Brief aus Rotterdam
In den trüben Wintermonaten der Großstadt wirkt das Hauptgebäude
der Rotterdamer
Universität;
gigantisch und einschüchternd: ein
Betonriese aus den siebziger Jahren, der drohend über dem Rest des
Campus wacht. Jetzt im Mai hingegen umgeben unzählige blühende
Bäume den grauen Klotz und nehmen ihm die bedrohliche Wirkung. Das
Gelände erinnert im Frühling an eine Parkanlage; sogar Enten
und Schwäne nisten auf den künstlich angelegten Teichen, und
die Studenten lassen sich auf den Rasenflächen die ersten warmen Sonnenstrahlen
ins Gesicht scheinen. 15.000 sind derzeit an den sieben Fakultäten
der Rotterdamer Universität eingeschrieben. Ich bin seit Januar dieses
Jahres eine von ihnen. Vom Friedrich-Meinecke-Institut der FU hat es mich
an die Rotterdamer "Faculteit der Historische- en Kunstwetenschappen"
verschlagen. Wenn mich jemand fragt, warum ich für ein Austauschprogramm
gerade die Niederlande gewählt habe, fällt mir die Antwort immer
schwer. Natürlich wollte ich zunächst, wie Hunderte anderer Studenten
der FU auch, in ein englischsprachiges Land. Doch ein Platz an der University
of Ulster habe ich nicht erhalten, und so beschloß ich, das Angebot
eines Dozenten anzunehmen, für ein halbes Jahr im Land der Windmühlen,
Holzschuhe und Fahrräder zu studieren. Bis heute habe ich diese Entscheidung
nicht bereut.
von Andrea Kalbe / z. Zt. in Rotterdam
Die 1978 entstandene Fakultät für Historische- und Kunstwissenschaften
in Rotterdam ist die jüngste ihrer Art in den Niederlanden und gleichzeitig
eine der bekanntesten - auch im Ausland. "Wir vermitteln hier nicht nur
chronologische Geschichte vom Altertum bis in die Neuzeit wie an anderen
Fakultäten. Hier gewinnen die Studenten auch Einblicke in andere Bereiche
der Sozialwissenschaften, wie zum Beispiel in Ökonomie, Soziologie
oder Anthropologie. Die Ausbildung soll in erster Linie Geschichte unserer
Gesellschaft vermitteln", erklärt mir Manon van der Heijden, Studienberaterin
und Betreuerin der Austauschstudenten. Sie gibt mir ein Verzeichnis der
"Hoorcolleges", ein Vorlesungsverzeichnis, denn ich habe mich nach zwei
Monaten entschlossen, neben den angebotenen Englischkursen auch Veranstaltungen
in Holländisch zu besuchen. Dort lerne ich den 21-jährigen Theo
kennen, der seit zwei Jahren in Rotterdam studiert. Bei einer Tasse Kaffee
in der Cafeteria erläutert er mir weitere Besonderheiten der Fakultät
für Historische- und Kunstgeschichte: Geschichte wird nicht nur aus
einem anderen Blickwinkel betrachtet; der Lehrbetrieb ist auch viel praktischer
angelegt. Die Studierenden erhalten Einblicke in die unterschiedlichen
empirischen Forschungsmethoden, lernen in Workshops potentielle Arbeitgeber
kennen und müssen eine bestimmte Anzahl von Praktika absolvieren.
Kein Wunder also, daß 90% der Absolventen auch einen Job bekommen.
Ob bei Ministerien, im Medien-, Werbe- und PR-Bereich, in Museen oder an
der Universität, Studenten der "Historischeen Kunstwetenschappen"
sind auf dem Arbeitsmarkt gefragt.
Die von mir belegten Seminare zu Medien und Kultur, Entwicklung von
Europa und Staat, Nation und Nationalismus, werden in Holländisch
abgehalten. Ich verstehe mehr, als ich dachte. Wer aber meint, Holländisch
sei ja nur eine Art deutscher Akzent, der irrt gewaltig. Natürlich
ähneln sich Grammatik und viele Worte, aber lernen muß man die
Sprache wie jede andere auch. Besonders die Aussprache läßt
einen am Anfang ganz schön verzweifeln. Ich kann nur einen wesentlichen
Satz sagen, gesteht mir Myffanwy aus London. Das ist "Één
biertje, alstublieft!": Ein Bier, bitte! Ich frage, warum es so schwierig
für sie sei, die Sprache zu lernen. Es könne doch nicht nur daran
liegen, daß sie Engländerin ist und Holländisch für
sie wahrscheinlich wie Chinesisch klänge. Nein, das sicher nicht,
sagt sie lachend, aber als Ausländer hätte man es hier einfach
nicht nötig, Holländisch zu reden. Jeder Einheimische spräche
perfekt Englisch und auch an der Universität werden genug englische
Seminare angeboten. Da muß ich ihr dann recht geben, denn auch ich
rede die meiste Zeit in Englisch; manchmal auch in Deutsch, da viele Holländer
auch das sehr gut beherrschen. Und hätte ich mich nicht durchgerungen,
neben den englischen Seminaren, wenigstens noch holländische Vorlesungen
zu besuchen, könnte ich neben meinem zwar verbesserten Englisch wahrscheinlich
auch nur "Één biertje, alstublieft!" sagen. Dennoch wage
ich es nicht, in den Colleges auch Prüfungen abzulegen, was je nach
Dozent schriftlich oder mündlich erfolgt. Dafür recherchiere
ich für die letzte meiner drei Hausarbeiten über den "State Failure
in Russia". Zehn Punkte sind hier die absolute Spitze; alles unter fünf
Punkten bedeutet durchgefallen. "Eine gute Punktzahl ist für uns von
großer Bedeutung", erklärt mir Theo mit wichtiger Miene. Wer
pro Jahr eine bestimmte Anzahl nicht erreicht, erhält zwar auch noch
staatliche Förderung, muß es dann aber später wieder zurückzahlen.
