Brief aus Venedig



Wenn es Tag wird in Venedig, fühlt man sich nicht selten jeglicher Ruhe beraubt und Heerscharen von Touristen ausgesetzt.
Wie lebt es sich in dieser Stadt, wenn man schon ein ganz klein wenig "heimisch" geworden ist? Wie fühlt man sich, wenn man im Centro Tedesco di Studi Veneziani (und das heißt in einem Palast aus dem Cinquecento mit herrschaftlichen Wohn- und mehr als anregenden Arbeitsmöglichkeiten) leben und arbeiten darf? Man fühlt sich, wie jeder andere Venedigbesucher auch, ständig an Vergänglichkeit und zugleich unendliche Größe erinnert, angeregt von dieser verklingenden S chönheit, die mit ihrer Ruhe und ihrem langsamen Rhythmus eher wenig italienisch zu sein scheint, und die einem Traumzustand gleicht, wenn die Nacht die wahre Stille über die Calli und die Campi und den Canal hinabsenkt: dann wird Venedig zu ein em wahren Kleinod, das nur für einen allein zu existieren scheint und das in diesem absoluten Innehalten nichts als Schönheit, Ruhe und - ja - Un-Vergänglichkeit ausstrahlt.


Von Dr. Gabriele Beck-Busse, z.Zt. Venedig

Im Gegensatz dazu fühlt man sich am darauffolgenden Vormittag in einer ganz anderen Stadt: jeglicher Ruhe beraubt und den Heerscharen von Touristen im wahrsten Sinne des Wortes "ausgesetzt". An jeder Ecke sind deutsche, französische, ungaris che, englische Ausrufe zu hören, und schon nach kürzester Zeit macht sich auch bei mir das Gefühl breit, einer wahren Invasion erlegen zu sein: Außerhalb der Geschäfte scheint es keine Einheimischen mehr zu geben. Wer einmal im S ommer in Florenz war und dort den Eindruck hatte, der Ort wäre vom Tourismus "heimgesucht", dem kann man von hier aus nur müde zulächeln.

Mit dem Tourismus aufs engste verbunden ist die Venedig eigene Infrastruktur der Einkaufsmöglichkeiten: Geschäfte mit touristischen Artikeln (Masken, Fächern, Glaswaren, Schmuck, Postern und Plakaten...) wechseln sich ab mit Restaurants , in denen so mancher Nicht-Venezianer (was auch schon z. B. einen Bergamasken oder Ferraresen einschließt, den man natürlich sofort am Akzent erkennt) unter Umständen für sein gutes Geld eine nicht ganz dem Betrag entsprechende Bedie nung erfährt. Für Gegenstände des täglichen Bedarfs, die über den Anspruch des Durchschnittstouristen hinausgehen, oder gar für Güter mit einer längeren Lebensdauer wie Mobiliar muß man etwas weitere Wege als in manch einer anderen Stadt auf sich nehmen - oder man fährt gleich auf die Terraferma, weil dort die Auswahl größer und die Preise ziviler sind. Aber wenn sich wieder die Nacht über Venedig senkt und die Ruhe einkehrt, wenn die Gloc ke von San Marco mit ihrem unverwechselbaren Klang Mitternacht ankündigt, und wenn gar gerade Vollmond und Acqua alta ist und San Giorgio Maggiore, die Punta Dogana und die Giudecca auf dem Wasser zu schweben scheinen, dann nimmt man gerne diese jet zt so trivial wirkenden Unannehmlichkeiten in Kauf und weiß, daß man in einer Stadt lebt, wie es wohl einfach keine zweite gibt.

Im Unterschied zum durchschnittlichen Drei-Tage-Besucher bekommt man dann irgendwann das Gefühl, auch "dazuzugehören", weil man gegrüßt wird und selbst zum Grüßen Gelegenheit hat. Dabei ist dies wohl eines der ersten Di nge, die hier auffallen: laufend sieht man Menschen, die sich begrüßen; jeder scheint jeden zu kennen. Der Grund hierfür ist natürlich in der Größe - oder besser Kleinheit - von Venedig zu suchen; ein anderer Grund ist jedo ch die der Stadt eigene Verkehrsstruktur: Venedig ist klar in sechs "Viertel" (konsequenterweise "Sechstel", Sestieri, genannt) aufgeteilt, die scharf vom Kanal, den man nicht zufällig den Großen nennt, in zwei Hälften getrennt werden. Inn erhalb dieser beiden "Landhälften" gibt es nun ganz bestimmte, wie wir sie im Centro getauft haben, "Rennstrecken": die kürzeste und damit meistbenutzte Verbindung zwischen zwei zentralen Punkten, im allgemeinen eine enge Calle, die gerade mal z wei, allerhöchstens drei Personen aneinander vorbeikommen läßt und zu deren beiden Seiten sich wolkenkratzerähnlich die Häuser erheben.

