Bevor der Anfang geschafft ist, sind viele schon am Ende. Es geht um die Angst des Studenten vor dem weißen Blatt, um Examensarbeit und Schreibblockade. Es geht aber auch um den Ideenreichtum, den viele Studierende an den Tag legen, um den Gang zum Schreibtisch hinauszuzögern. Da muß erledigt werden, was keinen Aufschub duldet: Geschirr abwaschen, einkaufen, telefonieren, Blumen gießen, Fenster putzen. Den Weg zurück zum verwaisten Schreibtisch - mit Lust statt Frust - und damit auch hin zum Exa men möchte die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung leidgeprüften Studierenden mit einem Workshop weisen, der den Titel trägt:


"Die Examensarbeit: Schafft sie mich oder schaffe ich sie?"


Der Wecker klingelt laut und viel zu früh. Der müde Mensch hat keine Lust zum Aufstehen und deshalb auch keine Eile damit. Irgendwann ist es dann doch geschafft, wie auch der schwere Weg zum Schreibtisch. Aber umsonst: Er starrt aufs Papier. Wieder und wieder liest er das zuletzt Geschriebene - und noch einmal - und weiß doch nicht wie weiter.

Welche Studentin, welcher Student hat es nicht schon selbst erlebt: Die Hausarbeit sollte fast fertig sein, nicht einmal das erste Kapitel aber ist geschafft. Auch heute wird es wohl nichts werden. Nun ja, morgen ist auch noch ein Tag. So oder ähnlich sucht der arme Student Trost und findet ihn doch höchstens für einen Tag. Eine Lösung ist dies nicht.

Zwölf Studentinnen und Studenten, die das ewige Aufschieben kennen und satt haben, wollen lernen, wie es besser zu machen ist. Sie haben Glück gehabt und konnten einen Platz ergattern in einem der regelmäßig angebotenen und heißbegehrten Workshops der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung. An fünf Vormittagen treffen sie sich mit Helga Knigge-Illner, eine der zehn beratenden MitarbeiterInnen der Zentraleinrichtung, in der Brümmerstraße 50. "Examensarbeit - schafft sie mich oder schaffe ich sie?" , fragt die promovierte Psychologin den TeilnehmerInnen aus dem Herzen. Die meisten stecken schon mittendrin in der vorerst letzten großen Schreibarbeit. Zuvor, bei den vielen kleinen Hausarbeiten, haben sie es noch immer irgendwie gesc hafft - manchmal mehr schlecht als recht. Diesmal ist es etwas anderes. Mit der zunehmenden Seitenzahl haben sich die kleinen Probleme zu großen Schwierigkeiten ausgeweitet. Jetzt überlegen alle, warum sie nicht früher das Angebot der Studienberatung genu tzt haben. Knigge-Illner glaubt, die Antwort zu wissen: "Die Leiden müssen groß genug sein, damit der oder die Einzelne begreift: "Ich muß etwas tun"." So werden die Workshops wohl auch weiterhin vornehmlich von den Studierenden besucht, die eine zweistel lige Semesterzahl und eine leidvolle Geschichte auf dem Buckel haben.

Die heute um den Tisch sitzen, sind nicht zwangsläufig Fälle für den Psychotherapeuten. "Hier sitzen keine Studierenden mit irgendwelchen außergewöhnlichen Defiziten, sondern diejenigen, die sich ihre Schwächen eingestanden haben, die Hilfe und Anleitu ng suchen", urteilt Knigge-Illner. Zauberformeln hat sie freilich nicht parat. Die Examensarbeit gilt es zu schaffen und hierfür gibt der Workshop allemal nützliche Tips - nicht nur fürs Schreiben. Denn die Qual fängt für die meisten eben schon vor dem er sten geschriebenen Wort an. Bevor der Anfang geschafft ist, sind sie schon am Ende.


Bedrohlich: Bilder, die entstehen, wenn Studierende ihre negativen Empfindungen zum Examen malerisch ausdrücken


Wie läßt sich das sinnlose Starren auf das leere Blatt vermeiden, wie die Gedanken in die richtige Richtung lenken, wie Worte schreiben, anstatt Strichmännchen zu malen? Und vor allen anderen Fragen muß die beantwortet werden: "Wie schaffe ich ohne Fru st den täglichen Weg zum Schreibtisch?" Der Aus- und Umwege gibt es viele: Da fällt einem plötzlich ein, daß man heute noch einkaufen muß oder mal wieder Fenster putzen könnte. Die Blumen haben auch noch kein Wasser und das Geschirr türmt sich zum Abwasch berg. Die es erzählen müssen manchmal selbst schmunzeln über so viel Einfallsreichtum. Wer will, der findet stets eine Ablenkung. Doch gibt es auch triftigere Gründe für einen verwaisten Schreibtisch, sei es der Job zum Geldverdienen, die Vorlesung an der Uni oder ein Treffen mit Freunden.

