Leere, stereotype Zeremonien und Abläufe - so stellen wir uns heute als Angehörige einer protestantisch geprägten Region Rituale vor. Seien es nun religiöse oder staatlich-bürokratische.
Vielleicht fallen uns auch noch die bedauernswerten Menschen ein, die Sigmund Freud Zwangskranke nannte, und deren Leben durch eine Reihe von privaten Zeremonien, ständig sich wiederholenden Gesten und Handlungen zum Teil deutlich und unangenehm strukturiert wurde. Doch ohne ein Minimum allgemeiner und sozial verbindlicher Symbole und Rituale ist gesellschaftliches Leben unmöglich. Das extrem orientierungslose und ungerichtete Affektwesen Mensch wäre ohne ein symbolisches System hilfloser als das instinktgeleitete Tier. Wie sehr Rituale bedrohliche oder affektiv erschütternde Situationen meistern helfen, kann jeder aus eigener Erfahrung bestätigen. So werden viele Menschen auch heute noch bei der Bewältigung von Tod und Trauer, aber auch bei freudigen Ereignissen wie etwa einer Hochzeit von gewissen sozialen und religiösen Zeremonien und Ritualen gestützt. Auch die hartnäckige Aufforderung, immer dieselbe Geschichte zu wiederholen oder dasselbe Bild zu betrachten, gehört für viele Kinder zum angstmindernden allabendlichen Passage-Ritus.
Daß religiöse Rituale jedoch nicht nur Angst bewältigen helfen, sondern auch mit Angst und Schmerz verbunden sind, davon geben die von Arnold van Gennep "rites de passage" genannten Initiations- oder Pubertätsriten Auskunft.
Das Affektwesen Mensch wäre ohne ein symbolisches System hilflos
Die wissenschaftlichen Versuche, den Sinn von Ritualen zu verstehen, sind vielfältig. So schlägt der Kulturanthropologe Edmund Leach die weitestmögliche Definition von Ritual als "eines kulturell definierten symbolischen Verhaltens" vor. Andere Ethnologen hingegen verwenden Ritual als Synonym für Religion. Für den Religionsphänomenologen Mircea Eliade sind Rituale gar Brücken zum "Heiligen" und zu einer "ontologischen Ursprungszeit", die mit dem profanen Leben in der Geschichte nichts gemein haben. Für den Soziologen Emil Durkheim sind religiöse Rituale dagegen der erhöhte Ausdruck der sozialen Ordnung selbst und ein notwendiges Zwangsmittel, mit dem die Gesellschaft die Individuen organisiert. Für Clifford Geertz hingegen sind religiöse Symbole und Rituale nicht nur "Modelle von Gesellschaft, sondern auch Modelle für Gesellschaft". Symbole drücken das Ethos einer Gemeinschaft aus, formen die Affekte und Krisensituationen und schaffen so Sinn und Bedeutung. Heilige Zeremonien - denken Sie nur an das gemeinschaftsstiftende christliche Abendmahl - setzen diese Bedeutung, "diesen Weltzusammenhang in (symbolische) Handlungen um". Schon mit dem Begriff Religion ist - neben der bekannteren Bedeutung "binden" - die Ackerbaukultur verknüpft. Diese besagt soviel wie etwas ganz genau beachten, nichts auslassen, was zur regelrechten Betreibung der Kulte und der Kultivierung gehört. Mit anderen Worten, es wird die genaue Einhaltung von Ritualen beschrieben, Rituale, deren kosmische Bedeutung das regelrechte Funktionieren des Weltzusammenhangs sicherte. Wie kritisch man heute auch ritualisiertem Verhalten gegenübersteht und in ihm hauptsächlich das Moment des Zwangs erkennt, so zeigt sich nicht zuletzt in der Ritualfaszination von Jugendlichen seine zweite, Ängste und Wünsche formende Qualität. Freilich weiß der moderne Bungee-Springer nicht, daß seine Tat einst zu einem stammesgesellschaftlichen Initiationsritual gehörte, doch den Sprung in den Abgrund versucht auch er.
Ulrike Brunotte
Die Religionswissenschaftlerin und freie Autorin Ulrike Brunotte war von 1989 bis 1995 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionswissenschaft der FU sowie an der Universität Potsdam. Vor allem Religion und Moderne, Ethik und Puritanismus sind Themen ihrer Veröffentlichungen
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