Die Universität zwischen Bildungsideal und Ausbildungsdienstleistung

The times they are a-changin'


Die deutsche Universität lebt seit langem als Fiktion. Alle wissen es, keiner sagt es gern laut. Darum ist sie auch kaum reformfähig. Weder von innen noch von außen - auch nicht durch Zudrehen des Geldhahns. Die Gründe liegen jedoch nicht nur innerhalb der Universität. Für Immobilismus sorgt ein Konvolut aus politischen Vorgaben (Hochschulgesetze), bürokratischem Wildwuchs (Verrechtlichung) und innerer und äußerer Verkrustung (Besitzstandverteidigung, Laufbahnvorschriften, etc.). Es ist so wenig zu durchbrechen wie die flächendeckende gesellschaftliche Anti-Reform-Phalanx von "rechter" Bildungsideologie bis "linker" Verweigerungshaltung.

Der Funktionswandel des Universitätsstudiums vom akademischen Bildungsideal zur akademischen Ausbildungsdienstleistung hat längst stattgefunden. Aber die strukturellen und didaktischen Konsequenzen werden nicht zur Kenntnis genommen. Eine Institution, die ihr Selbstverständnis und ihre Struktur und Funktion aus einer Zeit herleitet, da sie fünf Prozent der Altersjahrgänge für (oder gar "durch") wissenschaftliche Forschung bilden wollte ("Einheit von Forschung und Lehre"), kann nicht in gleicher Form als tertiäres Bildungssystem ("Massenuniversität") 30 Prozent der Altersjahrgänge für spezialisierte "akademische" Berufe (Jurist, Betriebswirt, Arzt, Lehrer, etc.) ausbilden. Studium ist nicht gleich Studium, und Universität ist nicht gleich Wissenschaft. Indes: statt notwendiger Differenzierung beharrt die Universität unbeirrt auf struktureller Entdifferenzierung von Studiengängen und auf funktionaler Pseudo-Homogenität als Institution. Übrigens: entsprechende Institutionen heißen an amerikanischen Universitäten aus gutem Grund "professional schools", nicht "academic departements" (wobei beide gleichberechtigt unter demselben Universitätsdach wohnen).

Eine akademische Berufsausbildung ist keine "wissenschaftliche" Ausbildung und kann gewiß nicht als "forschendes Lernen" vom ersten Semester an in Seminarform erfolgen. Der Versuch wäre weder sinnvoll noch erfolgreich noch bezahlbar - von Effizienz ganz zu schweigen. Selbst wenn es gelänge, die heute an den Hochschulen studierenden 30 Prozent der Altersjahrgänge tatsächlich zu Wissenschaftlern auszubilden - die Gesellschaft könnte 30 Prozent Beschäftigung in Wissenschaft und Forschung überhaupt nicht gebrauchen. Schon heute beweisen das u.a. die Probleme vieler Absolventen beim Übergang in den Arbeitsmarkt.

Aber auch wissenschaftliches Arbeiten ist nicht voraussetzungslos und kann nicht vom ersten Semester an in Seminarform erfolgen. Grundkenntnisse müssen zuerst einmal angeeignet werden - je rascher desto besser. Erst danach kann es möglich und sinnvoll sein, einen entsprechend qualifizierten und motivierten Teil (= fünf Prozent der Altersjahrgänge?) zu selbständiger wissenschaftlicher Forschung auszubilden (zum Beispiel in Graduiertenkollegs/Forschungsstudium) - also nach einem ersten "berufsqualifizierenden" (nicht: berufsspezifischen) Abschluß.

Erster berufsqualifizierender Abschluß: de facto gibt es ihn längst - in Form des Studienabbruchs (40-50 Prozent der Studienanfänger verlassen die Universität als "Studienabbrecher"). Sofern damit ein Stigma verbunden ist, trifft es indes weniger die Studierenden, die sich (mangels Alternative) subjektiv durchaus rational verhalten, als vielmehr die verantwortlichen Institutionen (nicht nur Universitäten, auch Gesetzgeber, Verwaltungen, sogar Tarifpartner), die diesen unbefriedigenden - und dabei für alle Betroffenen kostspieligen - Zustand tolerieren bzw. zementieren. Eine grundlegende Phasenstruktur der Studienstruktur ist längst überfällig.

