Theo Pirker - ein Linker ohne Dogma
Der 1922 in München geborene Arbeiterjunge Theo Pirker gehörte wie die Soziologen Schelsky, Lepsius, Friedeburg, Claessens u. a. zur Generation der Soldaten, die nach 1945 von der Wehrmacht zur Wissenschaft wechselten. Diese Wurzeln konnte un d wollte Pirker nie verleugnen, gerade weil ihn diese Jugend vor und im Krieg geprägt hatte. Er war kein prinzipientreuer Pazifist. Er wußte, Kriegs- und Militärbegeisterung sind Produkte der Situation und der Machtverhältnisse. Er ko nnte sich erinnern, wie die Nazidiktatur die Technikfaszination und die Begeisterungsfähigkeit der Jugend ausnutzte, um sie in die Kriegsmaschine zu treiben. Prinzipieller Idealismus und Antifaschismus waren ihm ein Greuel, sie waren für ihn Ind izen von blinder Hingabe und Unterwerfung. Er wollte die Vergangenheit durchdacht wissen, um sie dann "aufzuheben". Er wollte wissen, warum er Soldat wurde und als Fall-schirmspringer in Kreta und Rußland "funktionierte" und warum ihn diese Erfahrun gen zum Gegner der NS-Diktatur machten. Die schwere Verwundung 1943 - er verlor ein Bein - die Nähe zum Tod, hatten Einfluß auch auf seine moralische Genesung. Über das Christentum, über den Katholizismus gewann er seinen Lebenswille n und seine ethische Einstellung zur sozialen Gerechtigkeit. Den Soldaten verdrängte er trotzdem nicht. Ende der fünfziger Jahre beriet er die algerische Befreiungsfront. Er behielt einen militärischen Blick etwa für den Vietnamkrieg u nd für den Krieg in Afghanistan.
Als junger Wissenschaftler hatte er nach 1945 Anteil am Aufbau der bayrischen Gewerkschaften und des DGB. Er war mit Viktor Agartz Mitbegründer des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB. Allerdings war für ihn die Perspektive der Einheitsgewerkschaft eine andere als die, die sich dann realpolitisch durchsetzte. Gewerkschaftliche Mitbestimmung war nach seiner Überzeugung stärker auf die Belegschaften und Betriebsräte zu orientieren, die sich gleichze itig um die kommunalen Aufgaben wie Wohnungsbau, Schule, Erholung, und Selbstverwaltung zu kümmern hatten. Auch die Wissenschaftler im Institut sollten nicht nur Berater der Funktionäre sein, sondern für die Betriebsräte Betriebsforsch ung machen. Anfang der 50er Jahre beteiligte sich Pirker an einer groß angelegten empirischen Studie über Arbeiter und Management in der Stahlindustrie, was zur damaligen Zeit ein bahnbrechendes Vorhaben war. Diese industriesoziologische Unters uchung thematisierte Arbeitsorganisation und betriebliche Hierarchie. Mit seinem politischen und wissenschaftlichen Ansatz geriet er in einen unversöhnlichen Konflikt mit den Funktionären. Pirker verlor seinen Job beim DGB. In seiner später en Analyse über die "Blinde Macht", die heute zu den Klassikern der DGB-Geschichtsschreibung zählt, untersuchte er die Realität gewerkschaftlicher Politik nach 1945.
Pirker blieb lange Zeit ausgegrenzt. Er betrieb jetzt Auftragsforschung z. B. für das Internationale Arbeitsamt, ging über lange Jahre ins Ausland, nach Algerien, Indien, Afghanistan, Ostpakistan, Ägypten, Israel usw., wo er als Berater , Wissenschaftler, Journalist und Dozent arbeitete. Erst Ende der sechziger Jahre machte er seinen Doktor und konnte daran denken, eine Universitätslaufbahn einzuschlagen. In diesen Jahren schrieb er zwei wichtige Analysen: "Die verordnete Demokratie " und "Die SPD nach Hitler". Ein Motiv für diese Bücher war auch autobiographisch. Er wollte wissen, warum sich eine sozialistische Neuordnung der westdeutschen Gesellschaft nach dem Krieg nicht durchsetzen ließ. Seine Kernthese: Die Demok ratie im westlichen Deutschland entstand aus der Besatzungsherrschaft und trug deren Handschrift, weil die deutsche Bourgeoisie darauf angewiesen war, ihre Machtposition durch die abgeleitete Demokratie von Parteien- und Verbandsherrschaft zu sichern. Die sen Pragmatismus akzeptierte auch die SPD, die sich nun wegbewegte von dem sozialistischen Ziel der Arbeiterbewegung und nun Privilegienträger des Mittelstands und des Öffentlichen Dienstes wurde. Pirker sprach bereits in den 60ern vom "Ende der Arbeiterbewegung".