Wie kann alles unter einen Hut gebracht und dem ewigen Auf- und Hinausschieben begegnet werden? Ein Plan muß her - genauer zwei: einer für die Woche und einer für den Tag. Auf dem Tagesblatt steht dann neben der 7 "Aufstehen" und neben der 8 "Hausarbei t". Wer meint, daß dies nicht genügt, hat recht. Wichtig ist es, Pausen einzuplanen und die Arbeit regelmäßig zu unterbrechen. Nach eineinhalb Stunden zehn Minuten Pause ist hier die Faustregel.

Realistische Ziele soll sich ein jeder und eine jede setzen und sich nicht durch "Über-Ich-Forderungen" das Leben selbst zur Hölle machen. Sogar belohnen darf sich, wer das Pensum schafft - mit einem Konzertabend etwa. Der Lohn einer geschafften Hausar beit ohne graue Haare winkt ohnehin. Die Psychologin hält auch für sich selbst viel von einem guten Plan. Zwar schreibt sie sich nicht die Kaffeezeit vor, doch für Planungsanfänger sei dies durchaus ratsam.

Aber der beste Arbeitsplan beugt nicht den Mühen und manchmal Leiden des Schreibens vor. Auch wer um 8 Uhr aufsteht und eine Stunde später am Schreibtisch sitzt, bringt es vielleicht nur dahin, Strichmännchen aufs Papier zu malen. Nun, warum soll der g eplagte Student nicht anstelle des Malens versuchen, Worte zu schreiben. Einfach drauf los. Es kann Unsinn sein. Es wird Unsinn sein - unwichtig. Wichtig ist: schreiben, schreiben, schreiben.

Ein Dichter übrigens hat es ebenso gemacht: Henry Miller. Und der brachte immerhin einige aufsehenerregende Bücher zustande. Allerdings hat er nach chaotischem Beginn stets den Übergang zu wohlgeformten Sätzen gefunden.

Doch der Workshop kann und will keine Anleitungen zum Romaneschreiben geben. Und wem nach einer Seite Unsinn nur immer neuer Unsinn einfällt, der muß nicht gleich aufgeben und auf die Konzepte der Psychologen schimpfen. Die nämlich wissen weiter und zw ar mit "Clustering". Im Cluster, zu deutsch Büschel, werden Begriffe und Assoziationen zum Thema vereinigt. Es entsteht ein Büschel der Beziehungen und Abhängigkeiten, der Nähe oder Distanz. Mehr als eine Vorarbeit kann dies nicht sein, doch immerhin.

Erst wer sein Thema begriffen hat, kann es auch schriftlich bewältigen. "Clustern" ist ein erster Schritt, ein wichtiger zudem, doch die halbe Hausarbeit ist es nicht. Wie schwierig das Schreiben bleibt, erfahren die StudentInnen, als sie aus dem Büsch el Sätze machen sollen - am Beispiel pro und contra Zeitmanagement. Eilig drauf los schreiben die einen, ratlos schauen die anderen. Doch niemand braucht zu verzweifeln. Schreiben, so erklärt Knigge-Illner, ist ein hochkomplizierter Prozeß. Verschiedene H ürden müssen bewältigt werden. Scheitern tun jene, die alle Hürden auf einmal nehmen wollen. Der Prozeß des Schreibens muß deshalb in verschiedene Arbeitsschritte zerlegt werden. Ging es im Cluster darum, Ideen zu sammeln und zu strukturieren, müssen dies e jetzt in Sätze "übersetzt" werden. Das sollte ohne Augenmerk auf Rhetorik und Ausdruck geschehen. Wichtig ist, die Gedanken zu Papier zu bringen. Für den Feinschliff bleibt hinterher Zeit.

Alle guten Tips und noch besseren Pläne schützen nicht vor Unlust und Müdigkeit. "Eine Examensarbeit zu schreiben ist ein Stück weit immer auch ein Leidensweg", weiß Knigge-Illner nicht zuletzt aus eigener Erfahrung. Im Freudentaumel allein läßt sich solch ein Wissenschaftsstück nicht produzieren. Methoden und Theorien müssen erläutert, nach ihnen muß verfahren werden.

Und doch, es gibt auch Glücksmomente. So zu Anfang, wenn es erlaubt und sogar nötig ist, "ins Blaue hinein zu spinnen". So im Laufe der Arbeit, wenn man wachsende Kompetenz spürt. Und so am Ende, wenn die Sache vollbracht ist. Wichtig ist es, über Durs tstrecken hinwegzukommen. Es gebe sich keiner falschen Hoffnungen hin, diese kommen bestimmt. Um diese Durststrecken so erträglich wie möglich hinter sich zu bringen, treffen sich sechs der 12 StudentInnen seit Ende des Workshops einmal im Monat. Sie mach en jetzt ihren eigenen Workshop, ihr Programm ist dasselbe. Und mit den Hausarbeiten geht es besser voran seitdem. Die schaffen sie jetzt und lassen sich nicht mehr von ihnen schaffen.

Holger Heimann


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