Geschichte im Informationszeitalter

(vgl. auch das Multimedia-Themenheft von FU:N 6-96)


Arthur E. Imhof


Design / best view : Netscape 2.0; 1024x768; 65K colours

Standardvorgabe!

Seit 1975 ist mein Unterrichtsfeld am Fachbereich Geschichtswissenschaften die Sozialgeschichte der Neuzeit. Von Anfang an erfolgte der Unterricht weitgehend anhand von Schaubildern, Grafiken, Figuren. Menschen sind meines Erachtens "Augentiere". Bildhaft Vermitteltes bleibt leichter, tiefer und somit länger haften. So entstanden im Verlauf der Zeit Hunderte von Schwarzweiss- und Farbdias.

Wie ein Geschenk des Himmels kam da vor zwei, drei Jahren die CD-ROM-Technologie. Je 100 Dias passen auf eine Scheibe. Sind die Bilder auf solchen Foto-CDs erst einmal digitalisiert, lassen sie sich anschliessend auf dem Monitor mit jeder Bildbearbeitungs-Software schöpferisch weitergestalten, mit Kommentaren versehen, vergrössern, verkleinern, neu arrangieren. Vor allem ältere Teilnehmer in meinen Online-Lehrveranstaltungen schätzen die Möglichkeiten des beliebigen Zoomens auch kleinster, für sie sonst schwer erkennbarer Details.

Zum ersten Geschenk kam bald ein noch mächtigeres zweites hinzu: das World Wide Web. In kürzester Zeit waren ausgewählte CD-ROM-Inhalte ins Netz gespeist und bis zum Wintersemester 1995/96 zu kompletten, dort nunmehr kontinuierlich angebotenen Lehrveranstaltungen ausgeweitet. Diese Webseiten enthalten Bilder, Texte, Kommentare, bibliographische Hinweise, konkrete Aufgaben. Um deren Lösung zu erleichtern, sind anklickbare Links zu den grossen Online-Bibliotheken (wie Bodleian Library, Library of Congress, Königliche Bibliothek in Kopenhagen), zu elektronisch publizierten Fachzeitschriften und Online-Rezensionsorganen, zu moderierten Diskussionsforen, vorbildlich im Netz vertretenen historischen Institutionen auf der ganzen Welt eingebaut. In den weiterhin wie üblich stattfindenden wöchentlichen Lehrveranstaltungen wird dann über das auf diese Weise Selbsterlernte diskutiert.

Ideal ist hierbei die Kombination von CD-ROMs und WWW insofern, als auf ersteren immense Bild- oder Textdateien jederzeit offline abrufbar sind. Ihr "ROM"- (Read-Only-Memory-) Nachteil wird im WWW auf ebenso einfache wie elegante Weise durch stets auf dem neusten Stand gehaltene Webseiten ausgeglichen. Logischerweise werden unsere ersten eigenen, bis zur Marktreife gebrachten interaktiven Lehr-CD-ROMs denn auch über eigens für sie angelegte Webseiten kontinuierlich betreut (so z. B. die Anfang 1996 im Saur-Verlag München erschienene CD-ROM Historische Demographie über eine ständig à jour gehaltene Webseite).

Zu den unerwartetsten Erfreulichkeiten gehörte bisher die Reaktion ehemaliger, mittlerweile längst im Beruf stehender Studierender (bzw. völlig Aussenstehender), die sich als Lehrer, Journalisten, Museumsfachleute "auf dem Lande" in diese, im WWW frei zugänglichen Lehrveranstaltungen einklinken, um ihre Kenntnisse aufzufrischen und wieder auf den neuesten Stand zu bringen. Am erfolgreichsten verlaufen ist nach meinem Dafürhalten andererseits bislang ein seit Ende 1995 im WWW angebotener sechsteiliger Teleteaching-Erasmuskurs. Im April 1996 fand dann an der finnischen Koordinationsuniversität Tampere nur noch ein zehntägiges Brainstorming der 50 europaweit angereisten Teilnehmer statt. Im grossen Lehrsaal verfügte jeder über seinen eigenen ATM-Netscape 2.0-angeschlossenen 17"-Monitor. Anderswo scheint die Bereitschaft, in ökonomisch schwierigen Zeiten in die Zukunft zu investieren, grösser, die Technikfeindlichkeit und das Sparen ohne Vision geringer zu sein.

Hierzulande muss dagegen angesichts einer weithin vorhandenen "silent resistance" und einer zählebigen Voreingenommenheit noch viel geduldige Überzeugungsarbeit geleistet werden, merkwürdigerweise oft weniger bei Vorträgen ausserhalb der Universität als innerhalb. Ausserhalb genügt nicht selten eine sorgfältig vorbereitete Online-Veranstaltung, um darzulegen, dass auf CD-ROMs nicht nur Spiele sind und das WWW keineswegs nur Schund enthält. Es liegt an uns (Lehrenden), auf die Gestaltung der Inhalte Einfluss zu nehmen und Ernstzunehmendes ansprechend zu gestalten. Die Zeit allerdings drängt. In den Geisteswissenschaften bilden wir Leute aus, die ohne solide Kenntnisse der neuen Technologien auf dem harten Arbeitsmarkt schwerlich werden Fuss fassen können. Ganz zu schweigen von ahnungslosen Lehramtskandidaten, denen die übernächste Generation in der Schule beibringen wird, was Sache ist.

Auf der Titelseite der ZEIT vom 17. Mai 1996 (Nr. 21) apostrophierte Joachim Fritz-Vannahme unter dem Titel "Humboldts Erbe wird verspielt. Die Universitäten verkümmern - doch wen kümmert dies schon?" nicht nur die kopflose bundesrepublikanische Bildungspolitik, sondern zurecht auch die Universitäten selbst: "Das Mittelmass ist sesshaft geworden an der Alma mater, die Impulse für die grossen Debatten kamen in jüngerer Zeit nicht von dort. Ökologie, Europa, Einheit, Krise des Sozialstaates, digitale Gesellschaft - dazu fiel den Universitäten immer erst hinterher etwas ein." - Wenn überhaupt, möchte man hinzufügen. Wie auch sollte ihnen - à propos "digitale Gesellschaft" - etwas einfallen und wie auch sollten sich mögliche Einfälle fruchtbar ausbreiten können, wenn die mit administrativen und ökonomischen Befugnissen ausgestatteten Universitätsstellen noch nicht einmal per e-mail zu erreichen, geschweige im World Wide Web Einsicht zu nehmen in der Lage sind?


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started: 07.05.1996 10:44:14

last revision: Sunday, 26. May 1996 - 13:40:57

A. E. Imhof