Protestaktionen gegen Einsparungen

Open-air-Uni: Studierende erteilen Politikern Lektionen


Streik oder nicht Streik? Das war in den ersten Wochen dieses Semesters nach der großen Demonstration vor dem Roten Rathaus das zentrale Thema der studentischen Vollversammlungen aller drei Berliner Universitäten. Und die Meinungen darüber, welche Formen des Widerstands gegen die Sparmaßnahmen des Berliner Senats angemessen und wirkungsvoll sein können, gingen weit auseinander. Kein Wunder, denn diesmal blieben die Hardliner nicht unter sich. Den Aufrufen der ASten von TU, HUB und FU zur Teilnahme an den VVs folgten Tausende.

Großdemonstrationen der Berliner Hochschulen am 24. April: Zehntausende zogen in zwei Routen vom Ernst-Reuter-Platz-Platz zum Roten Rathaus.

Zwar wurden formal auch Streiks beschlossen - an der FU für Pharmazie, Medizin, Publizistik und Soziologie - doch in den betroffenen Bereichen ging der Lehrbetrieb nahezu unbehindert weiter. Die unübersichtliche, teilweise widersprüchliche Beschlußlage an der FU tat ein übriges, den meisten Studierenden die Lust auf Lehrboykott zu verleiden. Überraschend eindeutig votierten sogar die Studierenden des OSI gegen Streik und für Aktionen.

Zwar stand bei Drucklegung dieses Hefts noch eine Uni-VV aus, doch eines zeichnet sich unverkennbar ab: Streik ist derzeit unpopulär. Die meisten Studierenden wollen ihren Protest gegen die Sparpolitik des Berliner Senats aktiv zum Ausdruck bringen, aber sie wollen auch studieren. Großen Zuspruch finden daher jene, die durch Aktionen für Unterstützung und Sympathie in der Bevölkerung werben wollen. So verlegten viele Studierende und ihre Dozentinnen und Dozenten die Lehre kurzerhand ins Freie - nicht zuletzt auch, um das von Wissenschafts- und Kultursenator Radunski gezeichnete Bild vom faulen Studierenden, der zweimal pro Jahr eine Flugreise macht, öffentlich zu widerlegen. Auf Berlins Plätzen, Straßen und sogar in der U-Bahn waren neben Diskussionen mit Passanten über den Wert akademischer Bildung für die Gesellschaft und über die Zukunft der Berliner Hochschulen auch "Lehrbetrieb as usual" angesagt. Zum Teil wurden diese Veranstaltungen wie bei den FU-Soziologen intensiv vorbereitet, zum Teil aber auch spontan beschlossen.

Nach den Tagen des lautstarken Protests schien Entkrampfung durch Humor das Motto zu sein. Der Berliner Dom zum Beispiel diente als Kulisse für die Bibelexegese eines Theologieseminars. Im Lustgarten diskutierten Studierende über die "Sinnlichkeit im 18. Jahrhundert" und vor dem Roten Rathaus beschäftigte sich ein Seminar mit der Beziehung von "Bundestag und Bundesverfassungsgericht", was zur vorübergehenden Festnahme des Dozenten durch die Polizei führte, weil er die Veranstaltung angeblich nicht ordnungsgemäß angemeldet hatte. Eine der bestbesuchten Freiluftaktionen war am 29. April die gemeinsame Vorlesung der FU- und HUB-Juristen auf dem Breitscheidplatz. Vor insgesamt ca. 700 Studierenden schilderte der FU-Strafrechler Prof. Klaus Geppert die Auswirkungen der Einsparungen auf die Ausbildung in seinem Fach. Statt angesichts wachsender Studierendenzahlen zusätzliches Personal einzustellen und den Buchbestand in den Bibliotheken zu erhöhen, werde Personal wegrationalisiert und der Beschaffungsetat der Bibliotheken zusammengestrichen. Das von Studierenden initiierte Tutorienmodell, vor allem die Intensivbetreuung in Kleingruppen, würde damit zunichte gemacht.

Zu dem Urteil, daß die deutsche Bildungspolitik durch die konzeptionslose Sparpolitik der letzten Jahre unwiderruflich verwüstet wird, kommt auch der Geowissenschaftler Prof. Dieter Jäkel. Er hatte sich für seine Vorlesung am 9. Mai den Hermann-Ehlers-Platz ausgesucht. Seiner Analyse sollten Politiker besondere Aufmerksamk eit schenken, schließlich gilt Prof. Jäkel als einer der renommiertesten Verwüstungsexperten. Die FU schickte ihn zuletzt 1995 in die chinesische Gobi - zu Forschungszwecken, wohlgemerkt.

Uwe Nef

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