FU-Geschichte

SED, FDJ, Stasi und die
"sogenannte Freie Universität"


Über die Geschichte der Freien Universität existiert eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen. Diese Arbeiten geben Auskunft über Entwicklung, Leistungen, Konflikte und Problemlagen an der FU. Alle Universitätsleitungen seit 1969 unterstützten und förderten diese Forschung. Dies galt auch für problematische und noch immer umstrittene Aspekte der Universitätsgeschichte. Seit 1992 werden im Rahmen des von FU-Präsident Gerlach mitunterstützten Forschungsverbundes SED-Staat in einem Projekt die diversen Einflußversuche aus dem seinerzeit realsozialistischen Umland untersucht. Im Zuge dieser Arbeit konnten in den von SED, FDJ und Ministerium für Staatssicherheit hinterlassenen Archiven eine Reihe von neuen Erkenntnissen und Dokumenten zu verschiedenen Aspekten der FU-Geschichte aufgefunden werden.

Demonstration vor dem Rathaus Schöneberg im Juni 1967. Auch aus den Reihen der APO warb das MfS sogenannte Perspektivagenten an.

Die Freie Universität blieb noch lange, nachdem die DDR im Westen auch offiziell ohne Anführungszeichen rangierte, für den benachbarten "ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat" die "sogenannte FU". Laut Liste ihrer "Feindobjekte" hatte die Stasi an der FU vier Einrichtungen im Visier: Das Otto-Suhr-Institut (OSI), das Osteuropa-Institut, die Abteilung DDR-Forschung am Zentralinstitut für Sozialwissenschafliche Forschung (ZI 6) und die Dokumentationsstelle für das Schrifttum aus und über Rußland/UdSSR.

Am OSI und ZI 6 verfügte das Ministerium für Staatssicherheit, wie nach 1989 bekannt wurde, über langjährig tätige Informanten. In diesen und anderen Bereichen der FU sollten nach den Plänen des Geheimdienstes Inoffizielle Mitarbeiter (IM) gezielt plaziert werden. Dazu warb das MfS Perspektivagenten häufig schon als Studenten an und betrieb eine gezielte Ausbildungs- und Berufslenkung. Im Juni 1975 - um einen Modellfall zu beschreiben - ging der mit der FU intensiv befaßte MfS-Führungsoffizier Hauptmann Jaeckel mit seinem IM "Ralf Müller" die von der Stasi erarbeiteten Bewerbungspläne durch und empfahl: "Intensivierung der Suche nach geeigneten Arbeitsstellen und Abfassen von Bewerbungen an ausgewählte Einrichtungen, offen sind zur Zeit noch: Fachbereich 2 der âFUâ als wiss. Mitarbeiter in der Erwachsenenqualifizierung, Planungsabteilung beim Senator für Jugend, Familie und Sport, ZI 6 - Abt. BRD." "Ralf Müller" wurde beim Senator für Jugend, Familie und Sport eingestellt.

"Ralf Müller" arbeitete mit dem MfS seit 1970 zusammen. Er sympathisierte mit der DDR und wurde von einem "wissenschaftlichen Aspiranten" der Humboldt-Universität für das MfS "aufgeklärt", wie das im Stasi-Jargon hieß. "Ralf Müller" war der Regelfall des Überzeugungsinformanten. Die Stasi hatte nur eines an ihm auszusetzen: "Seine äußere Erscheinung entspricht nicht seinen charakterlichen und intellektuellen Eigenschaften. Obwohl gepflegt und sauber, ist seine Haarlänge noch der derzeitigen âJugendmodeâ in westberliner APO-Kreisen angepaßt."

Später erkannte das MfS, daß es der APO (Außerparlamentarische Opposition) neben einem sprunghaft angewachsenen Rekrutierungsreservoir auch anderes zu danken gab. Laut einer Diplomarbeit aus dem Jahre 1985 von Hauptmann Bernd Grohmann an der MfS-eigenen Juristischen Hochschule Potsdam etwa: Ein "personeller Umschwung in den Einrichtungen der âOst- und DDR-Forschungâ in Westberlin. Rechte Kräfte, die die bisherige Politik des âKalten Kriegesâ voll mitgetragen hatten, wurden zunehmend durch realistisch denkende Kräfte, die sich besonders der neuen Ostpolitik von SPD und FDP anschlossen, ersetzt."


Einflußversuche erfolgten an der FU nicht nur über das MfS, sondern auch über die SEW.

