Multimedia löst scheinbaren Widerspruch: Computergrafik für Blinde

Tasten und Hören


Das Schlagwort "Multimedia" weckt heute im allgemeinen Assoziationen zu bunten Bildern, Videos und Computergrafiken ‡ la "Toy-Story". Nicht-visuelle Medien, wie z.B. Ton, werden allenfalls als schmückendes, aber letztendlich redundantes Beiwerk zur primär visuell präsentierten Information betrachtet.

Viele Mittel ("Multimedia") zu verwenden, um das Fehlen des für den Menschen wichtigsten Sinnesorgans - des Sehsinns - auszugleichen, ist das Ziel eines Forschungsvorhabens am Institut für Informatik der FU. Beim Projekt TDraw/TRender geht es darum, Blinden den Zugang zu grafischer Information auf taktil-haptischem (über Tastsinn; d.Red.) und akustischem Weg zu ermöglichen.

Grundlage dieses Projekts ist die Überlegung, daß Bilder nicht von sich aus visueller Natur sind. Bilder, insbesondere "informierende Bilder", also solche, bei denen der künstlerische Aspekt eher untergeordnet ist, sind eine flächige Repräsentation des Abgebildeten. Dieses kann u.a. eine Szene der realen Welt (Foto), eine Tabelle mit Zahlen (z.B. Balkendiagramm), eine abstrakte Hierarchierelation (z.B. Organisationsdiagramm) oder ein Computermodell eines Gegenstands (z.B. Autokonstruktionsplan) sein. Während normalerweise eine Abbildung zu einer visuellen Repräsentation (dem Bild) führt, ist diese Blinden unzugänglich.


Diese Zeichnung eines Blinden zeigt einen Tisch, auf dem ein Spielzeugauto und eine Flasche stehen.

Für den Zugang zu Bildern stehen für Blinde in erster Linie der akustische und der taktile Kanal zur Verfügung. Die anfangs nächstliegende Methode ist die verbale Beschreibung des Bildes. Diese kann über gesprochene oder in Blindenschrift (Braille) geschriebene Sprache vermittelt werden. Abgesehen davon, daß eine Verbalisierung immer auch eine Linearisierung des an sich flächigen (zweidimensionalen) Bildes ist, muß bei der Beschreibung von gegenständlichen Bildern (Fotos, Computergrafiken) nicht das Bild selbst, sondern die dargestellte Szene beschrieben werden. Die Berge auf der Urlaubskarte liegen nicht über den Kühen im Vordergrund sondern hinter ihnen!

Um den genannten Problemen der verbalen Beschreibung von Bildern zu entgehen, kann man taktile Grafiken erstellen. Dazu eignet sich z.B. Schwellpapier, das gezeichnete Linien erhaben und somit tastbar macht. Es zeigt sich jedoch, daß Bilder für Blinde nicht einfach durch Tastbarmachen von Bildern für Sehende erstellt werden können.

Konventionelle Bilder für Sehende geben den visuellen Eindruck des Abgebildeten mehr oder weniger "fotorealistisch" wieder. Um den räumlichen Eindruck zu erhalten, werden optische Gesetze wie Schattenwurf und Perspektive angewendet. Perspektivische Verzerrungen und Schattierungen erzeugen bei Blinden aber keinen räumlichen Eindruck, sondern nur Verwirrung.

Daher wird im Projekt TDraw/TRender ein anderer Weg beschritten. Im ersten, gerade abgeschlossenen Teil des Projekts wurde ein Zeichensystem für Blinde erstellt, mit dem sie ta-ktile Zeichnungen undgleichzeitig formale (im Computer gespeicherte) Modelle herstellen können. Mit diesem System wurde untersucht, wie Blinde räumliche Gegenstände und Szenen zeichnerisch darstellen.

Mit den in dieser Phase gewonnenen Erkenntnissen wurden Methoden zur automatischen Produktion blindengerechter Zeichnungen räumlicher Szenen entwickelt. Ein Dar-stellungsprogramm (Renderer), das unter Verwendung dieser Methoden taktile Zeichnungen erstellt (TRender), wird zur Zeit entwickelt. Am Ende soll ein Programm stehen, das aus üblichen 3D-Computermodellen blindengerechte Zeichnungen und erläuternde Informationen erzeugt. Es hat sich nämlich gezeigt, daß erklärende oder auch nur benennende Textinformationen zu gerade ertasteten Objekten die Erkundung der gesamten Szene erheblich vereinfachen.

Nebenbei erhalten Blinde mit dem neuen System auch Zugriff zu im WWW angebotenen virtuellen Welten im VRML-Format, da diese Beschreibungsmethode auch für die Eingabe von TRender verwendet wird. So schließt sich der Kreis von der Anwendung multimedialer Methoden beim Zugang für Blinde zu Bildern hin zur Verwendung von fortentwickelten Methoden für den Zugang zum "Neuen Medium" schlechthin, dem WWW/Internet.

Martin Kurze

Martin Kurze ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Informatik der FU. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Methoden der taktilen Computergrafik für Blinde.


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt] [nächste


Zurück zur -Startseite