Vom italienischen Elternrecht zum griechisch-türkischen Verkehrsunfall


Wenn deutsche Gerichte ausländisches Recht anwenden müssen


Wie würden Sie entscheiden, wenn Sie über folgenden Fall zu urteilen hätten? Ein vietnamesisches Flüchtlingsehepaar aus Italien wehrt sich vor einem deutschen Gericht gegen angebliche Übergriffe eines deutschen Ehepaares. Dieses will den Kontakt zu dem Kind der Vietnamesen, das sie ein Jahr als Pflegeeltern betreuten, aufrechterhalten. Das Kind war im Alter von sechs Tagen an einer Bushaltestelle in Frankfurt am Main von der Großmutter ausgesetzt worden.

Das Gericht entschied zugunsten der Kläger. Grundlage des Urteils war italienisches Recht - und das stellt das Erziehungsrecht der leiblichen Eltern über das Besuchsrecht der Pflegeeltern.

Deutsche Gerichte müssen, wenn Ausländer an Zivilrechtsstreitigkeiten beteiligt sind, in gewissen Fällen ausländisches Recht anwenden. Das kann deswegen der Fall sein, weil das Recht des Staates, in dem der Ausländer seinen Wohnsitz hat oder hatte, zu beachten ist. Ausländisches Recht kann auch deswegen maßgeblich sein, weil die Staatsangehörigkeit des Betreffenden die Beachtung seines Heimatrechts gebietet.

Stellt also eine Rumänin, die in Ungarn mit einem Marokkaner die Ehe geschlossen hatte, nachdem sie sich in Deutschland niedergelassen hat, während ihr Ehemann in seine Heimat zurückgekehrt ist, vor einem deutschen Gericht einen Scheidungsantrag, dann ist das international zuständige deutsche Gericht verpflichtet, die Ehe nach rumänischem Recht dem Bande nach zu scheiden. Rumänisches Recht findet hier Anwendung, weil es das Recht des Staates ist, mit dem der Fall die engsten Verknüpfungen aufweist.

Deutsche Gerichte müssen von Amts wegen ausländisches Recht anwenden, sie müssen es aber nicht aus eigener Kenntnis, so wie sie das deutsche Recht kennen müssen, anwenden. Deswegen bedienen sie sich in den meisten Fällen der Hilfe entsprechender Sachverständiger zum internationalen und ausländischen Recht. Aus verfahrens- und haftungsrechtlichen Gründen ziehen die Gerichte nicht Institute, Abteilungen oder Universitäten als solche heran, sondern beauftragen individuell einzelne Wissenschaftler.

Vor der Implosion des sozialistischen Blocks bedeutete Ostrechtsforschung praktisch die Befassung mit dem sozialistischen Rechtskreis weltweit. Dazu zählten die sozialistischen Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Zugang zu den Rechtssystemen Indochinas fand man zuallererst über die osteuropäische Literatur, in der Vietnamesen, Laoten oder Kambodschaner ihre heimatlichen Rechte darstellten. Die sozialistische Klammer hat sich heute gelöst; aber sozialistisches Recht lebt fort in Asien, , Nord-Korea, Indochina und der Volksrepublik China. Osteuropa ist jetzt dagegen der Raum des nachsozialistischen Reform- und Transformationsrechts. Die Rechtsvergleichung kann damit regionalisiert werden, was nicht bedeutet, daß der Blick auf die fortlebenden sozialistischen Rechte eingeengt werden muß. Die von der Interdisziplinarität geforderten Grenzüberschreitungen müssen auch von der Rechtsvergleichung verlangt werden; schließlich ist es verfahrensökonomischer, wenn der Fall eines Ukrainers, der mit einer Polin verheiratet war und in New York unter Hinterlassung eines New Yorker Testaments verstirbt, von einem einzigen Sachverständigen beurteilt wird, und nicht erst von einem Ostrechtler und dann einem Anglo-Amerikanisten.

Die Fälle, in denen internationales Recht zur Anwendung kommt, sind so vielfältig, wie das Leben selbst. Und mit weltweit wachsender Mobilität werden sie immer häufiger: Da ist der Rechtsstreit zwischen einem griechischen Gastarbeiter aus Deutschland und einem türkischen Gastarbeiter aus der Schweiz, die 1984 in der Vojvodina mit ihren Autos aufeinanderfuhren, schon nichts Außergewöhnliches mehr. Der Fall wurde nach jugoslawischem Recht entschieden, obwohl es den Staat zum Recht schon lange nicht mehr gibt.

Arno Wohlgemuth


Dr. Arno Wohlgemuth, Akademischer Mitarbeiter am Osteuropa-Institut, ist der einzige Experte in Deutschland für das Recht Indochinas. Seine Spezialkenntnisse erwarb er u.a. am Institut für Internationales und ausländisches Recht der FU und während Forschungsaufenthalten in Singapur, Tokio, Honolulu und Hanoi.


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