Zum Programm der Berliner Volksuni
Unsere Gesellschaft steht unter dem Druck einer Ökonomie der Ausgrenzung. Anstelle der Grenzen, die im Zuge der Globalisierung niedergerissen werden, errichtet sie ständig neue: Im vergangenen Winter erreichte die offizielle Arbeitslosenzahl in Deutschland 4,7 Millionen. In den kommenden Jahren werden 9 bis 10 Millionen wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze fehlen, insbesondere für Ungelernte, die bis 2010 weiter auf 10% zurückgehen werden. Die Beschäftigungsquote von Frauen stagniert bei 53,3%, der Osten fällt zurück. In Frankreich, Italien und Spanien hat die Jugendarbeitslosigkeit bereits über 25% erreicht. Diese Krise der Arbeitsgesellschaft ist definitiv. Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsentwicklung entkoppeln sich. Steigende Börsenkurse kündigen Unternehmensgewinne an, die aus der Vernichtung von Arbeitsplätzen entstehen. Die Kehrseite des "Jobwunders" der USA sind einfache, harte und schmutzige Arbeiten mit Löhnen unter dem Existenzminimum. Der Anteil der Arbeitseinkommen am Sozialprodukt geht kontinuierlich zurück, während eine Vielzahl gesellschaftlich nützlicher Arbeiten wie Haushaltsführung, Kindererziehung, Weiterbildung und Gemeinwesenarbeit unbezahlt geleistet werden. 1996 kassierte ein Fünftel aller Haushalte 80,5% aller Zinsen und Renditen: eine Gesellschaft der 20% kündigt sich an, die - auf Kosten der Mehrheit - fast allein von einem explosiv wachsenden Reichtum profitiert. Dennoch bleibt das Tabu der Arbeit unangetastet: jedeR soll sich durch Arbeit sein Leben verdienen. Viviane Forrester beschwört die Gefahr, daß die vielen Menschen, deren Leben nutzlos für den Profit ist, wieder überflüssig werden könnten: "Von der Ausnutzung zum Ausgrenzen, vom Ausgrenzen zur Eliminierung oder zu einer noch nie dagewesenen tödlichen Ausnutzung - ist ein solches Szenario undenkbar?"
- Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist mit den unterschiedlichsten Staats- und Regierungsformen vereinbar. Die Erinnerungen an Weltkrieg, Weltwirtschaftskrise und Faschismus sind verblasst. Viele verbinden die "Goldenen Jahre" keynesianischer Wirtschaftpolitik mit steigendem Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten, politischer Stabilität und, nach 1968, auch Fortschritten in der Demokratisierung der Gesellschaft, die allerdings mit Kaltem Krieg und Hochrüstung, Verelendung und Kriegen in der Dritten Welt und einer gewaltigen Umweltzerstörung erkauft waren. Heute droht der Kapitalismus, der mit immer weniger Arbeit immer mehr produziert und alle sozialen und ökologischen Kosten der Gesellschaft aufbürdet, während die Reichen Steuergeschenke kassieren, diesen brüchigen Konsens erneut aufzukündigen. Doch eine bloße Rückkehr zum Keynesianismus, der gleichgültig gegen die konkrete Form der Arbeit die Jobmaschine ankurbelt, ist keine Alternative, die die Ausgrenzung der Mehrheit aus einer gesellschaftlich nützlichen und ökologisch sinnvollen Arbeit beseitigen könnte.
- Die blockierte Perspektive eines neuen Gesellschaftsvertrags legt andere, gefährliche Auswege nahe: Unsere mit Infrarotkameras bewachte Ostgrenze, Razzien an Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen, der Hang zu militärischen Lösungen politischer und sozialer Konflikte, der Vormarsch der Haiders und Le Pens in Europa lassen ahnen, woraus eine Neue Rechte ihre Munition beziehen wird. Daher würde es selbst den überzeugtesten Anhängern der Globalisierung nicht im Traum einfallen, mit der Bewegungsfreiheit des Kapitals auch die der Menschen zu globalisieren; entschiedene Gegner staatlicher Regulation würden niemals mit dem Sozialstaat auch den Sicherheitsstaat abbauen. Doch die Ausgrenzung bleibt eine Obsession, die vom Ausgegrenzten eingeholt wird. Die Grenzen können gerade nicht wirkungsvoll abgeschottet werden; die als überflüssig Erklärten lassen sich nicht fernhalten. Die menschenverachtende Reforminitiative zum Asylbewerberleistungsgesetz zeigt, daß die Strategie der Aussperrung und Abschiebung nur mangelhaft funktioniert - sie soll jetzt durch Aushungern flankiert werden.
