Brief aus Cambridge



Ein Hauch von Disneyworld rund um den Harvard Square

Mit seinem "Hinterland" Boston ist Cambridge, Massachusetts, in vieler Hinsicht ein Ort nach europäischem Geschmack. Rund um den Harvard Square ist Cambridge aber auch eine Art Mikrokosmos mit einem Hauch von Disneyworld. Hier finden sich in schmalen Straßen unzählige kleine Restaurants, Cafˇs, Delikatessengeschäfte, Boutiquen und fast 30 Buchläden. Dazwischen Oasen, auf denen Studierende, "street people" und Touristen herumlümmeln, ihr Lunch aus der unvermeidlichen Styroporverpackung befreien oder sich gedankenverloren ihrer Lektüre widmen.

Der obskurste Barde findet hier noch ein wohlwollendes Publikum; Obdachlose und Aussteiger, die freundlich um Kleingeld bitten, gehören mit ins Bild scheinbarer Eintracht; und der nicht-motorisierte Mensch - hier ist er eine respektable Spezies. Der schöne Brauch, den Memorial Drive am unweit entfernten Charles River an Sommersonntagen für den Autoverkehr zu sperren, verwandelt das Areal gar in eine Spielwiese für alles, was sonst noch rollt und rennt. Auch der Fluchtweg ist geebnet: Mit der U-Bahn ist man schnellstens Downtown Boston, in einer Welt der Bürogebäude, Banken und business suits.


Von Sabine Sielke, Cambridge/Massachusetts

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen natürlich nicht vorrangig zu Spiel oder Bankgeschäft in diesen Teil Neuenglands. Doch sie kommen zahlreich. In Boston, Cambridge und Umgebung befinden sich über 50 Universitäten und Colleges, darunter in Cambridge zwei Giganten: das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und die Harvard University. Im Jahre 1636 als erste amerikanische Institution höherer Bildung gegründet und seit 1780 als Universität anerkannt, ist Harvard mittlerweile nicht nur eine der privilegiertesten amerikanischen Universitäten, sondern auch der größte Arbeitgeber und Steuerzahler in Cambridge.

Man wirbt damit, sechs amerikanische Präsidenten (von John Adams bis John F. Kennedy), Dichter und Denker wie Henry Wadsworth Longfellow und William James sowie 33 Nobelpreisträger produziert zu haben und berichtet stolz über millionenschwere Spenden Ehemaliger.

Die Investition in einen akademischen Grad der Harvard University zahlt sich also aus. Selbiger hat bekanntlich seinen Preis: Die jährlichen Studiengebühren für das College betragen zur Zeit (inkl. Unterkunft, Verpflegung und Krankenversicherung) 26.230 Dollar. Da mit der Zulassung in der Regel auch der gutbezahlte Job als gesichert gelten kann, ist die kostspielige Entscheidung, das Studium an der Harvard University aufzunehmen, jedoch Teil eines career management, das heutzutage von Frauen wie Männern betrieben wird. Frauen wurden 1945 erstmals zum Studium an der Harvard Medical School zugelassen, obwohl Mediziner warnend einräumten, daß ihre Studierfähigkeit durch allmonatliches Menstruieren stark beeinträchtigt sei.


Die Kirche bleibt im "globalen" Dorf: Memorial Church auf dem Campus

Wen wundert's da, daß das Alumni Office del Medical School, das zur Zeit die Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum vorbereitet, sich schwer tut, Studentinnen der ersten Stunden positive Statements zu ihrer Harvard-Erfahrung zu entlocken. Die allgemeine Zulassung von Frauen erfolgte sukzessive bis in die siebziger Jahre und in Kooperation mit dem Radcliffe College. 1879 gegründet und nur einen Fußweg vom Harvard Yard entfernt, gehört die "kleine Schwester im Schatten des großen Bruders" heute zu den führenden Women's Colleges in den USA und beherbergt eine der bedeutendsten Forschungseinrichtungen zur Geschichte amerikanischer Frauen, die Schlesinger Library, sowie das Bunting Institute mit seinem privilegierten Fellowship-Programm für postgraduierte Frauen.

Wer beträchtliche Summen ins Studium investiert, der betrachtet die Universität als Serviceeinrichtung, die einen zuvorkommend zu bedienen hat und Studium und Leben auf dem Campus zu einer reibungslosen Angelegenheit machen sollte. Das beginnt bei der Ausstattung der Forschungseinrichtungen und Bibliotheken (Harvard verfügt über die mit 4,5 Millionen Titeln größte Universitätsbibliothek der Welt, deren Magazin für Außenstehende nur gegen Verrichtung einer beachtlichen Gebühr zugänglich ist), schließt den dezidierten Anspruch auf kurzweilige Lehrveranstaltungen ein und hört beim flächendeckenden Netz von Notruftelefonen auf.

