Über und um Hindernisse herum
Bisher habe ich erläutert, wie Leute mit Auto und öffentlichem Nahverkehr zum Potsdamer Platz fahren können und welche Umgebung sich ihnen bei ihrer Ankunft bietet. Auf die Anfahrt mit dem Fahrrad werde ich nur knapp eingehen. An der Alten Potsdamer Straße finden sich mehrere gut genutzte Anschließmöglichkeiten für Räder, so dass tagsüber und bei trockenem Wetter RadfahrerInnen auf den Straßen und Wegen des Quartiers DaimlerChrysler zum Straßenbild gehören. Die Anreise mit dem Rad ist von der im Auto insofern verschieden, dass die Fahrenden nicht in einem geschlossenen Raum sitzen und sie somit allen Sinneseindrücken und Gefahren ausgesetzt sind und direkte Interaktionen eingehen können – durch ihre verhältnismäßig hohe Mobilität und Wendigkeit sind sie, im Unterschied zu Fußgängern oder Autofahrern im Stau oder an einer roten Ampel, in der Lage, vielen Situationen auszuweichen bzw. das Risiko einer Übertretung verschiedener Regeln auf sich zu nehmen. Die RadfahrerInnen bewegen sich in der Regel auf ihrem Gefährt bis zum Zielort und sind in der Wahl eines Abstellortes mit der Einschränkung flexibel, dass wegen der Diebstahlsgefahr Räder in der Regel an einen Ständer, einen Schildpfosten oder ähnliches angeschlossen werden. Mit dem Abstellen des Fahrrads wandelt sich die Interaktion mit der Umwelt vor allem in Bezug auf die Geschwindigkeit, mit der sich durch den Raum bewegt wird. Die Unterschiede im Interaktionsmodus resultieren hauptsächlich aus dieser Verlangsamung des Bewegungstempos. Objekte und Menschen sind nun nicht mehr in dem Maße einfach vorbeiziehend, die Wahrscheinlichkeit einer nicht nur minimalen, auf die Fortbewegung zentrierten Interaktion steigt und die Aufmerksamkeitsspanne für die einzelnen mobilen und immobilen Aspekte der Umgebung steigt ebenfalls.
Wie steht es schließlich mit dem Erreichen des Potsdamer Platzes zu Fuß? In Bezug auf diese Frage ist die Einbettung des Potsdamer Platzes in die nähere Umgebung entscheidend. Eine Vielzahl räumlicher Barrieren trennt den Potsdamer Platz vom umgebenden Stadtraum. Der größte Teil der näheren Umgebung dient nicht in erster Linie als Wohnraum, er wird vielmehr durch verschiedene andere Nutzungen belegt. Diese reichen von den Einrichtungen am Kulturforum (Staatsbibliothek, Philharmonie, verschiedene Museen) über den Tiergarten, verschiedene Bundesbehörden (u.a. Bundesrat und Abgeordnetenhaus) bis zu unterschiedlichen Geschäfts- und Bürogebäuden, von denen ein Teil der Geschoßfläche allerdings auch als Wohnungen vermietet wird bzw. vermietet werden soll (so auch im Quartier DaimlerChrysler und im Sony Center). Die per Luftlinie in der Nähe liegenden Wohngegenden, vor allem die östlich der Potsdamer Straße liegenden Wohnungen und die Wohnungen an der Wilhelmstraße, kommen am ehesten in Frage, wenn die Erreichbarkeit für Bewohner der näheren Umgebung untersucht werden soll.
Aus dieser Perspektive wird die Insellage des Potsdamer Platzes schnell deutlich. Nach Süden hin ist er durch den Landwehrkanal abgetrennt, im Westen liegt das von Hans Scharoun konzipierte Kulturforum mit seinen großen Freiflächen, im Norden der Tiergarten, im Osten sind die Regierungsgebäude und, jenseits der Köthener Straße, die zur Zeit noch im Bau befindlichen Gebäude von A+T.[10] Wenn also BewohnerInnen aus der näheren Umgebung zum Potsdamer Platz wollen, z.B. um in den Arkaden einzukaufen oder sich auf dem Marlene-Dietrich-Platz aufzuhalten, müssen sie größere Räume durchqueren, in denen zumindest zur Zeit wenig für sie relevante Nutzungsmöglichkeiten vorhanden sind (wie z.B. Kneipen oder Imbisse, Schaufenster von Geschäften oder ähnliches) und die sich im Falle der Regierungsgebäude und des Kulturforums von der Alltagskultur distanzieren und sich durch das hier versammelte kulturelle Kapital und die hier konzentrierte Macht hierarchisch über dieser positionieren (dieser Eindruck wird im Falle der Regierungsgebäude durch Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen noch verstärkt). Aus diesen Gründen liegt zwischen dem Wohnviertel südlich des Landwehrkanals und dem an der Wilhelmstraße und dem Potsdamer Platz je nach Anreiseweg nicht nur eine große physische, sondern auch eine ausgeprägte symbolische und soziale Distanz.
