Von fremden Verwandten und
verwandten Fremden

Wissenschaftler erforschen Parallelen und Unterschiede in den Sprachen der Welt


Etwa 6000 Sprachen werden heute auf der Erde gesprochen, nur etwa 300 davon sind einigermaßen gut beschrieben und von vielen tausenden von Sprachen, die untergegangen sind, wissen wir gar nichts. Die Neandertaler haben sich vielleicht noch durch Knurren verständigt, aber schon in der Steinzeit konnten sich die Menschen mit differenzierteren Lauten über ihr Leben und ihre Umgebung austauschen, und die Sprachenvielfalt entwickelte sich. Deutsch und Englisch zählen zum Beispiel zu den indoeuropoäischen Sprachen, ebenso die nordindischen Sprachen Hindi und Bengali, die sich direkt von der Jahrtausende alten Sanskritsprache ableiten. Man kann es noch an einzelnen Worten erkennen: Das Sanskrit-Wort Yoga bedeutet soviel wie Verbindung; Yoga übt, wer Geist und Körper verbinden will. Im Deutschen ist aus Yoga das Joch geworden, welches die Zugtiere vor dem Pflug zusammenhält. Arabisch zählt zu den semitischen Sprachen, Chinesisch zu den sinotibetischen und Japanisch wiederum ist eine altaische Sprache, die mit Chinesisch nichts zu tun hat. Nicht immer sind benachbarte Sprachgruppen auch verwandt: Schwedisch, Norwegisch und Dänisch sind germanische Sprachen, aber Finnisch gehört zu der kleinen Gruppe der finno-ugrischen Sprachen. Während sich Hunde und Kleinkinder aus aller Welt heute immer noch verstehen, gelingt dies erwachsenen Menschen im allgemeinen nicht mehr. Nicht nur die Wörter für bestimmte Gegenstände sind verschieden, auch die grammatische Struktur kann äußerst unterschiedlich sein. Das Chaos der ungeheuren Sprachenvielfalt ist nur scheinbar. Der Vergleich der Strukturen fördert viele verblüffende Regelmäßigkeiten zutage. Was davon auf gemeinsame Ursprünge schließen läßt und was davon rein zufällig ist, ergründen Sprachtypologen und -typologinnen.

Europäische Sprachen gelten als sehr subjektzentriert: Der Mensch steht absolut im Mittelpunkt. Wir sagen: "Ich bin wütend" oder "Ich bin traurig" - in westafrikanischen Sprachen heißt es: "Wut packt mich"und bei den Yukateken, einem Indiovolk in Mexico: "Mein Gemüt ist traurig." Steht in solchen Sprachen der Mensch vielleicht nicht so im Mittelpunkt? Als die vergleichende Sprachforschung Anfang des 19. Jahrhunderts aufkam, neigten die europäischen Forscher dazu, Sprachgebrauch mit Mentalität und Weltsicht zu verknüpfen. Die vollkommeneren Sprachen Europas spiegelten nach Wilhelm von Humboldt, einem der ersten Vertreter der Vergleichenden Sprachwissenschaft, die geistige şberlegenheit ihrer Sprecher wider. Der amerikanische Linguist Benjamin L. Whorf fand keine Zeitformen des Verbs in der Sprache der Hopi-Indianer und schloß daraus, daß dieses Volk völlig andere Zeitvorstellungen habe als die Europäer. Heute sei man mit solchen Schlußfolgerungen vorsichtiger, glaubt Professor Ekkehard König vom Institut für Englische Philologie der FU. şberraschende Parallelen haben sich in weit auseinanderliegenden Sprachgruppen gezeigt; gleichzeitig sind die Wissenschaftler auf erhebliche Unterschiede in nah verwandten Sprachen wie Deutsch und Englisch gestoßen.


Selbst ist das Objekt der wissenschaftlichen Begierde

König und seine Mitarbeiter untersuchen die feinen Bedeutungsunterschiede im Gebrauch von "selbst". Nicht in allen Sprachen existieren dafür so viele Begriffe wie im Deutschen: sich, persönlich, selbst, eigen, höchstselbst, höchstpersönlich. Jedes der Worte drückt je nach Zusammenhang etwas anderes aus, persönlich kann uns der Bürgermeister begrüßen, nicht aber der Haushund. Auch die Position innerhalb des Satzes ändert die Bedeutung:
"Selbst Paul versteht die Aufgabe."
"Paul selbst versteht die Aufgabe."


Sinnbild für den Hochmut des Menschen und biblische Legende vom Beginn der Sprachenvielfalt: der Turmbau zu Babel. Pieter Bruegel d.Ä. malte ihn zwischen 1525 und 1569. Das filigrane Gemälde auf Holz mißt im Original nur 60 x 74,5 cm. Es ist im Rotterdamer Museum Boymans - van Beuningen zu bewundern.

