Im Dschungel der Neurone

Berliner Neurobiologen folgen der Gedächtnisspur


Die Frage existiert seit Menschengedenken. Seit Menschen denken, wird um sie gestritten: "Was es denn nun sei, das Gedächtnis ." Für Sokrates bestand Lernen darin, "an Dinge erinnert zu werden, die schon von Geburt an im Gehirn vorhanden sind." Durch alle Jahrhunderte wurde fleißig darüber nachgedacht, und die Philosophen spalteten sich in zwei Lager. Sahen die ideellen Nachfolger des Griechen das Denken des Einzelnen als Spiegel eines allumfassenden Gottesgedankens wie beispielsweise auch Leibniz, so glich das menschliche Gehirn nach Auffassung der Rationalisten erst einmal völlig "weißem Papier, auf das die Erfahrung mit fast unendlicher Vielfalt zeichnet", indem ein "hydraulischer Stempel" (Descartes) darauf seine Prägung hinterläßt.


Zwischen Determination und Erfahrung

Auch Naturwissenschaftler stellen die Frage, welchen Stellenwert biologische Determination und Erfahrung haben. Der Richtungsstreit wird von Genetikern, den "Sokratikern unter den Biologen" auf der einen und Verhaltensbiologen, den "Lernempiristen", auf der anderen Seite ausgetragen.

Die Genetik sagt uns, daß der gesamte Ablauf unserer Entwicklung allein durch unsere 46 Chromosomen bestimmt ist, somit auch die Ausbildung des Nervensystems mit seiner spezifischen Verschaltung zwischen den Nervenzellen. Dem setzen Verhaltensbiologen entgegen, daß Lernen auf individueller Erfahrung beruhe und daher auch die Funktion des Gehirns ändere. So können sich eineiige Zwillinge mit völlig identischem Erbgut verschieden entwickeln, wenn ihre Lebenswege unterschiedlich verlaufen.

In Prof. Menzels Arbeitsgruppe sind Bienen die Hauptdarsteller. Schon nach einmaliger Gabe eines Duftstoffs und danach verabreichter Zuckerlösung verbinden sie assoziativ des Stimulus mit der Belohnung.

Für Neurobiologen scheinen sich die Positionen nicht völlig gegenseitig auszuschließen ö auch nicht für die Berliner Forscher des Sonderforschungsbereichs" Mechanismen entwicklungs- und erfahrungsabhängiger Plastizität des Nervensystems", der im November 1995 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt wurde. Biologen, Biochemiker, Mediziner und Pharmakologen der FU Berlin, der TU Berlin und der Humboldt-Universität sowie des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin wollen jetzt gemeinsam fachübergreifend Hirnforschung betreiben. Sprecher des SFB 515 ist der am FU-Institut für Neurobiologie tätige Zoologe Prof. Randolf Menzel. Der Leibniz-Preisträger des Jahres 1991 erwartet von der Kooperation im Rahmen des Forschungsverbundes vor allem einen intensiven Methoden- und Gedankentransfer zwischen den einzelnen spezialisierten Arbeitsgruppen. Stark vertreten ist die FU, denn insgesamt sind neun Arbeitsgruppen von den Instituten für Biochemie, Neurobiologie, Biologie, Neuropsychopharmakologie und der Abteilung für innere Medizin des Universitätsklinikums Benjamin Franklin beteiligt. Eine Gruppe von Wissenschaftlern (Buchner/Hucho FUB, Rathjen MDC, Saumweber HUB, Ahnert-Hilger Charitˇ) will zelluläre Signalketten aufklären, die genetisch programmierte Verschaltungen der Nervenzellen während der Entwicklung steuern. Eine zweite Gruppe (Draguhn/Heinemann, Grantyn, Charitˇ; Keltenmann MDC; Nixdorf-Bergweiler HUB; Pflüger, Bicker, FUB) untersucht, wie Aktivität aufgrund sensorischer Rückmeldung die Entwicklung programmierter Schaltkreise im Nervensystem anpaßt. Schließlich fragt eine dritte Gruppe, (Erber TU; Skiebe-Corette, Müller, Hammer, Menzel und Wolffgramm, alle FUB), wie individuelle Erfahrung und modulatorische Prozesse im Nervensystem bestehende Schaltkreise funktionell modifizieren.

Die Hauptdarsteller in Prof. Menzels Arbeitsgruppe sind Honigbienen. Im Institutsgarten in der Königin-Luise-Straße fühlen sie sich in über 15 Bienenstöcken wohl. Neben ihrer Laborarbeit produzieren sie übrigens reichlich Honig, genug, um die Arbeit der Wissenschaftler mit reichlich Nervennahrung zu versüßen.

Trotz ihres kleinen Gehirns ist die Dahlemer Biene extrem lernfähig: Schon nach einmaliger Gabe eines Dufts und danach verabreichter Zuckerlösung verbindet das Insekt assoziativ den Stimulus mit der Belohnung - der Pawlowsche Hund läßt grüßen! Nimmt es erneut denselben Duft wahr, fährt es sofort reflexartig den Saugrüssel aus: Die Biene hat gelernt!