Weicht man von diesen ausgewiesenen "Rennstrecken" ab, läuft man Gefahr, entweder in einen Corte oder Ramo ohne Ausweg oder gleich direkt an den Rand eines Rio zu geraten - was in allen drei Fällen nur den Rückzug und einen neuen Versuch übrig läßt. Auf diesen "Rennstrecken", die nun wirklich alle frequentieren (leider auch die Touristen), ergibt es sich nun zwangsläufig, daß man sich im doppelten Sinne des Wortes laufend über den Weg läuft. Und der s chnellste Weg in Venedig ist meist der Landweg, denn wenn die Vaporetti im allgemeinen den Fahrplan auch einhalten, so kommt man mit ihnen seinem Ziel nur auf dem Umweg des Canale Grande näher. Ein Umweg der zwar eindrucksvoll, unter dem alltägl ichen Zeitdruck aber meist zu aufwendig ist.

Es seien mir noch zwei Worte zu meiner Arbeits- und Wohnstätte, dem Palazzo Barbarigo della Terrazza (die offizielle Adresse lautet: S. Polo 2765/A, 30125 Venezia), erlaubt. Wie der Name schon vermuten läßt, besticht der Palast weniger durch seine Fassade (die gerade nicht dem Canal Grande, sondern dem an dieser Stelle einmündenden Rio S. Polo zugewandt ist) als durch seine stattliche, 14 mal 24 Meter umfassende Terrasse, auf der die Stipendiatinnen und Stipendiaten manch einen So mmerabend im geselligen und wissenschaft- lichen Gespräch verbringen. Dabei ist das Centro ausdrücklich als eine interdisziplinäre Einrichtung konzipiert, die ihren Zusammenhalt im thematischen Rahmen "Venedig" findet: Jeder, der hier arbei tet, beschäftigt sich mit Venedig - seiner Geschichte, seiner Kunst, seiner Sprache bzw. ist für seine Untersuchungen auf venezianische Archive und Bibliotheken angewiesen, wobei "venezianisch", nach guter alter einheimischer Tradition, die Terr aferma einschließt. Es finden sich hier also Kunsthistoriker, Historiker, Musikwissenschaftler, Mediziner, Biologen und auch Sprachwissenschaftler zusammen. Und der Einblick in die Fragestellungen der anderen gibt der eigenen Arbeit nicht selten ein en neuen, unschätzbaren Impuls. Daneben bietet eine rund um die Uhr zur Verfügung stehende "Haus"-Bibliothek zahlreiche weitere Anregungen, und wer die Arbeitsmöglichkeiten in der Biblioteca Marciana oder im Archivio di Stato kennt, wei&szl ig; - über die Ausstattung der "Haus"-Bibliothek hinaus - auch die Tatsache zu schätzen, daß die tägliche Ausleihkapapazität nicht auf fünf Bücher oder Folianten beschränkt ist, daß es keines umwerfenden L&au ml;chelns oder überzeugender Argumentationsarbeit bedarf, um zu erreichen, daß man "ausnahmsweise" einmal mehr als zwei Bücher gleichzeitig an seinem Arbeitsplatz konsultieren darf, daß es auch kein Problem ist, wenn man mehr als zwe i oder drei Bücher über Nacht zurücklegen lassen möchte, um sie tags darauf abermals und ohne mühseliges Formularausfüllen konsultieren zu können.

Für all die eben geschilderten "Widrigkeiten des Alltags" wird man aber hundertfach entschädigt, wenn man am Abend (unter uns: am besten zur Zeit des Sonnenuntergangs) aus der Marciana ins Freie tritt und vor sich das Becken von S. Marco, di e Insel von San Giorgio Maggiore und durch die Bögen des Dogenpalastes hindurch einen riesigen Kreuzfahrtdampfer seine Spur durch den Kanal ziehen sieht. Dann ist man sich sicher, daß die gerade eben noch so heftig beklagten Prozeduren nur auf den ersten Blick etwas umständlich scheinen, daß man aber, mit ein ganz klein wenig Organisations- und Improvisationstalent, bestens mit ihnen leben kann, und man freut sich schon darauf, um Mitternacht, auf der Terrasse des Palazzo Barbarigo, wieder den herrlichen Klang von San Marco vernehmen zu dürfen ...


Dr. Gabriele Beck-Busse ist Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Romanische Philologie der FU. Im Rahmen ihrer Habilitation hat sie ein Jahresstipendium des Deutschen Studienzentrums in Venedig erhalten. Sie forscht zur Grammatikeditio n in Venedig sowie zur Grammatikrezeption und zum Frauenbild in venezianischen Zeitschriften und Traktaten des 18. Jahrhunderts.


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