1. EINLEITUNG

Die vorliegende Diplomarbeit behandelt die Bedeutungsschwerpunkte medialen Handelns im Internet Relay Chat, im weiteren Textverlauf IRC, einem Echtzeit- Kommunikationforum des Internet. Das Internet hat sich mittlerweile von einem vorzugsweise in wissenschaftlichem und kommerziellem Kontext genutzten Medium zu einem Massenkommunikationsmittel gewandelt. Immer mehr Privathaushalte haben durch ihren Zugang zum Internet an der weltweiten Vernetzung teil. Die Gesellschaft befindet sich im Wandel von einer Industrie- zur Informationsgesellschaft, innerhalb derer sich das Internet als neues Massenkommunikationsmedium und somit als neues kulturelles Gut etabliert hat. Schlagworte wie "Information- Highway", "Datenautobahn", "Interaktivität" oder "Cyberspace" gewinnen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Veränderungen der Kommunikationsform bringen - wie die Geschichte anhand des Buches als Massenkommunikationsmittel zeigt - immer einen gesellschaftlichen Wandel mit sich, auch für das einzelne Individuum, das die Gesellschaft ja konstituiert. In seiner Auseinandersetzung mit dem Internet als neuem kulturellen Gut erwarten das Subjekt Veränderungen des psycho- sozialen Erlebens und Handelns und andersartige Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen. An diesem Punkt setzt unser wissenschaftliches Interesse als angehende Psychologinnen an.

Bei solch gesamtgesellschaftlich relevanten und bislang wenig erforschten Themen handelt es sich um Fragestellungen von hoher Komplexität und Reichweite, die den Rahmen einer Diplomarbeit sprengen würden, wenn nicht eine Eingrenzung vorgenommen wird. Daher beschäftigen wir uns hier nur mit einer der zahlreichen kommunikativen Anwendungsformen des Internet. Diese Arbeit behandelt das Phänomen IRC, mit dem eine unbegrenzte Zahl von Anwendern aus aller Welt in Echtzeit miteinander in sogenannten Chaträumen per Texteingabe über die Tastatur des Computers kommunizieren.

Bei der Nutzung des Internet kommt es in manchen Fällen zu einem exzessiven Gebrauch mit negativen Konsequenzen für die Anwender. Ursprünglich wollten wir uns in dieser Arbeit mit dem Phänomen der sogenannten "Internetsucht" beschäftigen, auf das wir im Rahmen unserer anfänglichen, noch etwas unspezifischen Literaturstudien stießen. Die Internet- Sucht ist jedoch weder empirisch noch theoretisch genügend untersucht, geschweige denn als Problematik wissenschaftlich anerkannt. In verschiedenen Untersuchungen (z.B. Young, 1996, 1998) wurde allerdings deutlich, daß sich die sogenannten "Abhängigen" weniger auf Anwendungen mit Infomationscharakter wie z.B. das World Wide Web konzentrieren als auf Nutzungsformen mit sozial- kommunikativem Schwerpunkt. Das hierbei meistgenutzte Medium sind Chaträume, wie sie von Programmen wie dem Internet Relay Chat bereitgestellt werden.

Da wir selbst seit geraumer Zeit über einen Internetanschluß verfügen und uns entsprechend mit dem Kommunikationsforum Internet Relay Chat vertraut machen konnten, war es für uns naheliegend, unsere Untersuchung an diesem Medium vorzunehmen.

Wir wollten uns bei der Beschäftigung mit dieser kommunikativen Anwendungsform des Internet nicht auf eine pathologische Perspektive festlegen, sondern insbesondere die Frage explorieren, welche Handlungsspielräume solch eine neue Kommunikationsform seinen Nutzern eröffnet und worin beim Handeln im IRC die Bedeutungsschwerpunkte für die Anwender liegen. Der IRC läßt eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungs- und Erlebensformen zu und ermöglicht damit potentiell eine Vielzahl von Bedeutungsgebungen. Dies erklärt auch unseren ganzheitlichen Ansatz, das Phänomen in seiner Gesamtheit zu untersuchen und unser Interesse nicht nur auf einen Aspekt medialen Handelns zu beschränken. Unsere zentrale Frage lautet also: Was fasziniert die IRC- Anwender an dem Medium und wo liegen die Schwerpunkte individueller Bedeutsamkeiten des medialen Handelns und Erlebens? Bei der Frage nach Bedeutungsgebungen ist zu berücksichtigen, daß diese ihrerseits auch immer kulturell determiniert sind, so daß wir uns hier auf das westlich geprägte kulturelle Gedankengut rückbeziehen - zumal wir wegen der Erreichbarkeit unserer Interviewpartner eine geographische Eingrenzung auf den Raum Berlin vorgenommen haben.