Warum letztere so wichtig sind, erläutern z. B. die Aushänge in den Damentoiletten des Malkin Athletic Centers (für die ich, bedingt durch das eigene Forschungsinteresse, eine selektive Wahrnehmung entwickelt habe). Nachdem die Harvard "Hotline" für Frauen mit Eßstörungen wochenlang ihren Service feilbot, meldet sich nun wieder die studentische Selbsthilfegruppe für "Überlebende" sexueller Belästigung und Gewalt zu Wort: "I am angry", teilt mir seit einigen Tagen ein quietschgelbes Plakat mit, "that I cannot walk alone at night" - eine etwas ärgerliche Formulierung, die andeutet, wie die an amerikanischen Universitäten wuchernde Debatte über sexuelle Gewalt und date rape immer auch dazu tendiert, das traditionelle Geschlechterrollenspiel zu verstärken.

Doch Harvard gibt sich "politisch korrekt" und weltoffen zugleich, was auch der Strom hochkarätiger Gastrednerinnen und Gastredner unterschiedlichster Provenienz bezeugt: Nadine Gordimer, Wole Soyinka, Barbra Streisand und Christo (zum Thema "Wrappping the Reichstag") - für alle scheint Harvard eine Reise wert (denn allen vergütet Harvard die Strapazen der Reise großzügig). Während affirmative action - eine im Kontext der Bürgerrechtsbewegung entstandene Antidiskriminierungsmaßnahme - zur Zeit wiederholt als Mittel zur Benachteiligung weißer Männer unter Beschuß gerät, zeigt Universitätspräsident Rudenstine Flagge, veröffentlicht eine 20seitige Zusammenfassung des Harvard "affirmative action plans" und lädt Jesse Jackson zum Vortrag in die John F. Kennedy School of Government. "Acting affirmatively", betont Jackson, sei noch lange nicht obsolet.

Besonders Rassenkonflikte, die bereits der Sozialreformer und Schwarzenführer W.E.B. Du Bois, der 1895 an der Harvard University promovierte, als das zentrale Problem des amerikanischen 20. Jahrhunderts identifizierte, bleiben auch dem 21. Jahrhundert als schwergewichtige Erblast erhalten.

Harvard gilt als ein Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem. Am W.E.B. Du Bois Institute for Afro-American Research wird seit 1975 zur afro-amerikanischen Geschichte und Kultur geforscht. Die Lehrkräfte des Department for Afro-American Studies unter Leitung von Henry Louis Gates, Jr., sind Starbesetzung oder wie Gates es formuliert, ein "academic dream team". Die politische Stoßrichtung der African American studies der Harvard University ist jedoch lediglich eine Position in einer Auseinandersetzung, die die New Yorker Village Voice kürzlich auf die Schlagworte "Multiculturalism vs. Afrocentricity" reduziert und polemisch als "black studies war" beschrieben hat.

Angesichts der Vehemenz, mit der zur Zeit alte Wunden im amerikanischen Selbstverständnis - darunter Rassenkonflikte ebenso wie der Vietnamkrieg - wieder aufbrechen, ist es erstaunlich, daß der Glaube an ein "besseres Amerika" von schwarzen wie weißen Intellektuellen hier weiterhin mit Emphase beschworen wird.


Woolworth und Dunkin Donuts - das "andere Amerika" am Central Square

Nur eine U-Bahn-Station in Richtung MIT und Downtown Boston entfernt liegt der Central Square, wo sich dem Beobachter das "andere Amerika" darbietet. Nicht der Wordsworth Buchladen und Cardullos Gourmet Shop, sondern Woolworth und Dunkin Donuts beherrschen das Bild. Daneben verstaubte Auslagen des heruntergekommenen Einzelhandels, aber auch Künstlerstudios, eine alternative Musikszene und zahlreiche Restaurants aller Nationalitäten. Und vor Lucy Parsons Center - einem linkslastigen Buchladen mit Kommunikationszentrum und 20jähriger Tradition - tönen allsonnabendlich die Glaubensbekenntnisse der martialisch anmutenden, fundamentalistischen Black Israelites, stets mißtrauisch von der Polizei observiert. Welten scheinen Harvard und Central Square zu trennen.

Im Vergleich mit dem jenseits des Charles Rivers gelegenen urbanen Boston wirkt Cambridge samt Central Square jedoch fast wieder einträchtig. Vom anderen Ufer aus erscheint die Lebenswelt Cambridges - mit ihrem schwarzen Bürgermeister und ihrer kopflastigen "academic community" - für viele wie ein provinzielles Inseldasein. Ist die "academic community" auch nicht mit Cambridge gleichzusetzen, ein (globales) Dorf ist sie unbenommen. Und apropos Inseldasein: Vielleicht fühlt sich die Berlinerin ja gerade deshalb in Cambridge in vieler Hinsicht so heimisch.

Sabine Sielke

Sabine Sielke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am John-F.-Kennedy-Institut der FU und arbeitet an einer Habilitationsschrift zur Rhetorik sexueller Gewalt in der amerikanischen Literatur und Kultur vom Ende des 18. bis Ende des 20. Jahrhunderts. Unterstützt durch Fellowships des American Council of Learned Societies und des W.E.B. Du Bois Institute for Afro-American Research hat sie für dieses Projekt von September 1994 bis Juni 1995 an der Harvard University geforscht.


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