Im Englischen müßte der erste Satz mit: "Even Paul understands the task" und der zweite mit "Paul himself understands the task" übersetzt werden. Beide Sprachen sind aber eigentlich eng verwandt. König und seine Mitarbeiter untersuchen zur Zeit 20 Sprachen von Russisch, Türkisch, Englisch, Französisch, Deutsch bis Persisch, Japanisch und Chinesisch. Insgesamt will das Projekt den Begriff des "selbst" in 50 Sprachen unter die Lupe nehmen, unter anderem auch im Arabischen, im Hindi und in Bengali. Weil die Bedeutungsunterschiede so subtil sind, kommen nur lebende Sprachen als Studienobjekte in Frage. König redet mit ausländischen Studierenden oder Gästen, um herauszufinden, wie und durch welche Wortkombinationen genau die mannigfaltigen Bedeutungen von selbst ausgedrückt werden: Manchmal ist der Ausdruck für "selbst" von einem Ausdruck für Körperteile abgeleitet, z. B. "mein Herz" = "ich selbst", oder "dein Körper" = "du selbst".


Beständiger Wandel

Das Arabische verwendet für "selbst" das Wort, das auch für Seele steht: "Nafs". "Nafs" ist aber nicht der metaphysische Teil der Seele, der nach dem Tod unsterblich ist und (gegebenenfalls) ins Paradies eingeht, sondern jener Teil, der als Lebenskraft den Menschen "beseelt". Im Deutschen kann "selbst" durchaus auch mit Dingen stehen: "Die Sache selbst gelang ihm gut." Dies wäre in vielen anderen Sprachen unzulässig, "selbst" gehört dort untrennbar zu Personen. So auch "kendi", das türkische Wort für "selbst", es kann nur mit Personen oder allenfalls mit sehr erhabenen Dingen, wie zum Beipiel dem Paradies, stehen. Aber Sprachen wandeln sich: In Berlin lebende Türken, so fand die Gruppe um König heraus, verwenden kendi mehr und mehr wie im Deutschen auch mit Sachen.

In der Verwendung des Begriffes "selbst" gibt es zwischen Englisch, Japanisch, Chinesisch und Türkisch mehr Ähnlichkeiten als zwischen Englisch und Deutsch. Dafür kann sich für genau diese Begriffsgruppe das Deutsche mit den skandinavischen und den romanischen Sprachen vergleichen. All dies ist überraschend, hängen doch Türkisch und Englisch weit weniger zusammen, als zum Beispiel Deutsch und Englisch. Seltsamerweise ist "selbst" dafür in den Sprachen Deutsch, Japanisch und Chinesisch unveränderlich (er selbst, sie selbst), nicht aber im Englisch (himself, herself) und in den romanischen Sprachen.


Praktisches Ziel: Grammatiken optimieren

Königs Studien haben auch ein praktisches Ziel: Nur wenn durch übereinzelsprachliche Untersuchungen die Bedeutung und Verwendung von grammatischen Kategorien und Begriffen hinreichend geklärt worden sind, lassen sich gute einzelsprachliche Grammatiken und Lehrbücher verfassen. Sein Projekt ist Teil eines Schwerpunktprogramms der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Sprachtypologie, an dem noch 17 andere Universitäten mitarbeiten. Sprachen können nicht unendlich verschieden sein, und die Ähnlichkeiten untereinander sind nicht nur historisch durch die Entwicklung aus einer gemeinsamen Wurzel (wie zum Beispiel das Lateinische die Wurzel der romanischen Sprachen ist) bedingt. Alle Sprachen spiegeln die "Conditio humana" wider, erklärt Dr. Martin Haselmath, ebenfalls am Projekt der FU beteiligt. Weil wir Menschen uns ähneln, und die Welt mit unseren Sinnen und unserem Verstand ähnlich wahrnehmen, gebe es die seltsamsten Parallelen in Sprachen, die eigentlich überhaupt keine gemeinsamen Wurzeln hätten. In allen Sprachen der Welt heißt es: "Nach dem Abendessen", "vor dem Sonntag", "in dieser Woche", "eine lange Zeit"; räumliche Begriffe wie "nach, vor, in lang" werden als Zeitbegriffe verwendet.

Über die Zusammenhänge zwischen Sprache und Mentalität der Völker philosophieren die FU-Sprachwissenschaftler aber lieber nur abends beim Bier. Denn das ist zwar faszinierend, aber wissenschaftlich läßt sich schwer etwas darüber aussagen.

Erstes Buch Moses

(Genesis), 11

Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel, und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so daß keiner mehr die Sprache des anderen versteht. Der Herr zerstreute sie von dort aus über die ganze Erde, und sie hörten auf, an der Stadt zu bauen. Darum nannte man die Stadt Babel (Wirrsal), denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Erde zerstreut.

Antonia Rötger


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