Der Umgang mit dem Kommunikationsmedium IRC wurde von uns handlungsbezogen und alltagsnah thematisiert, um den aktiv deutenden Part des handelnden Subjekts zu betonen, das von uns nicht als Konsument, sondern vor allem als Anwender verstanden wird. Uns liegt daran, in dieser qualitativen Arbeit die Sicht- und Erlebensweise des einzelnen Anwenders sowie dessen Bedeutungszuweisungen in den Vordergrund zu stellen und verstehend nachzuvollziehen. Die Bedeutungsschwerpunkte sollen als individuelle Sinnkonstruktionen medialen Handelns isoliert und aufgeschlüsselt werden und auf Ähnlichkeiten, Unterschiede und Interpendenzen überprüft werden. Auf diese Weise wollen wir zu Aussagen hinsichtlich der Bedeutung, die der IRC-Anwendung beigemessen wird, gelangen.

Wenn im Verlauf der vorliegenden Arbeit die Rede von IRC und Real Life ist, verbinden wir damit keinerlei normative Implikationen, sondern möchten damit die von unseren Interviewpartnern vollzogene und genau so verbalisierte Unterscheidung beibehalten. Ähnlich der binären Opposition ' natürlich' vs. ' künstlich' handelt es sich bei "IRC" und "Real Life" um Reflexionsbegriffe, die nicht objektive Qualitäten einer Realität beschreiben. (Sandbothe, 1996). Bei der von unseren Interviewpartnern getroffenen Unterscheidung in IRC und Real Life geht es nicht darum, die IRC Nutzung als vom realen Leben unabhängige und irreale Handlung zu beschreiben, sondern vorrangig um Handlungsoptionen und Wahrnehmungserfahrungen, die im Vergleich zu Kommunikationssituationen in persönlicher Begegnung durch die entköperlichte mediale Präsenz begünstigt oder auch verhindert werden.

Die psychologische Forschung im Zusammenhang mit kommunikativen Internetszenarien - speziell dem IRC - steckt noch in den Kinderschuhen. Zwar beschäftigen sich zunehmend auch die Medien mit der Thematik, aber genuin wissenschaftliche Empirie ist in diesem Bereich kaum vorzufinden. In Anbetracht der kurzen Dauer der Existenz dieses Forschungsfeldes bei gleichzeitiger hoher Dynamik desselben ist das nicht erstaunlich. Obwohl sich, überwiegend im anglo- amerikanischen Raum, einige Untersuchungen (z.B. Turkle, 1995), auch unter Verwendung qualitativer Erhebungsmethoden mit Kommunikationsanwendungen des Internet beschäftigen, bleibt eine ganzheitliche Perspektive unter Einbezug individueller Sinnkonstruktion ausgespart.

Ein großer Teil der wissenschaftlichen Literatur, die sich mit dem Internet, seinen sozial- kommunikativen Anwendungen, Virtualität und computervermittelter Kommunikation sowie den entsprechenden Implikationen beschäftigt, wird daher auch innerhalb des Mediums selbst und nur dort veröffentlicht. Literatur in Buch- oder Zeitschriftenformat gibt es demgegenüber vergleichsweise wenig. Aufgrund unterschiedlicher Formate ist es bei Zitaten aus elektronischen Publikationen nicht möglich, eine für alle Nutzer gleiche Seitenzahl zu nennen, weshalb wir im Textverlauf auf eine spezielle Seitenangabe verzichten mußten. Weiterhin ist es möglich, daß - bedingt durch die Schnellebigkeit des Internet - im Literaturverzeichnis angegebene elektronische Publikationen nicht mehr unter der bezeichneten Internetadresse oder gar nicht mehr zu finden sind. Ein lückenhafter Zugang zu Publikationen ist retrospektiv somit nicht zu vermeiden und somit nicht als Resultat mangelnder Sorgfalt unsererseits zu verstehen.

Um psychologische Bedeutungsschwerpunkte im Zusammenhang mit IRC verstehen zu können, ist ein Überblick über Funktionsweisen und Möglichkeiten des Mediums notwendig. Diesen werden wir im Rahmen des theoretischen Teils der Arbeit zuerst vorstellen. Da es sich bei IRC um ein Kommunikationsmedium handelt, wollen wir daran eine Betrachtung allgemeiner Implikationen computervermittelter Kommunikation anschließen sowie einige theoretische Ansätze dazu darstellen. Dann werden wir uns verschiedenen Themenkomplexen widmen, deren Kenntnis für unsere Analyse im Kontext mit Bedeutungsgebungen zum Medium relevant ist. Dabei handelt es sich um die Betrachtung sozialer Aspekte der Netzwelt sowie um eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Identität. Im Anschluß daran stellen wir im Methodenteil unserer Studie einige Aspekte qualitativer Forschung vor und behandeln dann die von uns genutzten Methoden der Datenerhebung. Schließlich folgt die Darstellung unserer Vorgehensweise bei der Auswertung. Die Ergebnisse dieses Prozesses werden im umfangreichsten Teil unserer Arbeit ausführlich dargestellt, wobei wir jedem der von uns analysierten Bedeutungsschwerpunkte ein Kapitel widmen. Jedem Kapitel haben wir eine theoretisierende Zusammenfassung angeschlossen. Darauf folgt eine Diskussion der Ergebnisse unserer Auswertung, wobei einige Bedeutungsschwerpunkte ausführlicher, andere weniger ausführlich diskutiert werden. Im Anhang findet sich neben dem Literaturverzeichnis ein Glossar, in dem kurze Erläuterungen zu technischen oder internetspezifischen Begriffen zu finden sind.