die Schwester
mehr mit den Patienten anzufangen weiß als man selber. Ich kenne
Leute, die alle Hürden im Studium mit Bravour genommen haben, um erst
im Praktischen Jahr festzustellen, daß sie nicht mit kranken Menschen
umgehen können.
? Haben Sie einen Ratschlag ?
Kubicki: Jeder sollte seiner Neigung nachgehen und sich nicht von
seinen Altvorderen bestimmen lassen. Und wenn jemand etwas macht, dann
sollte er es ganz machen. Keine halben Sachen.
Schaffner: Man sollte zwar keine halben Sachen machen,aber den
Mut haben, eine Sache nach der Hälfte wieder aufzuhören.
Mantey: Ich weiß zwar nicht, ob ich in der Position bin,
Ratschläge zu erteilen, aber ich denke, man sollte sich neben dem
Studium mit anderen Dingen beschäftigen, auch in andere Fachbereiche
schauen.