Der Diskurs ist die Schlange im Paradies der Liebenden

Liebesgeflüster


Hingabe und Haß, Flüstern und Reden, Offenbarung und Geheimnis, das sind die uralten Dichotomien der Liebe. Daß Hingabe und Haß ein Paar sind, jeder des anderen alter ego, das weiß man, das ist klassisch. Literatur und Psychologie, Mythos und Alltag evozieren sie. Klytaimnestra und Medea, Othello und Freud, Fassbinder und Dahmer buchstabieren sie. Die Sprache der Liebe ist das Geflüster, kaum hörbar, unüberhörbar. Alles Liebesgeflüster will nur dies: verwehen, auf den Lippen des Liebenden, am Ohr der Geliebten. Kein Dichter und kein Denker hat es je eingefangen. Das aber, was nicht verweht, das, was Dauer sucht, das ist der Diskurs. Der ist das Gegenstück zum Liebesgeflüster, die Schlange im Paradies der Liebenden, Entzauberung.

Wer hätte je gedacht, daß jenes Reden, das einst als Klatsch durch die mittelalterlichen Gassen zischelte, sich als elektronischer Diskurs über alles Liebesgeflüster so gewaltig erheben würde. Täglich mehr siegt das Öffentliche über das Intime, das Laute über das Leise. Wir leben tief im Klatsch. Die Verlockung des Klatsches bestand einst in seiner Doppeldeutigkeit: geheim und offen, verboten und mächtig, böse und banal. Diese, seine preziöse Doppeldeutigkeit hat er verloren. Dadurch nämlich, daß der Klatsch öffentlich geworden, daß sein Getuschel nicht mehr einem einzig auserwählten, sehnsüchtig geöffneten Ohr, sondern Millionen von Ohren - schlimmer: Augen - gilt, hat die Welt sich verändert und das abendländische Individuum sich verflüchtigt. Der Klatsch hatte schon immer im Bündnis mit den Schattenseiten des Menschen gestanden, hatte Wahrheit und Lüge vereint, Fremdbild und Selbstbild gegeneinander gehetzt. Inzwischen hat der Klatsch sich emanzipiert. Er enttarnt nicht mehr nur den anderen, sondern sich selbst . Wenn er andere enttarnt, heißt er "Aufklärung", und die Götter, die er verklärt, stürzt er zugleich. Wenn er sich selbst enttarnt, heißt er "Bekenntnis". Die Einheit von beiden heißt Princess Diana. Der mediatisierte Klatsch feiert den Wahn vom herrschaftsfreien Dialog. Wie sehr er aber auch mit seinem vulgären Gebrüll das Liebesgeflüster aufgesogen haben mag, ohne ein - wenn auch verdämmerndes - Gedenken an dessen sprachlose Geheimnisse, wäre der Klatsch ohne Zauber.

Wir seien auf dem Weg in die schamlose Gesellschaft, entsetzen sich die Melancholiker jeglicher Couleur und weinen die dunklen Tabus von ehedem herbei. Aber selbst das fortschrittlichste Bewußtsein hinkt hinter dem Ritual der öffentlichen Geständnisse hinterher. Daß der Tod des Menschen seine Manifestationen haben würde, das hätte man wissen können. Wir haben doch längst selbst konfiguriert. Wir sind nicht mehr, was wir einst waren. Wir sind, was wir sein wollten und nicht mehr erkennen. Wir haben das Natürliche verlassen. Wir haben Gesellschaft gewollt und nicht das Geheimnis, das Universale und nicht das Partikulare, die Wahrheit und nicht die Lüge, das Licht und nicht das Dunkel. Dabei ist uns die Bauernweisheit, daß alles seine zwei Seiten hat - klüger: daß die Aufklärung ihre Dialektik hat - irgendwie entgangen. Jetzt sitzen wir vor dem flackernden Fernsehschirm und sehen uns die blöden Bekenntnisse an, aus denen unstillbare

Sehnsüchte quellen: nach Hei-mat oder nach Liebe oder nach Authentizität. Wir können nicht fassen, daß auch dieses Elend dem Projekt der Moderne entsprungen ist. Daß der Wille zu wissen, der Wunsch zu bekennen, die Entscheidung, über die Seele in Kategorien von Wahrheit zu sprechen, die Aufklärung also nach innen zu kehren, das Subjekt selbst sozialisieren und aufheben würde, das wußte keiner. Kein Montaigne, kein Rousseau und kein Jouhandeau konnte ahnen, daß er dereinst auf dem Boulevard Bio enden würde. Und doch war jedes ihrer Worte darauf angelegt. Das laute Bekenntnis nämlich ist der Appell an den Anderen als einem Gleichen. Die Selbstent-blößung konstituiert, ob sie es will oder nicht, die Gemeinschaft der Schamlosen. Der Sieg des Privaten über das Öffentliche hat von Anfang an die Zerstörung der res publica intendiert. Daß auch jetzt noch, auch im banalsten Bekenntnis, die Ahnung eines Liebesgeflüsters aufscheint, enttarnt das wehmütige Geheimnis dessen, den wir einst als das Maß aller Dinge anhimmelten: den Menschen.

Alexander Schuller

Alexander Schuller ist Professor am Institut für Soziale Medizin des Fachbereichs Humanmedizin.


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