1972 erhielt er eine Professur am Institut für Soziologie der Freien Universität für Empirie und Statistik. Seiner Berufung war öffentlicher Streit vorausgegangen. Auf dem Campus demonstrierten die SEW-Studenten (ADS), Professoren vom Unterschriftenkartell der DKP und Leute der ÖTV gegen den "Reaktionär Pirker". Seine Gewerkschaftskritik und vor allem seine Kritik des Stalinismus paßten ihnen nicht. Daß er der Pionier der westdeutschen Industriesoziologie war, nahmen seine wissenschaftspolitischen Gegner nicht zur Kenntnis. Margherita v. Brentano, die damalige Vizepräsidentin der FU, machte sich jedoch für den Querdenker stark und setzte seine Berufung mit Hilfe des Berliner Senats durch. Pirker blie b ein Linker ohne Dogma, ein Wissenschaftler, der auf bayrische Weise Fröhlichkeit und Ernsthaftigkeit zusammenbrachte. Schnell wurde er "Drittmittelmillionär". Über ihn kamen viele junge Wissenschaftler an Jobs. Pirker fühlte sich noc h für das berufliche Weiterkommen seiner Mitarbeiter mitverantwortlich. Arroganz und Gleichgültigkeit waren ihm fremd. Ende August ist er gestorben. Der IG - Metallchef Zwickel nahm den Tod zum Anlaß, Prof. Pirker für die Gewerkschaft sbewegung zu rehabilitieren.
Bernd Rabehl, Manfred Wilke
1972 wurde der 'berufene' Sozialwissenschaftler (Eine seiner Maximen lautete: "Man ist Soziologe oder man ist es nicht, denn Soziologie kann man nur sehr bedingt lernen".) als ordentlicher Professor an die Freie Universität gerufen, und zwar auf d en Lehrstuhl f‰r Empirie und Statistik am Institut f‰r Soziologie (IfS). Seine 'akademische Bestallung' war unter den neomarxistisch beeinflußten Studenten, Kollegen und Gewerkschaftsaktivisten heftig umstritten Der undogmatische linke Sozialforsche r paßte weder ideologisch noch theoretisch-methodologisch in ihr Konzept. Doch auch sie konnten sich seiner Ausstrahlungskraft, seiner auf überreicher Lebenserfahrung basierenden Autorität und innovativen Denkkraft nicht entziehen - vor al lem aber nicht seine studentische Zuhörerschaft, die von seiner unprätentiösen Lehre schnell begeistert war. Pirker vermittelte ihnen ebenso interessant wie amüsant, was er unter "intentionaler Sozialforschung- verstand, nämlich g esellschaftliche (Macht-) Konstellationen real zu erfassen, um politische wie soziale Handlungsstrategien f‰r die betroffenen Individuen und Kollektive entwickeln zu können. Dabei müsse jedoch berücksichtigt werden, daß ein begrenztes Problem mit zeitlich, methodisch, ökonomisch und intellektuell begrenzten Mitteln zu bewältigen sei. Dieses Konzept von Sozialforschung als zielgerichtete Arbeit, die hier und heute Antwort auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen geben will , hat Theo Pirker während seiner Zeit am IfS und als langjähriger Vorsitzender des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI6) in einer Vielzahl von drittmittelgeförderten Projekten immer wieder erfolgreich demonstrier t, so in einer "Vergleichenden Untersuchung der Schreibdienste in obersten Bundesbehörden-, in mehreren Studien zum Aufbau und zur Funktion der öffentlichen Finanzkontrolle in Deutschland oder in empirischen Analysen zur aktuellen gewerkschaftli chen Industriepolitik. Über diese Forschungsvorhaben, in denen er unter verändertem Blickwinkel immer wieder an das breite Themenspektrum aus seiner Vergangenheit anknüpfte, entdeckte er sozusagen als Quintessenz seiner gesamten Forschungsa rbeit als "politischer Soziologe- das ihn gesellschaftstheoretisch wie -politisch bis zu seinem Ende faszinierende Thema der intermediären Institutionen, in denen er den Garant für die Anpassungselastizität demokratisch verfaßter Indu striegesellschaften sah. Ihr Fehlen, so seine noch während der Umbruchsphase in der DDR 1989 gestellte Diagnose, war ein zentrales Moment für den Zusammenbruch bzw. die "Implosion" der kommunistischen Herrschaftssyteme, ein Thema, dem er sich mi t seinen Mitarbeitern, Kollegen und Freunden in den letzten ihm noch verbliebenen Jahren intensiv gewidmet hat. Mit dem Tod von Theo Pirker hat die FU einen "außerordentlichen- Professor verloren, der sich jenseits aller theoretisch-methodologischen Modeströmungen durch seine unkonventionelle Verklammerung von Lehre und Forschung auÏergewöhnliche Verdienste um das Fach Soziologie erworben hat, zumal er seine Disziplin und seine Universität auch international engagiert repräsentie rt hat, u.a. als Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York.
Die Kolleginnen und Kollegen des Zentralinstituts für Sozialwissenschafliche Forschung