Sparen ohne Vision:

Aktionswoche Berliner Studierender auf dem

Breitscheidplatz, 6.-10. Mai 1996


Am 29. April 1996 hat sich eine Vollversammlung von Studierenden des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin dafür ausgesprochen, den rigorosen Sparmassnahmen des Berliner Senats nicht länger tatenlos zuzusehen. Um ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen, beschlossen sie, dass die Lehrveranstaltungen vom 6.-10. Mai (Montag bis Freitag) öffentlich auf dem Breitscheidplatz stattfinden sollen. Bezweckt wird dadurch:
  1. Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs (kein "Streik")
  2. Einbeziehung der Studierenden und Dozierenden
  3. Diskussion in und mit der Öffentlichkeit über die desolate Lage


Kopfloses Notbremse-Sparen macht wenig Sinn. Je rabiater sich das - verständliche - Sparen in Berlin gebärdet, umso dringlicher wäre eine Vision. Hier geht es um die Zukunft einer Generation, die in sehr absehbarer Zeit das Ruder zu übernehmen hat. Wir Dozierenden haben sie darauf vorzubereiten, oder hätten, wenn uns die Instrumente dafür nicht entwunden würden. Was macht es für einen Sinn, ausgerechnet dort abzuspecken, wo die Zukunft liegt: an der Informatik, an der Zentraleinrichtung für Datenverarbeitung, an der Zentraleinrichtung für Audiovisuelle Medien, allenthalben an jeglicher Computereinrichtung? In den Geisteswissenschaften verfügen wir über die Inhalte, die neuen Technologien sinnvoll zu füllen. Die übernächste Generation wächst so oder so damit auf. Niemand soll sagen, wir Lehrenden und Lernenden hätten keine Anstrengungen unternommen, anstelle von Games auf CD-ROMs und Schund im Internet sinnvolle Inhalte zu schaffen. Ohne ein Mindestmass an kontinuierlichen Investitionen geht das nicht.

Dass es auch anders möglich ist, zeigte soeben ein Europakurs an einer kleinen finnischen Universität, in einem Land also, wo öffentlich noch viel härter gespart werden muss. Für die Studierenden in den Geisteswissenschaften wurde dort soeben ein Lehrsaal eingerichtet, der mit fünfzig 17"-Monitoren bestückt ist und deren Rechner sämtlich am Hochgeschwindigkeits-Datenübertragungsnetz angeschlossen, mit dem WWW-Standardbrowser Netscape 2.0 versehen sowie mit umfangreicher Software bestückt sind. Dieser Saal ist montags bis samstags von 8-20 Uhr frei zugänglich. Schaut man sich um, wird da nicht gesurft, sondern sehr zukunftsorientiert gearbeitet. Man weiss, wie man sich mit einer eigenen Homepage im WWW zu Markte zu tragen hat. Zwar sprechen hierzulande viele von der Datenautobahn, von einer Hightech-Zukunft. Verglichen mit anderswo bewegen wir uns immer mehr auf Feldwegen. Vision?

Noch haben die Studierenden nicht ganz resigniert. Wenn wir sie - bei weiterlaufendem Lehrbetrieb - nicht unterstützen, könnte es bald so weit sein. Die Zukunft eines Landes läge in ihrer Jugend - sagte man bisher.


Erstellt: 30. April 1996

Last revision: Tuesday, 30. April 1996 - 17:48:41

Arthur E. Imhof

Dozent am Fachbereich Geschichtswissenschaften