Brief aus Lyon



Das Fremdenverkehrsamt von Lyon empfiehlt zur Ansicht: Le cheval de bronze

"Hier ennuyiere ich mich schrecklich. Das Theater ist meine einzige Ressource", beklagte sich vor etwa 150 Jahren Heinrich Heine aus Lyon.

Zahlreiche Besucher der Stadt am Zusammenfluß von Rh™ne und Sa™ne blieben ebenso unbeeindruckt und schlossen sich diesem Urteil an. Um es gleich vorwegzunehmen: Zum Glück haben sich mir diese Eindrücke nicht bestätigt. Doch zweifellos hat Lyon bis in die jüngste Vergangenheit nur selten eine gute Presse gehabt. Das Bild von einer gesichtslosen Industriemetropole ohne Flair bestimmte die Vorstellungen von der zweitgrößten Stadt Frankreichs, die heute den Mittelpunkt eines wirtschaftlichen Ballungszentrums bildet. Allenfalls die berühmte Gastronomie konnte das Verdikt ein wenig abmildern.


Von Albrecht Weisker, z.Z. Lyon


Heutzutage kursieren viele Vorurteile nur noch zu Unrecht. Seit etwa 25 Jahren ist man in Lyon bemüht, aus dem Schatten des immer schon übermächtigen Paris herauszutreten - mit einigem Erfolg: Das Stadtbild erweckt heute den Eindruck einer lebenswerten Capitale. Eine umfangreiche Altstadtsanierung, gelungene Platzgestaltungen und der Mut zu moderner Architektur haben dem Handels- und Wissenschaftszentrum sowohl die traditionsreiche Vergangenheit als auch eine aussichtsreiche Zukunft erschlossen. Wie wenig Notiz man von diesen Entwicklungen genommen hat, zeigte mir im Vorfeld meines Aufenthaltes bereits der Umstand, daß nur ein einziger deutschsprachiger Stadtführer erhältlich ist, während die über Paris ganze Regale füllen. Und wen auch immer ich nach Lyon fragte, alle waren höchstens "schon mal durchgefahren", kaum jemand kennt die Stadt wirklich.

Dabei blickt Lyon auf eine weit zurückreichende Geschichte. Das antike Lug-dunum avancierte rasch zur Hauptstadt "der drei Gallien". Von der Blüte der gallo-römischen Mischkultur zeugt heute noch das riesige Theater am Hang des Fourri¸re-Hügels, von wo aus sich ein herrlicher Blick über die Stadt im Rh™netal bis zur fernen Alpensilhouette eröffnet. Seiner günstigen Verkehrslage zwischen Nord und Süd verdankt Lyon den Aufstieg zum Messe- und Handelszentrum. Berühmt und wohlhabend wurde es seit dem 15. Jahrhundert neben der Buchdruckerei vor allem durch seine Seidenindustrie und als Bankenplatz. Das zu Wohlstand gelangte städtische Bürgertum erbaute sich prächtige Renaissance-Wohnhäuser an der Sa™ne, deren einzigartiges Ensemble heute zu den Attraktionen Lyons zählt.


Hinter diesem Tor scheint die Spitzenposition der deutschen Bürokratie nicht mehr unangefochten.


Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert änderten sich Stadtbild und Lebenssituation der Einwohner erheblich, denn Lyon expandierte zum Zentrum der französischen Textilindustrie und lockte auch andere Sektoren an. Wenn in diesen Tagen Erasmus-Studenten in den zahlreichen Bars des verwinkelten Renaissanceviertels Vieux-Lyon C™tes-du-Rh™ne trinken, fällt es schwer zu glauben, daß in diesem einstigen Quartier der Großkaufleute bis in das 20. Jahrhundert hinein städtische Unterschichten unter bedrückenden Bedingungen lebten.

