Im Schatten des Historikerstreits:

Die Debatte über Vernichtung und Vertreibung



"Zweierlei Untergang" hieß das Buch, das der Historiker Andreas Hillgruber 1986 veröffentlichte Es enthielt einen Aufsatz über die Vernichtung der europäischen Juden und einen weiteren über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. Beide historischen Phänomene wurden durch den offensichtlich bewußt gewählten Titel zueinander in Beziehung gesetzt. Hillgrubers Buch und ein gleichzeitig erschienener Zeitungsartikel Ernst Noltes lösten den sogenanten Historikerstreit aus. Dabei ging es jedoch mehr oder minder ausschließlich um die von Nolte aufgeworfene Frage, ob Hitlers "asiatische Taten" nicht eine Art vorbeugende Reaktion auf die früheren Verbrechen Stalins gewesen seien.

Hillgrubers Thesen wurden weit weniger diskutiert. Sein eigentliches Anliegen wurde noch nicht einmal erkannt. War doch das Buch über "Zweierlei Untergang" ganz offensichtlich eine Reaktion auf den von verschiedenen Journalisten und konservativen Historikern gemachten Vorwurf, daß das Thema der Vertreibung der Deutschen zugunsten einer isolierten Behandlung der Vernichtung der Juden vernachlässigt worden sei.

Dies war nicht völlig unbegründet. Zwar hatte Theodor Schieder im Auftrag der Bundesregierung schon in den 50er Jahren eine umfangreiche Dokumentation über die Vertreibung veröffentlicht, die - lange bevor dies im Zeichen der "oral history" modisch wurde - überwiegend aus Befragungen von Zeitzeugen bestand, doch in den 60er und 70er Jahren kam es zu einem deutlichen Nachlassen des Interesses der deutschen Historiker an diesem Thema, das gewissen Berufs-Vertriebenen und ihnen nahestehenden rechten und rechtsradikalen Publizisten überlassen wurde. In den Deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen von 1977 wagten die daran beteiligten (west-) deutschen Historiker noch nicht einmal, das Phänomen beim Namen zu nennen. Statt von "Vertreibung" sprachen sie von "Bevölkerungstransfer".

Doch in den 80er Jahren änderte sich das Bild. In der Bundesrepublik erschienen verschiedene Veröffentlichungen, in denen auch auf die Beziehungen zwischen der nationalsozialistischen "Volkstumspolitik" und der späteren Vertreibung der Deutschen aus dem Osten verwiesen wurde. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wandte man sich auch in den osteuropäischen Staaten diesen lange Zeit geradezu tabuisierten Themen zu. Bereits 1991 zeigte das polnische Fernsehen einen viel beachteten Dokumentarfilm über das Lager Lamsdorf in Schlesien, in dem Deutsche gefangengehalten wurden. Im November 1993 führte das Posener Westinstitut ein internationales Symposium durch, wobei auch Vergleiche zwischen der, jetzt beim Namen genannten, Vertreibung der Ostdeutschen und der Polen aus den von Stalin annektierten ostpolnischen Gebieten gezogen wurden.

Die Zeit scheint reif zu sein, das Thema intensiver und unter neuen Perspektiven und Fragestellungen anzugehen. Dies ist auch deshalb notwendig, weil deutsche und ausländische Rechtsradikale sowie sensationslüsterne Journalisten bereits den perfiden Versuch machen, die nationalsozialistischen Verbrechen mit der Vertreibung der Deutschen aufzurechnen. Ein besonders abstoßendes Beispiel ist der Amerikaner John Sack, der in einem jüngst erschienenen Buch die widerliche These vertritt, bei der Vertreibung der Deutschen hätten sich vor allem Juden besonders hervorgetan, die sich damit für das ihnen von den Deutschen angetane Leid rächen wollten.

Dennoch oder gerade deshalb können Fragen nach offenkundigen Beziehungen und Parallelen zwischen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und der späteren Vertreibung der Deutschen nicht weiter ausgegrenzt und tabuisiert werden. Ist doch die von einigen Teilnehmern am Historikerstreit postulierte These von der absoluten Singularität und Unvergleichbarkeit der Shoah zurückzuweisen. Das Dritte Reich war ein "Rassenstaat", der im innenpolitischen Bereich eine "Reinigung des Volkskörpers" von allen "rassisch minderwertigen", "erbkranken" und "asozialen" Elementen anstrebte und der im Osten einen "Rassenkrieg" gegen Juden, Sinti und Roma und bestimmte genau ausgewählte Angehörige der slavischen Völker führte.

Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten war eine Reaktion auf diese Verbrechen. Auf die deutsche folgte eine gegen die Deutschen gerichtete Politik der, um das schreckliche Wort aus dem gegenwärtigen Jugoslawien-Krieg zu gebrauchen, "ethnischen Säuberung". Dabei wirkten sich mentalitätsgeschichtlich tief verwurzelte Feindbilder und Vorurteile aus. Wechselseitige Gefühle der Angst vor dem "deutschen Drang nach Osten" und den "slavischen Fluten aus dem Osten" schlugen in Aggression um. Die Geschichte dieser Ideologien und Feindbilder waren keine bloße Vorgeschichte, sondern wichtiger Bestandteil der Geschichte der Vertreibung selber, die daher in einem größeren historischen Zusammenhang gesehen werden muß, ohne daß es dabei zu wechselseitigen Schuldzuweisungen kommen darf.

Wolfgang Wippermann


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