Eine Lupe für Röntgenstrahlen

Delta-Kristalle als Bausteine einer neuen Röntgenstrahloptik


Die Leistungsfähigkeit von Computern hängt wesentlich von der Kapazität ihrer Speicherchips und der Geschwindigkeit ihrer Mikroprozessoren ab. Die bisher gebräuchliche Technik, die notwendigen Mikrostrukturen dur ch Projektionen mit Hilfe von ultraviolettem Licht herzustellen, stößt jedoch infolge der zu großen Wellenlänge an natürliche Grenzen. Gelänge es, statt des UV-Lichts der heute verwendeten Wellenlänge von etwa 400 nm (Nanometer) Röntgenstrahlen von weniger als 1 nm Wellenlänge einzusetzen, so ließen sich im Prinzip 400-fach kleinere Strukturen bearbeiten. Dies würde allerdings eine brauchbare Röntgenstrahloptik voraussetzen. Die bisherigen Versuche in dieser Richtung sind jedoch noch sehr weit von einer möglichen industriellen Anwendu ng entfernt. Ein en vielversprechenden Weg verfolgen seit einigen Jahren Wissenschaftler aus aller Welt mit der Züchtung von Kristallen, welche aus zwei verschiedenen Komponenten bestehen und als Grundbausteine einer neuen Art von Röntgenoptik dienen können . Dabei wird die Beugung am Kristallgitter genutzt. Die FU-Kristallographen Prof. Dr. Hans Bradaczek und Dr. Wilhelm Uebach sowie Prof. Dr. Gerhard Hildebrandt (vormals Fritz-Haber-Institut) erhielten 1994 das Patent auf Röntgenoptiken, welche mit solchen, von ihnen "Delt a-Kristalle" genannten Bausteinen arbeiten. Wie sie funktionieren - oder besser gesagt - prinzipiell funktionieren sollten, beschreibt Dr. Wilhelm Uebach.

Als Wilhelm Conrad Röntgen vor hundert Jahren an der Universität Würzburg eine neue Art von Strahlen entdeckt hatte, stellte er sofort umfangreiche Untersuchungen über deren Eigenschaften an. Die wesentlichen Ergebnisse waren, daß ; erstens diese Strahlen Ma terie durchdringen und zwar - grob vereinfacht - um so besser, je geringer deren Atomgewicht ist, und daß zweitens sich diese Strahlen in ihrer Richtung durch nichts beeinflussen ließen. Insbesondere ließ sich mit Spiegeln, Linsen und Pr ismen keine mit der Lichtoptik vergleichbare Wirkung erzielen. Die erste Eigenschaft führte unmittelbar zu der bis heute bedeutendsten und bekanntesten Anwendung in der medizinischen Diagnostik und bei der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung. Die zweite Eigens chaft bildet nac h wie vor das prinzipielle Hindernis für eine mit der Lichtoptik vergleichbare Röntgenstrahloptik.

1 und 2 stellen zwei Wellenzüge dar, welche an zwei Gitterebenen gebeugt werden. Der Weg der Welle 2 ist um die Strecke a länger als der Weg der Welle 1. Ist nun a genau eine Wellenlänge, so sind 1 und 2 nach der Beugung wieder "im Takt", sie "interferiere n positiv", es tritt ein Reflex auf. Andere Wegunterschiede führen zu gegenseitiger Auslöschung!

Schon wenige Jahre nach Röntgens Entdeckung beobachteten Max von Laue (1912) und seine Mitarbeiter eine Art "Reflexion" von Röntgenstrahlen an Kristallen, welche allerdings merkwürdigerweise je nach Kristalltyp und verwendeter Str ahlung nur unter einigen, wohl definierten Winkeln auftritt. Die Erscheinung wurde als eine Interferenzbeugung am Kristallgitter erkannt, analog der Beugung von Licht an Gittern, deren Abstände ungefähr gleich der Lichtwellenlänge sind. Damit wurden sowohl die Welle nnatur der Röntg enstrahlung als auch der regelmäßige Gitteraufbau von Kristallen bewiesen. Wellenlänge und Gitterabstände betragen weniger als ein tausendstel der Lichtwellenlänge. Der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen dem Reflexions winkel, der Wellenlänge der Strahlung und dem Abstand der interferierenden Gitterebenen wird nach William Lawrence Bragg als "Braggsche Gleichung" bezeichnet: je größer bei gegebener Wellenlänge der Gitterabstand, desto kleiner der Reflexionswinkel. Die Reflexion erf olgt symmetrisch zu den Git terebenen, die Lage der Kristalloberfläche spielt dabei keine Rolle.