Hinzu kommt noch, dass ein Teil der Fußwege zum Potsdamer Platz zur Zeit noch nicht fertig gestellt ist. Die Wege sind, besonders an der Leipziger Straße, sehr eng und manchmal müssen sich Radfahrer- und FußgängerInnen einen zwei Meter breiten Wegstreifen teilen. Diese Enge und einige große Hindernisse sind mit den Bauarbeiten verknüpft und dürften nach Fertigstellung der Bauarbeiten beseitigt sein. Allerdings gehören diese Behinderungen nun schon seit mehreren Jahren zum Alltag von FußgängerInnen auf dem Weg zum Potsdamer Platz und werden mindestens noch für mehrere Monate vorhanden bleiben. Zusätzlich kommt es an bestimmten Stellen während der Hauptgeschäfts- und Verkehrszeiten immer wieder zu größeren Stauungen von Leuten – hiervon sind vor allem die Kreuzungen über die Leipziger und die Neue Potsdamer Straße betroffen – hier kann das Erreichen des Potsdamer Platzes einen ähnlichen hohen Koordinationsaufwand erfordern, wie das Navigieren im U- oder S-Bahnhof. An diesen für fliegende Händler strategisch günstig gelegenen Warteorten werden dementsprechend verschiedene Souvenirs und Militaria aus dem osteuropäischen Raum feilgeboten. Der von diesen HändlerInnen genutzte Raum ist allerdings stark begrenzt; sie verkaufen ihre Waren nur entlang des schmalen Gehwegstreifens an der südöstlichen Ecke der Kreuzung Potsdamer Platz. Ohne potentielle Kunden wären diese SouvenirverkäuferInnen nicht an diesem Ort, sie sind dementsprechend eine Art von Indikatoren für einen touristisch genutzten Ort und weisen ihn durch ihre Anwesenheit als solchen aus. Aus sozialräumlicher Sicht haben sie einen Doppelcharakter: Einerseits nutzen sie einen für Touristen interessanten Ort zum Verkauf ihrer Waren, andererseits zeichnen sie den Ort durch ihre Anwesenheit implizit als einem touristischen aus.
Mit den verschiedenen Weisen, zum Potsdamer Platz zu gelangen, sind entsprechende Interaktionsmodi verknüpft. Bei der Ankunft am Potsdamer Platz findet ein Wechsel in einen anderen Modus statt – dieser Wechsel kann darin bestehen, dass die Interaktion mit der Umwelt nun nicht mehr vermittelt durch eine personalisierte und Komfort bietende Maschine stattfindet; eine Maschine, die auch die Wahrnehmung damit das Erfahren der Außenwelt filtert und ausrichtet. Der Wechsel kann auch bedeuten, das Interaktionen nicht mehr in einer engen, unübersichtlichen und entgeltpflichtigen Umwelt erfolgen; einer Umwelt, in der Berührungen mit fremden Menschen an der Tagesordnung sind und in der (zusätzlich zur Kontrolle durch Sicherheitspersonal und Videokameras) von den Individuen vielfältige Techniken eingesetzt werden, um die Zivilität vor Ort zu wahren und das Geschehen zu kontrollieren. Die Art des zum Potsdamer Platz Kommens kann auch die Erwartungen an das zu Sehende, zu Erlebende beeinflussen, sei es durch Informationstafeln, Werbeschilder, Souvenirstände oder einfach durch die Perspektive, in der der Potsdamer Platz vor den Betrachtenden erscheint. So ergeben sich je nach Ankunftsweg verschiedene Perspektiven auf das räumliche Ensemble am Potsdamer Platz. In der Regel sticht dieses jedoch durch die verwendeten Materialen, die Höhe der Gebäude und die häufig gebrochene Blockrandbebauung hervor und unterscheidet sich deutlich von der Bebauung im Rest der Stadt – zum Teil ergeben sich durch die Gestaltung der räumlichen Übergange und die Architektur der Gebäude für Berlin spektakuläre Perspektiven und räumliche Eindrücke. Das Quartier DaimlerChrysler und das Sony Center sind Anlagen von ungewohnter Dimension und bilden eine von der Umgebung distanzierte räumliche Einheit, die beim Betreten als eine neue, eigene Welt wirken kann, eine Welt, oder auch nur eine Umwelt, in deren Rahmen sich einerseits die folgenden Interaktionen abspielen und die andererseits durch diese Interaktionen in ihrem Charakter bestimmt wird.
Fußnoten
- 10Die Projektgemeinschaft A+T ist ein Zusammenschluss der Elektronikfirma ABB, der Bayerischen Hypobank und der Unternehmer Roland Ernst und Berthold Kaaf (vgl. Frank 2000, S. 78).
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