Die wahre Struktur der Cellulose

Ein "Allerweltsstoff" gibt den Chemikern immer noch Rätsel auf


Cellulose ist die häufigste organische Verbindung der Biosphäre. Unsere Wälder produzieren jährlich mehrere Millionen Tonnen dieses Rohstoffes. Als Hauptbestandteil von Holz und Baumwolle sowie verschiedener Bastfasern wie Hanf oder Flachs ist Cellulose wichtigster Ausgangsstoff für die Textil- und Papierindustrie.

Wer hätte gedacht, daß chemisch modifizierte Cellulose Schlagsahne steif hält und vielen anderen Lebensmitteln als Bindemittel zugesetzt wird? Buster Keaton und seine Kollegen des Schwarz-Weißfilms bis hin zu den Diven der Nachkriegsjahre - sie verzauberten "auf Zelluloid gebannt" das frühe Kinopublikum; Nitrocellulose diente lange als Trägermaterial für lichtempfindliche Substanzen in der Photographie. Manch einer kennt diesen Celluloseabkömmling auch noch in seiner Verwendung als Schießpulver, die sog. "Schießbaumwolle".

Baumwollpflanze. Baumwolle ist der bedeutendste Textilrohstoff. Sie hat mit einem Anteil von 85-91 Prozent den höchsten Cellulosegehalt aller Pflanzen.


Cellulose, das jedermann bekannte Biomolekül, gibt den Strukturchemikern, den Kristallographen, heute noch immer eine Menge zu denken. Längst kennt man die chemische Zusammensetzung: das Makromolekül besteht aus bis zu 15.000 aneinandergefügten Zuckerresten (ß-Glucose), dennoch ist die dreidimensionale Struktur nicht ins Detail geklärt.

Lediglich die Stellung eines Molekülrestes (Hydroxylgruppe in ß-Stellung) macht aus der Kohlenhydratkette die wasserunlösliche, unverdauliche Cellulose und unterscheidet sie von der pflanzlichen Stärke. Aus den gleichen Bausteinen bestehend, dient die Cellulose nicht wie die helixartig gewundene Stärke der Ernährung der Pflanze als Glucosespeicher, sondern der Strukturbildung und Aufrechterhaltung der pflanzlichen Zellwände. Mehrere lineare Zuckerketten lagern sich zu den sog. Mikrofibrillen zusammen, diese wiederum ordnen sich zu Fasern, den Makrofibrillen, so daß ein ideales zugfestes Wandelement entsteht. Innerhalb der Mikrofibrillen lagern sich die Einzelstränge in Schichten übereinander an, die parallel oder antiparallel ausgerichtet sein können.

Je nach Orientierung unterscheidet man die natürlich vorkommende Cellulose I von Cellulose II mit antiparalleler Ausrichtung, die auch gleichzeitig die stabilere ist.

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts kannte man eine Veredelungsmethode, um aus herkömmlichem Baumwollstoff ein reißfesteres, glänzenderes und teureres Gewebe zu gewinnen. Dabei genügte es, den Stoff in Natronlauge zu legen : die Mercerisierung, ein einfaches Verfahren, das die Umordnung der parallelen molekularen Schichten der Cellulose I innerhalb der Mikrofibrillen zur umgekehrt parallelen Orientierung der Cellulose II bewirkt. Letztere, die in natura nur in Helicystis-Algen vorkommt, ist nun das bevorzugtere Objekt der modernen Strukturforschung geworden, da Cellulose für die Kristallzüchtung enzymatisch in kleine wasserlösliche Stücke geschnitten werden muß. Diese "Celluloseoligo-Saccharide" kristallisieren mit hoher Wahrscheinlichkeit im antiparallelen Muster der Cellulose II.

Durchstrahlt man unbehandelte Cellulosefasern mit Röntgenlicht, so sorgt ein jedes Atom für eine Streuung des Lichtstrahls und man erhält ein relativ unscharfes Beugungsmuster der Strahlen, welches nur grobe Strukturmodelle für die beiden Cellulosearten zuläßt. Dieser Sachverhalt ist nicht verwunderlich, denn eine einzige Faser besteht ihrerseits aus bis zu 20 langen Zuckerketten. Das bedeutet eine viel zu große Anzahl ungeordneter lichtstreuender Bereiche, um ein klares Beugungsmuster zu bilden.

"Weniger ist mehr", dachten sich Doktorandin Katrin Geßler und Professor Wolfram Saenger vom Institut für Kristallographie an der FU und nahmen sich nur ein winziges Bruchstück der Cellulose, ein Glucose-Tetramer (bestehend aus vier Zuckereinheiten), für ihre röntgenkristallographischen Untersuchungen vor. Die atomare Packung des gezüchteten Einkristalls entsprach derjenigen des Cellulose II-Kristalls. Mit hochenergetischem Licht einer Synchrotonquelle entwickelten die Forscher aus den Daten des Beugungsmusters ein Strukturmodell, das sich recht deutlich vom bisherigen unterschied. Energetische Untersuchungen bewiesen, daß die berechneten Bindungen auf der Basis des "verbesserten" Modells energetisch günstiger und somit stabiler sind. Die FU-Kristallographen korrigierten vor allem die Positionen der Wasserstoffbrücken. Neben den herkömmlichen Bindungen kommen diese elektrostatischen Bindungskräfte zwischen stark negativen Atomen wie zum Beispiel Sauerstoff und stark positiven Wasserstoffatomen in der Natur sehr häufig vor. Sie sind beispielsweise mitverantwortlich für die Helixform der DNA oder die räumliche Faltung von Proteinen.

So scheint es also, daß die neuen Hypothesen über die Wasserstoffbrückenbindungen, die Bindungswinkel und die Wellung der Glucosen der Natur sehr nahe gekommen sind. Katrin Geßler will ihr Projekt noch auf fünf- bzw. sechsgliedrige Glucoseketten ausweiten, um zu überprüfen, ob ihr Modell der Cellulosestruktur, deren Aufklärung die wissenschaftliche Welt nunmehr 70 Jahre beschäftigt, auch komplexeren Versuchsanordnungen standhält. Den Redakteuren des naturwissenschaftlichen Magazins "Science" war das Berliner Modell jedenfalls schon eine Veröffentlichung wert.

Heike Rebholz


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