Das Grundstudium wäre dann - im Gegensatz zu dem für einen Teil der Studierenden sich anschließenden Berufs- oder Forschungsstudium - kein Fachstudium, sondern ein eher fachübergreifendes Grundlagenstudium, wiewohl durchaus mit unterschiedlichem fachlichen (natur-, kultur-, sozialwissenschaftlichen etc.) Akzenten. Es würde sich entsprechender didaktischer und organisatorischer Formen bedienen - kosten- und lerneffektiv, z.T. sogar "verschult" (Vorlesungen plus Kleingruppentutorien, statt Pseudo-Seminare), beschränkt auf vier bis sechs Semester, mit einem formalen Abschluß. Die jüngste Bonner Diskussion zum Thema ist noch gar nicht so lange her. Sie begann mit vier bis sechs Semestern; herausgekommen ist ein "erster berufsqualifizierender Abschluß" nach 8+1 Semestern - Immobilismus pur. Dazu gehört auch das Thema Studiengebühren: Was nichts kostet, ist bekanntlich nichts wert. Solide Vorschläge dazu liegen längst auf dem Tisch (auch wenn damit heilige Kühe geschlachtet werden). Die Konsequenzen träfen durchaus nicht nur - und nicht einmal in erster Linie - die Studierenden (die das Geld natürlich über Stipendien- und Darlehensfonds bekommen müßten). Als zahlende Kunden (auch mit fremdem Geld) würden sie vielmehr den Universitäten (und ggf. den Dozenten) Leistung abfordern! Das wird (gerade auch von Studenten) allzu gern übersehen. Studiengebühren dienen weniger zur Finanzierung als zur Disziplinierung der Universitäten (und natürlich auch der Studenten). Allerdings müssen sich dabei im Wettbewerb die Studenten ihre Universität und auch die Universitäten ihre Studenten selbst aussuchen können. Wettbewerb macht sogar "Evaluation" überflüssig; auch hier reicht ein Blick über den Tellerrand (Beispiel USA u.a). Aber Fiktionen sind ja so bequem: alle Studierenden sind gleich begabt, alle Universitäten sind gleich gut...

Auch auf die Absurditäten einer deutschen Studienordnung muß man erst einmal kommen: Vorgeschrieben sind (z.B. für Magisterabschlüsse) 60 Semesterwochenstunden und acht Leistungsnachweise je Studienabschnitt (Grundstudium/Hauptstudium) - bei typischerweise 2-stündigen Lehrveranstaltungen also acht Veranstaltungen und zwei "Scheine" pro Semester (mehr sind aus Sicht der Kultusminister nicht genehmigungsfähig). An 75 Prozent der Lehrveranstaltungen nehmen folglich die Studierenden (wenn überhaupt) ohne eigene Studienleistungen teil (sonst könnten sie - zu Recht - einen Leistungsschein erwarten). Wenn aber in jedem Seminar, statistisch gesehen, nur einer von vier Studierenden ernsthaft mitarbeitet (Literaturstudium, Vor- und Nachbereitung etc.), dann trägt das nicht zur Qualität der Diskussion, sondern nur zur Überfüllung der Seminare bei. Das liegt jedoch nicht an "faulen" Studenten: Wer kann schon gleichzeitig in acht verschiedenen Lehrveranstaltungen ernsthaft mitarbeiten? In den USA (und anderswo) wird selbstverständlich jede Lehrveranstaltung mit einer (benoteten) Leistung abgeschlossen - natürlich nicht acht, sondern drei bis vier Kurse pro Semester (dafür entsprechend intensiv, meist dreistündig). Aber die deutsche Universität lebt eben gern als Fiktion - sollen die Studierenden doch ihre Belegstunden zur Prüfungsanmeldung am Küchentisch ausfüllen.

All dies ist nicht neu. Der Wissenschaftsrat hat vieles davon schon vor Jahren moniert und entsprechende Empfehlungen zur Struktur des Studiums (1986) oder (schon etwas weniger vornehm zurückhaltend) Thesen zur Hochschulpolitik (1993) ausgesprochen - ohne Erfolg; nur wenig besser ist es seinen beiden die Studienreform flankierenden Vorschlägen (Ausbau der Fachhochschulen, Aufbau von Graduiertenkollegs) ergangen. Allerdings: ohne grundlegende Änderung der Rechtslage geht gar nichts. Und die Gesetze (oder gar die Kapazitätsverordnungen) werden schließlich nicht von den Universitäten gemacht.

Vielleicht ließe sich ja die Verrechtlichung des Studiums ausnahmsweise einmal zum Vorteil wenden. Für eine notwendige "Reform von oben" wären wohl Gesetze - statt des derzeitigen "engen Regelungsgeflechts von Gesetzen, Verordnungen und Vorgaben", also ein radikal entrümpelter Ordnungsrahmen zur Organisation, Struktur und Differenzierung von Studiengängen und -abschlüssen - leider wirksamer als Geld. Aber auch wenn die Strukturprobleme der deutschen Universität angesichts innerer Reformunfähigkeit mit Geld allein nicht gelöst werden können - was an Substanz noch übrig ist, kann durch weiteren Ressourcenentzug bald vollends zerstört werden. Für den "Standort Deutschland" und den Steuerzahler wird die durch skandalöse Unterfinanzierung (ca. 0,6 Prozent Bruttoinlandprodukt!) beförderte Substanzzerstörung der Universitäten noch teuer werden - je länger sie dauert, umso teurer. So fahren Hochschulen und Politik den Wagen gemeinsam gegen die Wand.

Lutz Erbring

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