Im Schatten wissenschaftlicher Erkenntnis tummelt sich Okkultes

Flucht ins Dunkel


Auf dem Markt der Religionen sind die Vorstellungen und Praktiken des modernen Okkultismus entgegen der öffentlichen Meinung weiter verbreitet als die organisierten neuen religiösen Gruppen. Empirische Untersuchungen belegen, daß nur etw a 0,5 % der (alt)bundesrepublikanischen Bevölkerung mit diesen Gruppen einmal Kontakt hatten. Demgegenüber gehören okkulte Vorstellungen und Praktiken zwischen Spaß und Ernst in Berlin zum Alltag etwa eines Viertels der Schüler . Erwachsene des Zweiten Bildungsweges und anderer Ausbildungsinstitutionen sind noch häufiger beteiligt.

Okkultismus ist eine moderne Weltanschauung, die nicht nur die Existenz von Verborgenem annimmt, sondern über das Verborgene qualifizierende Aussagen macht, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht zu begründen sind, und doch zugleich sich n icht als Glaubensaussagen verstehen wollen. Von den okkulten Phänomenen wird behauptet, sie seien außergewöhnliche oder für außergewöhnlich gehaltene Erscheinungen, die der Alltagserfahrung oder auch den Wissenschaften noch nicht oder angeblich nicht verständlich seien; Erscheinungen, die auf außergewöhnlichen Wirkungen von Lebenden (Animismus) oder Verstorbenen und Geistern (Spiritismus), eines "plan- und katalogtragenden Weltbewußtseins" - so ein Ok kultist und Parapsychologe - oder auch der eigenen unbewußten Kräfte beruhen.

Okkultismus ist eine relativ rezente Weltanschauung, die im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft steht.

Da der moderne Okkultismus von Anfang an mit dem Geruch von Täuschungen, Verführungen und Betrug behaftet war, vermeiden manche Wissenschaftler diesen Begriff und sprechen lieber von Parapsychologie, später von ASW oder PSI. Ob den unter dem Begriff zusammengefaßten Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens außerhalb der Vorstellungen der Okkultgläubigen und der sie untersuchenden Wissenschaftler eine Existenz zukommt, ist weniger umstritten, als die Okkultisten und vie le Parapsychologen glauben machen wollen. Da diese Erscheinungen definitionsgemäß mit den anerkannten Methoden der Wissenschaften nicht untersucht werden können, sind sie für eine wissenschaftliche Untersuchung unzugänglich. Okku lt sind diese Erscheinungen jedoch nicht an und für sich, sie werden es erst in einer okkulten Deutung, die von Voraussetzungen ausgeht und mit Vorstellungen hantiert, die von den modernen Wissenschaften, sowohl den Natur- wie den Sozialwissenschafte n, aus methodischen Gründen kritisiert und abgewiesen sind. Okkult sind nicht die Erscheinungen, sondern die Deutung dieser Erscheinungen. Der Okkultismus unterscheidet nicht zwischen Wahrnehmung und Deutung.

Die Erkenntnis, daß den sogenannten okkulten Phänomenen keine von ihren Anhängern unabhängige, äußere Existenz zukommt, ermöglicht die Frage, warum viele Menschen einem solchen Glaubenssystem anhängen. Okkultis mus hat für diese eine psychische oder Glaubensrealität und im Falle von esoterischen Weltanschauungsgemeinschaften für die in ihnen zusammenkommenden Gruppen eventuell auch eine soziale Realität, die wie andere Glaubenssysteme zur Bed ingung des Handelns und zum Rahmen der Vorstellungen, Orientierungen und Selbstverständigung wird. Gerade weil die von Menschen unabhängige Existenz der sogenannten okkulten Phänomene abgewiesen werden muß, darf die innere, psychische Wirklichkeit des Okkultgläubigen und damit ihre Wirksamkeit nicht übersehen werden. In den Praktiken und Vorstellungen des modernen Okkultismus erhalten Wünsche, Ängste, Phantasien einen Ausdruck, die in unserer industriell-bürok ratischen Lebenswelt sonst keinen Ort haben.

Manche Okkultisten und Parapsychologen meinen sogar, mit Hilfe okkulter und parapsychologischer Experimente die Frage der Unsterblichkeit des Menschen entscheiden zu können. Die aktuelle Verbreitung des Okkultismus wird zu einem großen Teil darauf zurückzuführen sein, daß die Menschen mit ihren Ängsten, Wünschen und Fragen in den modernen Wissenschaften weithin nicht vorkommen, und sie suchen nun in okkulten oder esoterischen Vorstellungen und Praktiken eine Beruhig ung und Befriedigung, die ihnen die soziale Wirklichkeit, aber auch die religiösen Lehren und schließlich die Kunst und Wissenschaften nicht geben. Für eine religionswissenschaftliche Analyse des modernen Okkultismus wird es darauf ankomme n, diese Wünsche und Ängste in den okkulten Vorstellungen und Praktiken sichtbar zu machen.

Hartmut Zinser

Hartmut Zinser ist Professor am Institut für Religionswissenschaft der FU. Empirische Untersuchungen zum Okkultismus, besonders bei Jugendlichen, gehören zu den Schwerpunkten seiner Arbeit


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