- Auch die Frage, ob abgesichts einer fortschreitenden Ruinierung der natürlichen Lebensgrundlagen das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, läßt sich nicht auf Dauer verdrängen. "Wie wir arbeiten werden", der neue Bericht an den Club of Rome, verlangt eine andere Perspektive als die einer Vollbeschäftigung durch Lohnarbeit. Zu einem menschenwürdigen Leben zählen auch Arbeiten, die nicht in Geld ausgedrückt werden oder sich gar nicht erst als Tauschwerte ausdrücken lassen und die mit einem neuen Konzept der Grundsicherung verbunden werden müßten. Die Schule als "letzte Anstrengung der Demokratie" (Forrester) könnte helfen, eine Kultur zu vermitteln, die der menschlichen Existenz auf dieser Welt Sinn verleiht. Der Wunsch nach einem besseren Leben wird durch den Hinweis auf Sachzwänge, Globalisierung, Standortkonkurrenz und technische Effizienz nicht erledigt.
- Alle reden vom Reformstau: welche Kräfte wird seine Überwindung freisetzen? Zahllose Konzepte liegen bereit. Die Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen will zur Absenkung der Lohnnebenkosten und zur Verbilligung der Arbeit auch einen sinkenden Lebensstandard für einen großen Teil der Bevölkerung - angeblich vorübergehend - in Kauf nehmen. Durch den weiteren Abbau staatlicher Hemmnisse und die Propagierung unternehmerischer Leitbilder der eigenen Lebens- und Daseinsvorsorge hofft sie, auch die volkswirtschaftlich nützliche Bereitschaft zu fördern, zu dienen und sich bedienen zu lassen. Soll die Arbeitsgesellschaft mit Schuhputzern, Kindermädchen, Putzfrauen und Tellerwäschern gerettet werden? Die Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung hält sich dagegen an das Modell Deutschland, das mit strukturellen Reformen noch zu retten sei. Die Steigerung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, für die die Innovationsfähigkeit verbessert und die Humanressourcen gestärkt werden müßten, dürfe nicht auf Kosten des sozialen Zusammenhalts und eines nachhaltigen Wirtschaftens gehen. Die Verbindung der drei Ziele sollen ein Beschäftigungsprogramm für Niedrigqualifizierte, neue Modelle einer sozialen Grundsicherung, die auch die veränderten Familien- und Geschlechterverhältnisse berücksichtigt, und eine ökologisch verantwortliche Lebens- und Wirtschaftsweise sicherstellen. Die Vorschläge von Crossover, einem Kooperationsprojekt dreier linker Zeitschriften, die in den letzten Jahren als ökologisch-solidarischer New Deals diskutiert werden, gehen noch über diese Konzepte hinaus und öffnen die Perspektive auf neue Formen von Gesellschaftlichkeit jenseits staatlicher und marktförmiger Regulation im Sinne einer Verbraucher- und Wirtschaftsdemokratie.
- Die Initiative der Handlungsfähigkeit muß aber auch auf internationaler Ebene zurückgewonnen werden. Die Bewertung der Gefahren einer europäischen Währungsunion, die vor der politischen und sozialen vollzogen wird, spaltet hier wie andernorts auch die Linke. Die Forderung nach einer gemeinsamen Entwicklung darf nicht bei Europas Grenzen Halt machen.
- Der Wunsch nach einem besseren Leben kann nur Gestalt annehmen, wenn Ausgrenzungen überwunden, Arbeit nicht nur auf Lohnarbeit verengt und das Modell einer solidarischen und zukunftsfähigen Gesellschaft neu entworfen wird, das auch die Geschlechter und die unterschiedlichen Kulturen der Menschheit versöhnt. Dies kann aber nur gelingen, wenn der Bereicherung, der Ausbeutung, der "Machbarkeit" in Forschung und Technik, der Vernichtung von Arbeitskraft wieder neue Schranken gesetzt werden. Die Entfesselung der Produktivkräfte feiern heute nicht mehr diejenigen, die eine solidarische Gesellschaft wollen. Welches könnte die Chiffre eines neuen linken Projekts sein: der Griff in die Notbremse zur Verhinderung der Katastrophe oder die Lokomotive eines neuen, sozial-innovativ gewendeten Fortschritts? Die Volksuni lädt dazu ein, zur Lösung dieser Fragen nützliches Wissen anzueignen und eine offene Auseinandersetzung um neue Wege gegen die Ausgrenzung zu führen.
Ulrich Mehlem