Auf dieser Gesetzmäßigkeit beruht das von Prof. Hans Bradaczek, Prof. Gerhard Hildebrandt (vormals Fritz-Haber-Institut) und mir 1988 zum Patent angemeldete und 1994 patentierte Verfahren zur Röntgenoptik.

Die Idee wurde schon vor über 25 Jahren von Prof. Heinz Maier-Leibnitz für den Bau spezieller Neutronenstrahl-Monochromatoren vorgeschlagen und besteht darin, Kristalle zu verwenden, deren Gitterabstände von Ort zu Ort unterschiedlich sind, so daß jeder St rahl eines z. B. auseinanderlaufenden Bündels am Auftreffort den passenden Abstand vorfindet, also reflektiert wird. Kristalle mit einer Variation der Gitterparameter nannten die Patentinhaber "Delta-Kristalle", weil in den Naturwissenschaf ten der griechis che Buchstabe D gerne für die Bezeichnung von kleinen Änderungen benutzt wird. Mit einzelnen oder auch mehreren solcher Kristalle lassen sich die unterschiedlichsten Strahlengänge verwirklichen.

Wie realisiert man nun derartige "Delta-Kristalle"? Vor einigen Jahren wurden Versuche gemacht, durch einseitige Erwärmung eines Kristalls örtlich unterschiedliche Gitterabstände zu erzeugen, die Unterschiede betrugen hierbei jedo ch höchstens 0,1%. Es verbleibt die Anwendung von Mischkristallen aus (mindestens) zwei miteinander "verträglichen" Komponenten. Solche können auf vielerlei Arten aus der Gasphase, der Lösung oder der Schmelze gezüchtet werden. Stellt man sich einen kontinuierlichen åbergang z.B. v om reinen Germanium zum reinen Silizium vor, bei dem alle Zwischenstufen der Mischung durchlaufen werden, so lassen sich Gitterabstandsänderungen von 4% erzeugen. Silizium-Germanium "Delta-Kristalle" mit 0,6% Gittervariation wurden in Berli n-Adlershof aus der Schmelze gezogen und bereits beim Berliner Elektronen-Speicherring für Synchrotronstrahlung (BESSY) als Monochromatoren mit erhöhter Energieausbeute erprobt. Schon vor über 25 Jahren wurden an der Universität Karlsruhe - wenn auch zu völlig anderen Zwe cken - schöne Cadmium-Sulfid-Selenid Kristalle durch Aufdampfen gezüchtet (siehe Foto unten).

"Delta-Kristall" mit einem gleichmäßigen Übergang von Cadmium-Sulfid zu Cadmium-Selenid, gezüchtet aus der Gasphase, ein Geschenk der Universität Karlsruhe. Länge des Originals: etwa 4 cm.


Andere Zweikomponenten-Systeme ergeben höhere Differenzen und ermöglichen damit eine größere Çnderung der Divergenz. In Rußland, Japan und Deutschland wurden auf unsere Anregung Kristallisationsversuche mit unterschiedli chen Methoden durchgeführt, die vie lversprechende Ergebnisse hatten. Die zur Zeit aussichtsreichsten Züchtungsversuche des Instituts für Kristallographie der Humboldt-Universität lieferten mit einem dort entwickelten Verfahren hervorragende Kristalle aus den Mischsystemen In dium-Gallium-Ant imonid und Wismut-Antimon.

Dennoch ist der Weg zu einer echten Röntgenoptik, wie etwa zu einer Lupe oder zu einem Mikroskop, noch sehr weit, denn die bislang vorhandenen "Delta-Kristalle" haben entweder nicht die nötige Qualität oder zu wenig "Delta&qu ot;. Ein breit angelegtes Projekt, bei welchem Röntgenoptiker und Kristallzüchter eng zusammenarbeiten müßten, konnte bislang nicht in die Wege geleitet werden. Eine solche Zusammenarbeit, für die gerade in Berlin beste Vorausset zungen bestehen, wäre jedoch dringend erforderlich, wenn nicht wieder einmal andere die Nase vorn haben sollen. Denn es besteht kein Zweifel, daß sich die Methoden zur Züchtung von "Delta-Kristallen" von Jahr zu Jahr verbessern werden und damit die Zahl der Anwendungen wächst.

Wie sagte doch einst der Physiker Carl Ramsauer: Das erste Elektronenmikroskop kann mit dem Versuch verglichen werden, mit einer Bierflasche Lichtoptik zu betreiben. Und es dauerte viele Jahrzehnte bis der Erfinder, der Nobelpreisträger Ernst Ruska, das El ektronenmikroskop zu der heutigen Leistung entwickeln konnte.

Dr. Wilhelm Uebach


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