"Ein ganz normaler deutscher Lehrstuhl hätte mich nicht mehr gereizt", gibt der frischberufene Professor unumwunden zu. Erst eine neue Aufgabe konnte den Politik- und Staatswissenschaftler aus Oxford zurück in seine Geburtsstadt Berlin locken. Hier bot sich ihm die Möglichkeit, gemeinsam mit zwei Kollegen das "Europäische Zentrum für Staatswissenschaften und Staatspraxis" zu gründen. Das Zentrum ist der bisherige Höhepunkt von Joachim Hesses langjährigen Bemühungen, die Staatswissenschaft als interdisziplinäres Fach wiederzubeleben.
Hesse, der gemeinsam mit dem Staatsrechtler Gunnar Folke Schuppert und dem Finanzwissenschaftler Klaus-Dirk Henke die renommierte Zeitschrift für Staatswissenschaften und Staatspraxis herausgibt, suchte seit längerem nach einer geeigneten Form, staatswissenschaftliche Forschung und praxisorientierte Beratung zu institutionalisieren. Heraus kam ein Novum in der Berliner Wissenschaftslandschaft: Ein interuniversitäres Zentrum. Während die Freie Universität den Leiter des Zentrums, Hesse, berief, übernahm die Humboldt-Universität die Berufung Schupperts und die Technische Universität berief Henke. Die drei Berliner Universitäten und der Wissenschaftssenator teilen sich die Sanierungskosten für eine Villa am "Platz am Wilden Eber", die im April bezugsfertig sein soll. Die Federführung für das Projekt liegt bei der FU; über ein Organisationsstatut sollen - vorbehaltlich der Zustimmung der drei Akademischen Senate - auch die beiden anderen Berliner Universitäten institutionell eingebunden werden.
Im staatswissenschaftlichen Zentrum soll unter anderem darüber geforscht werden, wie sich der Nationalstaat und seine Institutionen im Zuge von Europäisierung und Globalisierung verändern: "Dabei wollen wir uns allerdings nicht auf die EU beschränken. Europa heißt für uns auch Osteuropa", stellt Hesse klar. Er selbst ist bei Regierungen und internationalen Organisationen ein gefragter Berater, wenn es um Staats- und Verwaltungsreformen in Ost- und Mitteleuropa geht. So soll im Zentrum nicht nur geforscht, getagt und konferiert werden, es sollen auch Gutachten für Staats- und Regierungspraxis erstellt werden. "Interuniversitär, interdisziplinär und praxisnah", so stellt sich Hesse das Zentrum vor. Studierende möchte er aktiv in die Arbeit des Instituts einbeziehen. "Ich mag Studenten", beruhigt er all jene, die sich vor einem vermeintlich "abgehobenen Star aus Oxford" fürchten, dem keine Zeit mehr für die Lehre bleibe. "Ich lehre nicht nur gerne, sondern ich brauche die Studenten, um mein Denken überprüfen zu lassen und neue Ideen zu sammeln."
Hesse selbst hat in Kiel, Göttingen und an der FU studiert, wo er sein Examen in Volkswirtschaft machte. Er promovierte in Köln, ging zum Habilitieren nach Konstanz und wurde dort bereits mit 29 Jahren Professor für Verwaltungswissenschaften. Er lehrte und forschte unter anderem in Harvard, an der New York University, an der Verwaltungshochschule in Speyer und dem Europainstitut in Brügge. Ganz bescheiden schreibt der 52jährige diese wissenschaftliche Traumkarriere nicht nur seinem Talent und Fleiß zu, sondern auch den "einmaligen Chancen der Nachkriegsgeneration". Von daher glaubt er, eine "Bringschuld gegenüber der deutschen Wissenschaftslandschaft" zu haben. Die kann er ja jetzt abtragen.
Brenda Strohmaier