Rückblick auf ein halbes Jahr Rußland, das sind zuerst Bilder vom Krieg, Erdbeben, die Ruinen von Grosny, immer wieder weinende Menschen, Panzer, Uniformen, Tod. Das ist die Erfahrung, daß Gewalt und Menschenleben in Rußland und in der russischen Politik einen anderen Stellenwert haben als bei uns.
Rußland-Korrespondent Arnim Stauth
Die Stunden im Flugzeug, nach den Dreharbeiten auf dem Rückflug nach Moskau, sind die erste Gelegenheit nachzudenken: zum Beispiel über das, was ich in Budjonnowsk gesehen habe. Die drei Tage und Nächte in der kleinen Stadt in Südrußland, in der der Tschetschenenführer Schamil Bassajew 1000 Menschen als Geiseln nahm, war Horror. In der Nacht nach dem Sturmangriff der russischen Truppen lassen die Tschetschenen uns und ein paar andere Journalisten in das Krankenhaus, in dem die Tschetschenen sich mit ihren Geiseln verschanzt haben. Schweigend, einer hinter dem anderen, gehen wir auf das dunkle, zerschossene Gebäude zu, ab und zu steigen orange brennende Leuchtraketen auf, dann werden die rauchgeschwärzten Mauern sichtbar. Wir hoffen, daß die Kämpfer auf beiden Seiten wissen, wer wir sind und daß keiner aus Versehen schießt.
Auf den stinkenden Fluren des Krankenhauses liegen verletzte tschetschenische Kämpfer neben ihren Geiseln, die vor Angst und Erschöpfung keinen Schlaf finden; in den Treppenhäusern Blutlachen, Patronenhülsen, Glassplitter. Die Menschen hier haben mitangesehen, wie neben ihnen andere von Granaten und Maschinengewehrsalven zerrissen wurden, eine alte Frau klammert sich an mich, fleht uns an, sie hier rauszuholen. Und wir können nichts tun, nur filmen und berichten, was wir gesehen haben. Unser Presseausweis macht uns zu Menschen erster Klasse, ist die Garantie, daß wir in einer Stunde den Schreckensort verlassen dürfen, und die Geiseln bleiben in Todesangst zurück.
Freunde haben mich gefragt, wie kannst Du nach solchen Erlebnissen konzentriert arbeiten? Die Arbeit ist dabei auch ein Schutz. Wenn meine Reportage zwei Stunden später geschnitten, getextet und über die Satellitenschüssel gegangen ist, dann ist erst mal ein bißchen Distanz geschaffen.
Die Kathedrale des Heiligen Basilius in Moskau
Und wie schlimm es war, habe ich eigentlich erst gemerkt, als ich den Kollegen in Moskau alles nochmal erzählt habe. Bei solchen Einsätzen hat der Arbeitstag 20 oder auch 24 Stunden. Alle ARD-Sendungen vom Frühstücksfernsehen, Beginn 5.45 Uhr, bis zum Nachtmagazin, Ende 1.00 Uhr müssen versorgt werden, wenn möglich mit immer neuen, aktualisierten Berichten. Wir haben dann unseren eigenen mobilen Schnittplatz dabei, in Budjonnowsk haben wir ihn auf der Bühne eines alten Theaters aufgebaut, dort arbeiteten noch sieben oder acht internationale Fernsehanstalten; während ich meine Texte schrieb, konnte ich zuhören, was der Kollege von der BBC oder dem schwedischen Fernsehen ein paar Meter weiter ins Mikrophon sprach. Auf und zwischen den Schneidetischen wird gegessen, Dosensuppen und Konserven, die wir mitgebracht haben, und wer Zeit hat, kriecht für ein paar Stunden in den Schlafsack.
Daneben gibt es natürlich auch ab und zu die "normalen" Arbeitstage in unserem Studio nicht weit vom Weißen Haus. Der Alltag von Pressekonferenzen, Telefonrecherche und Agenturmeldungen; Tage, an denen man mittags in unserer Studioküche bei Ljuba Borschtsch und Hühnchen essen und dabei mit den russischen und deutschen Kollegen auch mal über etwas anderes als die Arbeit reden kann. Und manchmal ist abends sogar Zeit, sich zu verabreden. Essen gehen, Kino, Theater, ein seltener Luxus, den man dann um so mehr genießt, wenn man nicht gerade wieder in einem sündhaft teuren Restaurant mäßig oder miserabel bewirtet wird.
Arnim Stauth