Ein "heißer Herbst", so könnte man den vorläufigen Eindruck meiner ersten Wochen hier auf einen Nenner bringen. Dieses Gefühl vermittelten nicht allein die sommerlichen Temperaturen bis in den November hinein. Die diesjährige "rentrˇe", das Wiedererwachen des öffentlichen Lebens und der Semesterbeginn nach langer Sommerpause, war auch in anderer Hinsicht bewegter als sonst und bot uns Neuankömmlingen gleich Einblicke in Gegenwartsprobleme der französischen Gesellschaft. Eine Welle von Bombenanschlägen, Skandalverstrickungen der politischen Elite, hohe Arbeitslosigkeit und die weltweiten Proteste gegen die neue Atomtestreihe stellten das französische Selbstverständnis auf die Probe und kratzten an der "grandeur".

Wenige Tage vor meiner Ankunft wurde in einem Vorort Lyons ein junger Algerier, der an einem Anschlag beteiligt gewesen sein soll, von der Polizei erschossen. Auch er stammte aus dem perspektivlosen Milieu nordafrikanischer Immigranten, die sich in den "banlieues" durch gewalttätige Proteste Gehör verschaffen. Mit diesen sozialen Brennpunkten sind mit Fundamentalismus und Terrorismus brisante Herausforderungen für den französischen Staat herangewachsen.

Im Stadtzentrum Lyons äußert sich die Furcht vor weiteren Terrorakten in der auffallend hohen Militär- und Polizeipräsenz. Vor öffentlichen Gebäuden stehen Sperren, Uniformierte patroullieren an Verkehrsknotenpunkten sowie in der Metro und alle öffentlichen Müllkörbe sind vorsorglich abmontiert. Dennoch bleibt eine gewisse Nervosität: "La France durchlebt gerade eine schwierige Zeit." Mit diesen Worten begrüßte uns ein Mitarbeiter der Universität und bat um Verständnis. Denn offenbar hat Jacques Chirac in diesen bewegten Wochen bereits einigen Vertrauenskredit verspielt.

Trotz dieser aktuellen Herausforderungen verläuft der Lyoner Alltag aber wie gewohnt. Ein reges Geschäftsleben, das seine symbolhafte Verkörperung im Hochhausturm der Credit Lyonnais findet, paart sich in dieser großteils so bürgerlich-wohlhabend wirkenden Stadt mit Anklängen südländischer Leichtigkeit: Für einen Cafˇ au lait oder ein kurzes Gespräch bleibt immer Zeit. Und für die alten Männer, die am Ufer der Sa™ne unter laubverfärbten Platanen im Herbstwind Boule spielen, scheint jedes Zeitmaß außer Kraft gesetzt. Wer es sich in diesen Tagen erlauben kann, in das in allen Farben des Herbstes glühende Beaujolais hinauszufahren, kann alle Unruhe der Großstadt hinter sich lassen, um die hügelige Weinlandschaft und das ländliche Frankreich zu erkunden: Die Kontraste sind enorm. Abends wieder nach Lyon zurückgekehrt, bieten die kunstvoll angestrahlten Brücken, Fassaden, Plätze und Brunnen einen unvergleichlichen Eindruck. Lyon als Lichterstadt, eine Ästhetik des Glanzes - aber es ist ein trügerischer Schein, zumal sich der Gedanke an den horrenden Engergieverbrauch dem Betrachter aufdrängt.

