Soll man dulden, daß in den FU:Nachrichten eine Werbeannonce der PDS erscheint? daß in der studentischen OSI-Zeitschrift OZ Artikel stehen, die eine vermeintlich überproportionale Beschäftigung mit der NS-Zeit auf Kosten der Beschäftigung mit Unrechtsverhältnissen in der DDR beklagen? daß ein Wissenschaftler in Räumen der Freien Universität AIDS auf andere Ursachen als das HI-Virus zurückführt und Kondome für überflüssig hält?
Drei mal: ja, im einen oder anderen Fall zähneknirschend. Für mich ist dabei nicht ausschlaggebend, ob Peter H. Duesberg - immerhin einer der Pioniere der HI-Forschung - mit einer multikausalen Entstehungstheorie für AIDS, seiner Kritik an der Vermarkt ung der Virusforschung durch die Pharmaindustrie und vor allem seinen Folgerungen für die Prävention recht hat. Ich will auch nicht entscheiden, ob die attackierten Autoren der OZ in ihren Artikeln unmißverständlich, zweideutig oder klammheimlich die Konz entrationslager der Nazis mit den Gefängnissen der DDR auf eine Stufe gestellt haben. Auch spüre ich keinerlei Entscheidungsdruck, mich in diesem Zusammenhang für oder gegen die PDS zu erklären, sofern ich politische oder weltanschauliche Werbung in der U niversitätszeitung generell konzedieren möchte.
Denn für die Duldung ist nicht die inhaltliche Richtigkeit, sondern die politische Gerechtigkeit entscheidend. Nicht anders sollte aber political correctness übersetzt werden. Die Verschiebung von der Entscheidung über d ie Richtigkeit der Inhalte auf die Gerechtigkeit von Umgangsformen ist dabei alles andere als "Formalismus", wie die Verächter von Formen schnell behaupten. Wer zeitweilig oder lebenslang - aus welchen Gründen auch immer - nicht das Glück der Teilhabe an einer Mehrheit hat, ist auf diese correctness angewiesen wie auf ein fundamentales Bürgerrecht. Es garantiert einen minimalen Schutz der nicht mehrheitsfähigen authentischen Äußerung in Verhältnissen, die durch die gleichen Ansichten von Mehrheiten bestim mt werden. Political correctness kann man sich nicht gut selbst für irgendeine seiner Ansichten bescheinigen, schon gar nicht, wenn man dazu auch noch über die Machtmittel verfügt, sie durchzusetzen. Politisch gerecht möchte ich dagegen eine Praxis nennen , bei der die Inhaber der Durchsetzungsgewalt Selbstverhaltung üben, wenn es um die Einschränkung der Selbstdarstellung von Minderheiten geht.
Für die Erklärungen und Parolen, die in den letzten Wochen zu den genannten Anlässen ab- und ausgegeben worden sind, wurde vielfach der theatralische Fundus der revolutionären Tradition geplündert: neben revisionistisch war menschenverachtend ein häufi g benutztes Wort, und wie immer bei solchen Anlässen wurde auch schnell eine Devise der demokratischen Gründergeneration hervorgeholt: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit. - Ist in diesem Jahrhundert je ein Gefangenenlager ohne die Berufung auf die ses Prinzip eingerichtet, ist schon einmal eine Versammlung, Demonstration oder Partei ohne diese Begründung verboten, ein Autodafˇ ohne derartige Sprüche veranstaltet worden? Das Freiheitsideal ist deshalb nicht unglaubwürdig, wohl aber die Berufung dara uf, um anderen die Freiheit zu nehmen.
Wenn politically correct ein Begriff für den Rechtsschutz von Minderheiten sein soll, dann muß die apologetische Selbstverklärung machtgestützter Akte anders heißen. Es macht dabei keinen Unterschied, wie alt diese Macht ist und wie weit ihr Bereich. I n dem Augenblick und in dem Geltungsgebiet, in dem eine vormalige Minderheit selbst rechtskräftig verwaltet und finanziert, verfügt und verbietet, hat sie das Lager gewechselt und sieht sich zu Recht den Erwartungen an politische Gerechtigkeit ausgesetzt, die sie selbst einst aus schwächerer Position formuliert hat. Dieselbe Parole, die einer in einer Position der Schwäche aus legitimem Grund in Anspruch nimmt, wird pervers in einer Liaison mit der Macht.
Eine ebenso beliebte Devise, die vor allem zur Begründung von Maßnahmen gegen die vermeintliche oder wirkliche Neue Rechte zur Anwendung kommt, heißt Wehret den Anfängen. Tatsächlich und auf beunruhigende Weise expandiert eine graue Zone des politische n Geredes, in der die Befreiung von den Nazis zur sogenannten "Befreiung" umgedeutet wird, weil für die Befreiten mit Horror verbunden; die deutsche Schuld an der Shoa weniger schwer zu wiegen scheint, weil in der Geschichte "nicht beispiellos" etc. Soll alles erlaubt sein, was nicht strafrechtlich erheblich ist? - Es spricht viel, es spricht alles für die moralische und politische Ächtung dieses Geschwätzes, aber nicht auf dem deutschen Verordnungsweg durch Verwaltungsakte oder Beanspruchung eines spezie llen Rechts im Universitätsbereich. Für gänzlich ungeeignet, ja fatal halte ich die schnellen Kurzschlüsse von Meinung und Macht: wenn ein FU-Präsident die presserechtliche Verantwortung für den Annoncenteil einer Universitätszeitung dazu benutzen wollte, seine politischen Ansichten durch Genehmigung oder Verbot von Inseraten mitzuteilen; wenn einer alten Linken, neuen Rechten oder anders mißliebigen Gruppen oder Personen der Zugang zu Versammlungsräumen, der Strom fürs Mikrophon oder der Weg zur Druckere i versperrt werden. Was bleibt aber dann?
Ob je irgendeine Wissenschaft, Pädagogik oder politische Überzeugungsarbeit Gesinnungen dauerhaft verändern und Menschen vor ihresgleichen in Sicherheit zu bringen vermag, kann man bezweifeln. Als Angehöriger einer Minderheit würde ich jedenfalls liebe r auf die Stabilität einer Konvention als die Gunst oder Glaubwürdigkeit einer Gesinnung setzen. Es hat den Vorteil, daß ich bei der Konvention nicht fragen muß, aus welchen Motiven sie rührt und ob sie echt ist. Die Strategie von political correctness zi elt auf derartige Konventionen.
Gert Mattenklott
Der Autor ist Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Mitglied des Akademischen Senats der Freien Universität Berlin.