Informationsgewinnung und Einflußversuche erfolgten jedoch nicht nur über das MfS, sondern auch über die SEW, die Westberliner Dependance der SED. Mit dem Erstarken der SEW in den 70er Jahren wuchs der SED ein weiterer Sicherheitsapparat in Westberlin und an der FU zu. Zwischen 1969 und 1975 stieg die Zahl der SEW-Mitglieder an der FU von 19 auf 550 an. Die Westabteilung des SED-Zentralkomitees, die die SEW anleitete, erhielt auf Anfrage Auskünfte über FU-Angehörige wie etwa die folgende: "Gegen die Einladung von Prof. ...... von der FU zu einem Goethe-Colloquium im März 1982 in Weimar gibt es keine Einwände." Das spätere Politbüromitglied Herbert Häber, damals Leiter der Westabteilung des SED-ZK, kontrollierte die Arbeit der SEW und besichtigte 1975 auch einmal die FU. Darüber berichtete er Erich Honecker: "Es bestand die Möglichkeit, in Begleitung von Gruppenfunktionären der SEW Institute der FU in Dahlem, die Pädagogische Hochschule sowie das Klinikum in Steglitz zu besuchen." Am Abend dieses Tages traf Häber laut Bericht mit einem Kreis sympathisierender Professoren zusammen.

Inoffizielle Mitarbeiter des MfS an der FU wurden angehalten, sich nicht positiv zur SEW zu stellen. Sie sollten als Kritiker der DDR auftreten und möglichst in solche Bereiche und Organisationen gelangen, in denen es Informationen zu gewinnen galt, die nicht über die SEW zu erhalten waren.

Die FU konstituierte sich unter Ablehnung jeglicher totalitärer Herrschaft, der kommunistischen wie der nationalsozialistischen. Der Verlust dieses antitotalitären Gründungskonsenses in den 70er Jahren ist sicherlich nicht wesentlich auf aus der DDR gesteuerte Aktivitäten zurückzuführen. SED und MfS kam vor allem der gewandelte Zeitgeist entgegen, der von der Revolte-Generation wie Teilen der SPD getragen wurde. Die kritische Auseinandersetzung darüber sollte an der FU noch längst nicht abgeschlossen werden. Ohne Kenntnis der Vorgänge und Abläufe sollte jedenfalls kein Schlußstrich gezogen werden.

Die FU könnte, im Bewußtsein ihrer eigenen Geschichte, mehr sein als eine Universität unter anderen in der neuen Hauptstadt. Sie stand vom Tag ihrer Gründung an für Aufbruch zu neuen Ufern, für Pionier- und Reformgeist. Auch die 68er Ereignisse brachten, trotz aller Irrtümer und Umwege, in Universität und Gesellschaft mehr in Gang, als sie geschadet haben. Die FU war zu keinem Zeitpunkt eine Universität der Ja-Sager und Angepaßten, was sie auch heute nicht werden sollte. In ihrem Wappen stehen als Leitmotiv drei veritable lateinische Worte: Veritas, Justitia, Libertas. Es wäre ein Akt politischer Lauterkeit, wenn sie so frei wäre, sich ohne äußeren Zwang in Kenntnis der Wahrheit zu setzen, um die Gerechtigkeit hinsichtlich Stasi-Verstrickungen an der FU nicht zufälligen Aktenfunden zu überantworten. Aus eigenem Antrieb jedenfalls hat sich bisher kein früherer Mitarbeiter des MfS an der FU zu seiner Tätigkeit bekannt und der politischen Diskussion gestellt.

Jochen Staadt


Der Forschungsverbund SED-Staat der FU untersucht in einem Projekt die Einflußnahme auf West-Berliner Wissenschaftseinrichtungen durch die SED strukturell. Er ist keine Vorermittlungsstelle der FU-Leitung, gleichwohl muß er sich auch auf personenbezogene Täterakten des MfS stützen. Die Täterakten können aber nur über Opferakten erschlossen werden. Archivstudien in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen dürfen nur im Einverständnis und mit Genehmigung der jeweils betroffenen FU-Angehörigen durchgeführt werden. Wer eine solche Genehmigung zur Auswertung seiner personenbezogenen MfS-Unterlagen erteilen möchte, kann unter nachstehender Adresse per Fachpost die entsprechenden Formulare anfordern. Selbstverständlich stehen die mit dieser Thematik befaßten Mitarbeiter des Forschungsverbundes auch für Nachfragen, Erläuterungen und Anregungen zur Verfügung.

Dr. Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat, Ihnestr. 53, 14195 Berlin

Tel.: 030/838-2091/-6008 FAX: 030/838-5141


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