Damit sich Gelerntes dauerhaft im Gedächtnis einprägt, müssen im Hirn Umbildungen im Netzsystem der Nervenzellen stattfinden. Neue Verbindungspunkte zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen, entstehen.

Bekannt ist bereits, daß diese Vernetzung von Proteinen bewerkstelligt wird, die durch die biochemischen Reaktionen gebildet werden. Deren Aufgabe ist normalerweise die Signalweiterleitung bei der genetisch programmierten Verschaltung von Nervenzellen. Individuelle Langzeitgedächtnisbildung und Entwicklung des Nervensystems durch das Abrufen genetischer Programme bedienen sich also derselben biochemischen Mechanismen.

Mit Hilfe der immer beliebteren Anti-Sense-Technik möchte Dr. Hendrik Rosenboom (Arbeitsgruppe Menzel) zusammen mit den Arbeitsgruppen von Professor Rathjen und Professor Keltenmann (beide MDC) herausfinden, welche der Enzyme sowohl an der zellulären Signalweiterleitung als auch an der erfahrungsinduzierten synaptischen Verschaltung beteiligt sind. In eleganter Weise wird die Synthese des Enzyms Proteinkinase A einfach unterdrückt, um herauszufinden, ob die Hirnaktivität durch dieses Enzym beeinflußt wird. Das Ausschalten des zugrundeliegenden Gens geschieht durch Injektion eines künstlichen Gegenstücks in das Hirngewebe der Biene (Anti-Sense-DNA). Synthetisches und natürliches Gen binden aneinander und verhindern so die Transformation des Gens zum Enzym.


Läßt sich "Gedächtnis" sichtbar machen?

Die Neurobiologen verfolgen einen vielversprechenden Ansatz, mit dem sie das scheinbar Unmögliche angehen. Dabei helfen ihnen auch die emsigen Insekten. Ihre "Gedächtnisspur" machen die Wissenschaftler Jasdan Joerges, Armin Küttner, AG Menzel, während der Wahrnehmung von Düften in den sog. Antennaloben und den Pilzkörpern vom Anfang des Stimulus (in den sogenannten Antennalloben) mikroskopisch sichtbar. Die Aktivitätsbilder entstehen mit Hilfe eines Farbstoffes, der in Abhängigkeit der Calcium-Konzentration unterschiedlich stark fluoresziert, und werden auf dem Computer als Farbmuster dargestellt. Da Calcium die Erregung der Zelle anzeigt, eignet sich diese Art der Fluoreszenzmikroskopie gut zur Verfolgung des Erregungszustands im Gehirn.

Ein bestimmter Duft , z. B. der Nelke, bewirkt Stimulation , damit einen erhöhten Calciumspiegel und letzlich ein verstärktes Fluoreszenzsignal in bestimmten Zellverbänden. Verschiedene Düfte rufen verschiedene Farbmuster für die angesprochenen Hirnregionen hervor. Den Lieblingsduft seiner Haustierchen hat Randolf Menzel noch nicht identifizieren können, doch statt dessen stieß er auf ein viel aufregenderes Ergebnis: Beim Einsatz von körpereigenen, der artspezifischen Kommunikation dienenden Duftstoffe, den "Pheromonen", zeigten die Mikroskopaufnahmen für alle getesteten Bienen ein identisches Muster. Ganz im Gegensatz dazu Düfte aus der Umgebung, also Pflanzenextrake beispielsweise, die von jedem Versuchstier unterschiedlich, "ganz nach Geschmack" wahrgenommen werden.

Ob Bienen nun in Kanada sich auf Ahornblüten tummeln oder im Spreewald auf Klee, sie alle geben dieselben, genetisch codierten Pheromone, ab. Kanadische und deutsche Bienen würden sich also auf Anhieb "gut riechen können", da ihre Pheromone die gleichen Eindrücke in ihren Gehirnen hinterlassen.

Doch gleichzeitig unterscheiden sich die durch Düfte der Umwelt hervorgerufenen Farbmuster und erlauben den Pollensammlern individuelle Empfindungen und Vorlieben. Ein und derselbe Duft bewirkt bei verschiedenen Bienen verschiedene Empfindungen (d.h. Muster), aber die auch auf Pheromonen basierende Verständigung würde in der Bienenwelt interkontinental funktionieren.

Diese Entdeckung könnte eine weitere Brücke schlagen zwischen den zwei unterschiedlichen Untersuchungsansätzen zur Entwicklung des Nervensystems, denn sie gäbe ihnen beiden recht: Das Pheromon-Muster ist genetisch vorprogrammiert, wo hingegen Düfte, die sich durch individuelle Erfahrungen einprägen, auch zu individuell unterschiedlichen Farbmustern führen. Die biochemischen Vorgänge der Erregungsweiterleitung sind dabei dieselben. Unterschiedlich ist die Verknüpfung von Zellverbänden durch neue Synapsen.

Ob dieses Ergebnis den philosophischen Disput um das Gedächtnis hätte schlichten können , bleibt ungeklärt. Aber vielleicht hätten Leibniz und Descartes von den Wissenschaftlern des Berliner Sfb und den Bienen lernen können, daß die Wahrheit oft zwischen zwei Extremen liegt.

Heike Rebholz



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