Wiedergelesen: Dieter Meichsners Studenten-Roman
Als in Dahlem die Kastanien blühten
Von Hermann Rudolph
(Herausgeber des Tagesspiegel)
Ein Meisterwerk ist dieser Roman gerade nicht, aber das sagt
in diesem Falle so gut wie nichts. Daß sein Autor, Dieter Meichsner,
vor kurzem siebzig Jahre alt geworden ist, mag ein Anlaß sein, es
zur Hand zu nehmen. Doch als Literat ist Meichsner längst ein Aussteiger.
Als das Buch erschien, 1954, war er noch sehr jung, und Deutschland rappelte
sich mühsam aus den Trümmern auf, und Berlin lag mitten in den
Stürmen des kalten Krieges. Das Buch, das "die Studenten von
Berlin" heißt, handelt von der Gründung der Freien Universität.
Aber gehört das Buch überhaupt in das Genre, das im Angelsächsischen
als fiction firmiert? Es spricht ja etliches dafür, daß sich
viele der Gestalten des Romans an konkrete Vorbilder anlehnen. Vermutlich
ist nicht der geringste Gegenstand, an dem der Autor Maß genommen
hat, er selbst. Denn sein Werdegang entspricht akkurat dem seiner Figuren
- letztes Aufgebot im Kriege, Studium an der Humboldt-Universität,
schließlich Wechsel zur Freien Universität. Es würde auch
nicht schwer fallen, die Personen zu identifizieren, aus denen zum Beispiel
Professor Rother zusammenbuchstabiert ist - 1937 von der Berliner Universität
verjagt, Wiederanfang an der Humboldt-Universität, vergeblicher Widerstand
gegen den kommunistischen Druck. Nun wird er eine Stütze der neuen
Universität und wendet unablässig - wir müssen den "Schutt
von unserem Irrweg forträumen", wir "müssen durch den Nebel falscher
Ideologien hindurch unseren neuen Weg suchen" - die Fehlentwicklungen der
deutschen Geschichte hin und her. Das macht den Charme des Buches aus:
Es wächst so unmittelbar, so impulsiv aus dem Miterleben dieser Nachkriegsjahre
heraus, daß ihm die Realitätspartikel überall noch ankleben.
Da liegt Berlin noch "furchtsam, erstarrt, öde unter dem ersten
Nachkriegswinter", und der Zug fährt vorrüber "an den trübe
beleuchteten S-Bahnhöfen, den Straßenbahnen und wenigen, einsamen
Gaslaternen in den Vororten, an den Silhouetten der nackten Fassaden".
Zwischen Grünau, Prager Platz und Dahlem trägt die Stadt die
Male von Not und Improvisation. Und wenn Professor Reichardt in seiner
Vorlesung sagt: "Die Freiheit ist unteilbar" und das Licht ausgeht, dann
ist das nur zum Teil eine ausgesuchte Pointe. Denn Reichardt ist einer
der ersten Professoren, die nicht von der Humboldt-Uni nach Dahlem gewechselt
sind und es ist Blockade-Zeit. So rascheln in dem Kinosaal, der als vorläufiges
Auditorium maximum dient, die Streichhölzer, und Feuerzeuge knipsen,
bis fast neben jedem Sitz eine Kerze brennt und schließlich ein Student
zur Bühne heraufsteigt, um dem weiter dozierenden Professor eine Kerze
auf das Katheder zu stellen.
Das Buch rekapituliert im übrigen treulich auch die Themen, die
bei der FU-Gründung eine Rolle spielten: studentische Beteiligung,
bildungspolitischer Anspruch, ideologische Gegensätze. Aber es tut
es in seiner Weise. Darauf, daß es "die Studenten (waren), die an
der Gründung unserer Universität entscheidend Anteil hatten",
pocht jener Fakultätssprecher, dem immerfort die Hornbrille auf die
Nase rutscht, von dem man munkelt, er habe dazu beigetragen, daß
der berühmte Literaturprofessor aus Leipzig nach Berlin gekommen sei.
Es ist der fleißige Bücher-Ordner im Historischen Seminar, dem
bei der feierlichen Eröffnung der FU im Titania-Palast als Vergleich
die Luther-Thesen, die Ausfahrt der Pilgrim Fathers und der Auszug der
deutschen Studenten aus Prag 1409 einfallen - am Radio, weil er bei der
Verlosung der Karten zu kurz gekommen ist. Und das heftige Gespräch
darüber, ob es überhaupt noch Sinn habe, mit den Kommunisten
zu sprechen, wird überlagert vom Ende dessen, was man zwei Generationen
später eine Beziehungskiste nennen wird, irgendwo in einer Studentenbude.
Alte Geschichten, bewegende Geschichten, schön erfundene Geschichten
- aber wozu sind sie gut? Vielleicht dazu: daß sie über dieses
Viertel zwischen Garystraße und Habelschwerdter Allee, das wir alle
kennen, einen Hauch von Zeiten legen, die keiner mehr kennt, irgendwo hinter
endlosen Hochschul-Debatten und 68er -Mythos, verstellt von dem Bild, das
die FU heute bietet. Das Buch hält nicht nur den Umriß einer
Generation fest, sei es unter dem Rubrum der Flakhelfer, sei es als skeptische
Generation. Aufbewahrt ist darin auch etwas von dem Schattenriß,
den sie warf, von den Gefühlen, die sie bewegte, und den Debatten,
die sie führte, von dem Hintergrund der Beklemmung, in der alle lebten,
weil noch keineswegs heraus war, ob die kommunistische Doktrin oder der
Widerstand dagegen obsiegen würde, ja, und auch von den Kastanienbäumen,
die damals in den Dahlemer Straßen blühten. Es ist ein Gefühl
von Jugend und Anfang, das das Buch uns überliefert. Am Ende mag man
zu dem Schluß kommen, daß ohne dieses Gefühl die Freie
Universität nicht entstanden wäre.

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