Wahrscheinlich studieren hier deshalb die meisten Studenten in der Regelstudienzeit
von vier bis fünf Jahren. Ein anderer Grund sind wohl die 2.750 Gulden
Studiengebühren, die jeder Studierende zahlen muß.
Dennoch finden die Leute noch genug Zeit, öfters mal ein paar
"Biertjes" bei den so beliebten Studentenvereinigungen zu trinken. Rund
30 % aller holländischen Studenten sind in einer universitären
Vereinigung. Allein in Rotterdam gibt es neun solcher Gruppierungen, die
zu Semesterbeginn mit allerlei Werbebotschaften und Freibier die Erstsemester
für sich begeistern wollen. Eine davon ist die Rotterdam International
Students Association - kurz RISA. Da diese Vereinigung eine derjenigen
mit weniger strengen Verhaltensregeln und Aufnahmeritualen ist, beschließe
ich gleich zu Beginn, bei der Truppe mit holländischen und ausländischen
Studenten Mitglied zu werden. Meine WG-Mitbewohner sind nicht sehr kommunikationsfreudig,
und so hoffe ich, hier noch mehr Kontakt zu Holländern zu finden,
um auch meine Sprachkenntnisse aufpolieren zu können. Meine Hoffnungen
werden erfüllt, denn ich komme beim wöchentlichen RISA-Treffen
sofort ins Gespräch mit dem 24jährigen Koen. An einem der Donnerstagabende
sitzen wir an der Bar im Café des Vereinshauses, und ich frage ihn
neugierig, warum es für viele holländische Studenten so wichtig
sei, während ihrer Universitätszeit in einer Vereinigung zu sein."
Die meisten Leute kennen niemanden, wenn sie nach Rotterdam zum Studieren
kommen", erzählt Koen. Die Vereinigungen bieten eine gute Möglichkeit,
neue Leute kennenzulernen. An den Vereinsabenden trinkt man zusammen, unterhält
sich, hat einfach Spaß. Oft finden auch große Parties statt,
oder es werden Exkursionen organisiert. "Und das ist für die Leute
so wichtig, daß sie die Aufnahmezeremonien klaglos über sich
ergehen lassen", frage ich ein bißchen ungläubig. Denn ich konnte
es nie ganz begreifen, daß Frischlinge zum Beispiel in ein Camp fahren,
dort arbeiten und dabei Lieder singen müssen, während sie kaum
schlafen und sprechen dürfen. Es kann auch vorkommen, daß die
Neuen stundenlang vor den Älteren stehen oder auf dem Boden robben
müssen und dabei beleidigt werden. Solche Rituale werden"Ontgroening",
Entgrünung, genannt. Sie sollen das Gemeinschaftsgefühl der Neuankömmlinge
stärken und sie so auf eine Mitgliedschaft in der Vereinigung vorbereiten.
Koen lächelt und erklärt mir, daß "Ontgroeningen" eigentlich
nur bei streng konservativen und traditionellen Vereinigungen an der Tagesordnung
sind. Hier kommt hinzu, daß eine Mitgliedschaft in solch einer Vereinigung
für die Studenten später karriereförderlich sein kann. Der
Grund ist ganz simpel: Mit den Leuten, mit denen man bei der "Ontgroening"
denselben Leidensweg gegangen ist, knüpft man danach eine lebenslange
Freundschaft. Man fühlt sich dem anderen verbunden. So schafft man
sich für den späteren Beruf überall Netzwerke. Dennoch bin
ich froh, daß es bei RISA nur ein paar Verhaltensregeln, wie zum
Beispiel Kußverbot oder das Verbot, mit dem Rücken zur Bar zu
sitzen, gibt. Das kann ich sogar verstehen, denn es ist wirklich nicht
sehr sozial, dem Barkeeper den Rücken zuzudrehen.
Aber das Rotterdamer Leben besteht natürlich nicht nur aus Universität
und Vereinigungen. Der größte Handelshafen der Welt hat die
nach dem Krieg auf dem Reißbrett neu entstandene Stadt zu einem Schmelztiegel
der Rassen und Religionen gemacht. Das gibt Rotterdam den gewissen Touch,
und gerade junge Leute ziehen die multikulturellen Coffeeshops, Cafés
und Diskotheken magisch an. Rotterdams größter Vorteil ist jedoch,
daß es so zentral liegt: Amsterdam, Brüssel, vor allem aber
die Nordsee sind nicht weiter entfernt als zwei Stunden. Den Strand bei
Hoek van Holland erreicht man sogar schon in zwanzig Minuten. Ich jedenfalls
genieße die letzten zwei Monate in einer Stadt, die sicher nicht
den Altstadt-Charme von Amsterdam besitzt, dafür aber das Manhattan
an der Maas genannt werden kann.
Andrea Kalbe studiert an der FU Publizistik- und Kommunikationswissenschaften,
Neuere Geschichte und Soziologie. Seit Januar macht sie ein Auslandssemester
an der "Fakulteit der Historische- en Kunstwetenschappen" der Universität
Rotterdam.
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