Lumi¸re - Licht, Aufklärung, Einsicht; und nicht zuletzt die gleichnamigen Brüder und Erfinder des ersten Cinemato-graphen, die der touristische Hochglanzprospekt im laufenden Jubiläumsjahr als "große Söhne der Stadt" feiert. Die Assoziationen, die der Name meiner hiesigen Universität Lyon II auslöst, sind bewußt vielfältig - Lumi¸re eben. Beschränkt dagegen und subjektiv sind meine eigenen Eindrücke vom "Unileben", von denen sich einige aber verfestigen. Im Hinblick auf die Einschreibungsprozedur und andere verwaltungstechnische Geduldproben der ersten Tage will ich nur soviel verraten: Die Spitzenposition der deutschen Bürokratie in ihrer ureigensten Domäne ist nicht mehr unangefochten. Auch daß ich hier in den ersten vier Wochen mehr Paßfotos benötigte, als in der Bundesrepublik in den vergangenen vier Jahren, ist nicht mehr als eine Randglosse. Sehr auffällig dagegen (und auch nicht unbekannt) ist, daß die meisten Studierenden vergleichsweise jung sind und ihr Studium ziemlich verschult abläuft. Selbst wenn man diesem Bildungssystem ganz unvoreingenommen begegnet, bleibt der Eindruck, daß auf selbständiges wissenschaftliches Arbeiten weniger Wert gelegt wird. Viele Studierende kleben regelrecht am Mund der Dozenten und schreiben wie versessen mit, denn in den Abschlußklausuren könnte ja alles "drankommen". Diskutiert oder nachgefragt wird auch in den seminarähnlichen Veranstaltungen nur wenig. Im Normalfall studiert man in Frankreich nur ein Fach, was nicht unbedingt zu einem breiten Wissen im Sinne des neohumanistischen Bildungsideals deutscher Prägung führt. Dafür aber besitzen französische Hochschulabsolventen eine ausgefeilte methodische Schulung, abfragbares Kanonwissen und sind im Durchschnitt jünger als in Deutschland. Rein äußerlich wirkt die Masse der Studierenden auch etwas angepaßter als die vielfältige und bunte Berliner Mischung.

Man muß sich aber vor Augen halten, daß die ausgeprägten Eigenheiten und Hierarchien des gesamten französischen Bildungssystems, das zudem noch immer auf Paris ausgerichtet ist, nicht nur großen Konkurrenzdruck hervorbringen, sondern den Vergleich auch erschweren. Aus ähnlichen Gründen unterscheidet sich nach meinem Eindruck auch das Freizeitverhalten. Zwar gibt es ohnehin kaum ein Nachtleben in Lyon, doch leben viele Studies während der Woche tatsächlich "nur für die Uni" und toben sich am Wochenende aus. Eine große Anzahl fährt auch nach Hause, denn die Familie besitzt noch immer einen hohen Stellenwert. Die Wohnheime, auch meines, wirken dann regelrecht verlassen. Darüber hinaus beginnen viele Pflichtkurse morgens um acht Uhr, und der Weg zum Campusgelände vor der Stadt ist weit. Nur wenige Fächer sind im repräsentiven Hauptgebäude aus den Anfangsjahren der III. Republik direkt am Ufer der Rh™ne untergebracht.

Unter einer Vielzahl von Museen, die das Kulturangebot neben Theatern, Oper, Musikszene und der großen Kinokultur abrunden, möchte ich das "Centre dĶHistoire de la Rˇsistance et de la Dˇportation" hervorheben. Das Gebäude, in dem der 1987 in Lyon verurteilte Klaus Barbie als berüchtigter Gestapo-Chef zur Zeit der deutschen Besatzung seinen Dienstsitz hatte, wurde vor wenigen Jahren zu einem Lern- und Erinnerungsort umgestaltet, der an das von Deutschen begangene Unrecht ebenso erinnert wie er die Verstrickungen des Vichy-Regimes nicht verschweigt und den Kampf der Rˇsistance würdigt.

Für mich geht es bei diesem Aufenthalt besonders darum, hinter die gängigen Klischees unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins zu sehen und Verständnis für die politischen und gesellschaftlichen Eigenheiten sowie für einen anderen historischen Entwicklungsweg eines Landes zu bekommen, das im Prozeß der europäischen Integration den wichtigsten Partner der Bundesrepublik darstellt. Kontakte zu Studierenden aus anderen EU-Staaten sowie von anderen deutschen Universitäten tragen dazu bei, daß der Slogan des Fremdenverkehrsamtes zu einer wichtigen Erfahrung wird: Lyon - Rendez-vous avec l'Europe.


Albrecht Weisker studiert im 9. Semester Geschichtswissenschaften und Politologie an der FU. Im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms der FU verbringt er ein halbes Jahr an der Universität von Lyon. Der fachliche Schwerpunkt des Programms liegt auf der Sozialgeschichte europäischer Industriegesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert.


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